Journal :: 27.05.

Im EC aus Wien gibt es noch Sechserabteile. In den Abteilen gibt es Cordsitze, vor den Abteilen hängen Vorhänge, und im Abteil bin ich ganz allein. Vor mir hat jemand Bier getrunken und die Kronen-Zeitung gelesen, aber bis Hamburg stört niemand meine Ruhe.

Ein bißchen lese ich, ein bißchen singt Lotte Lehmann Richard Strauss, und vor den Fenstern sinkt die Sonne über der unfassbaren Leere hinter Berlin. Schnurgerade streben die Ackerfurchen grau vom Schienenstrang zum Horizont, in strenger Linie reihen sich die Ähren, und selbst die Bäume wirken zurückgenommen und hager. Der Boden staubt.

Wie es wäre, hier zu leben, male ich mir aus und stelle mir etwas Wortloses vor, schmallippig und hart. Was die Leute hier wohl abends machen, wovon sie träumen, was sie sich erhoffen, und ob sie finden, wonach sie suchen, frage ich mich. Man weiß am Ende gar nichts von anderen Menschen, stelle ich fest, und niemand sagt einem, wie es ist, hier groß zu werden, nicht fortzugehen und später hier – was? – zu werden. Was die Menschen, überlege ich weiter, hier hält. Was sie denken über Leute wie mich und meine Freunde. Ob man hier etwas verpasst, was wir finden in den großen Städten, und auch: Was man findet, im Nichts um Berlin, in den Furchen der Äcker und am Rande der stillen Alleen, wovon ich nichts weiß und nichts wissen werde und vielleicht: Nichts wissen kann.

3 Gedanken zu „Journal :: 27.05.

  1. das mit dem „verpassen“ ist eine illusion der jugend geistigen frühreife. ich kann noch so viel mitnehmen, global gesehen verpasse ich dennoch alles. also ist das, was ich mitnehme ohne nennenswerten belang. großstädte haben was von urlaub, da ist des öfteren die ablenkung als flucht vor sich selbst im spiel. in solchen leeren landstrichen hingegen findet man etwas deutlich besser bzw. einfacher als in den großstädten: sich selbst.

  2. Ob Ihre Katze die Eindrücke der vorbeiziehenden Landschaft mit Ihnen teilen würde?
    Ich glaube kaum.
    Vielmehr wäre es für sie ein Blick in das Paradies, in die Freiheit und Ungebundenheit, mit der sich Streifzüge durch Wald und Flur verbinden, mit dem Ausleben des angeborenen Jagdtriebes, dem Lauern auf Beute, Herr seines Reviers und dem Finden einer liebesbereiten Katze, mit aufgeregtem Blick zu vorbeifliegenden Vögeln, dem Summen der Bienen, Zirpen der Grillen, einfach mit dem Wahrnehmen der vielzähligen Gerüche, Geräusche und Signale als Sprache der ländlichen Natur.

    Auch wenn ich nicht unterstellen möchte, es ginge der Katze bei Ihnen schlecht, aber von all diesem aufregenden Landleben kann sie in einer Berliner Stadtwohnung nur träumen.

    Und vielleicht vermissen auch Sie manchmal diese Naturerlebnisse.

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