Ob wohl die Sieben und Sieben, die man dem Minotaurus schickte, wussten, was auf sie wartet? Ob auf dem Schiff etwa, bei Nacht unter Deck, einander zugeflüstert wurde, was vermutet wurde, vielleicht auch in Athen?
Dass am Ende der Reise die Opfer ehrenvoll empfangen wurden, denke ich mir und sehe eine Gesandtschaft der Minoer, wartend am Hafen. Den Minos selbst erkenne ich, Glanz und Gleichmaß der Göttersöhne, und sehe ihn aufatmen beim Anblick der Segel, denn bliebe das Schiff aus, so müssten die eigenen Söhne und Töchter der Stadt ins Labyrinth hinab, einen Hunger zu stillen, dem Sklaven etwa, wohlfeil in jenen Jahren, nicht zu genügen vermochten.
Letzte Bankette stelle ich mir vor. Schweren, schwarzroten Wein, Fleisch und die Gier derer, die wissen, dass diese Stunden reichen müssen für das Glück eines Lebens. Blasse Lippen und kalten Schweiß. Ein kurzes, hastiges, krampfverschlungenes Glück in der Nacht, vielleicht, einen bleichen, entzündeten Morgen. Tränen und Angst.
Weiße Gewänder und offenes Haar. Einen einsamen Abschied am Eingang zur Unterwelt denke ich mir, denn was wollte der Stiermann mit 14 Totern auf einmal. Die mitleidigen Blicke des obersten Priesters, und dann die geöffnete Tür. Rauhe, unverputzte Treppen. Gestank stelle ich mir vor, und das Schillern von faulendem Fleisch. Den Weg durch das Dunkel auf feuchten, glitschigen Böden.
Das Warten. Zu schreien. Holt mich hier raus. Das tagelange Umherwandern, Minuten von kurzem, angsterfüllten Schlaf. Die Furcht vor dem eigenen Herzschlag. Sind das nicht Schritte? Ein nächtliches, blutzersetzendes Schnauben. Der fremde, tierische Atem. Und dann, am Ende, der rote Leib. Glänzend gespannte Muskeln, schlanke, starke, sehnige Hände und der haarige Kopf mit den goldenen Hörnern, den schwarzen, offenen Nüstern, und den großen, feuchten und traurigen Augen der Kühe.
Manchmal geht man morgens aus dem Haus, läuft so herum, und nachmittags um fünf erzählt einem jemand, dass man seit acht Uhr morgens eine Frühstücksfleck auf der Bluse hat. Warum die ungefähr zwanzig Leute, die man den Tag über so getroffen hat, einem nichts von der in der Tat riesengroßen Verunzierung erzählt haben, ist dann stets einigermaßen rätselhaft, aber zumindest ist in solchen Situation klar, wie man sich der Verfärbung wieder entledigt.
Nicht immer aber ist die Beseitigung so einfach wie der Gebrauch eines Dr. Becker-Fleckenstifts. Gerad beispielsweise rätsele ich vergeblich, wie man diese Google-Werbung hier im Blog wieder entfernt, die in manchen Browsern und offenbar auch nicht immer über dem jeweils neuesten Text aufzutauchen pflegt, wie man mir kürzlich offenbar nach Wochen mitteilte. Der Fleckenstift scheint hier wenig hilfreich, aber wie geht man nun vor?
Bei Google anrufen?
Sich bei Twoday beschweren?
Irgendwelche geheimnisvollen Zeichen eingeben, und alles wird gut?
Experten vor. Das muss doch irgendwie wieder weggehen.
Mörderisch erkältet zu Hause geblieben. Immer wieder kurz und schlecht geschlafen, wüst geträumt vom Aufenthalt in großen, sehr, sehr laut rumpelnden, schwarzen Maschinen. Gelegentlich erwacht, die Katze gestreichelt, gelesen, ein bisschen nachgedacht, aber erkältungsbedingt nur ganz weiche, zerbeulte Gedanken fassen können und es schnell wieder gelassen.
Im Internet vergeblich nach Entspannung gesucht. Das Netz ist gerade kein guter Ort, wenn man sich weder für Wirtschaft noch für Politik interessiert, und es einem namentlich egal ist, wer die USA regiert oder das Bundesland Bayern, ob es einen deutschen Buchpreis gibt, wer ihn – oder von mir aus den Literaturnobelpreis – bekommt, und was an der Wall Street passiert. Mir doch gleich, was die Banken machen, gedacht und noch ein bisschen geschlafen.
Zwei, drei Stunden später wieder erwacht. Wieder online Nachrichten gelesen, die Katze auf dem Schoß, und mich gefragt, wo andere Leute eigentlich das Interesse hernehmen, zu erfahren, welche Filmschauspielerin schwanger ist, wer irgendwelche Fußballpokale bekommt, wie hoch die SPD die nächste Bundestagswahl verliert, und wer irgendwelche Banken leitet. – Diese Börsengeschichte kann einen Haufen Leute Haus und Job und Rente kosten, maunzt vorwurfsvoll die Katze. Wenn es sehr, sehr schlimm kommt, vielleicht auch dich.
Na und, zucke ich mit den Schultern. Ihr seid mir alle gleich egal, versichere ich gleichermaßen mir und dem Rest der Welt. Alles, was passiert, passiert auch ohne dass ich es erfahre. Alles, was ich tue, wird kein Jota am Lauf der Welt verändern, und das finde ich gut.
Missbilligend verschwindet die Katze in der Küche.
Es soll endlich Ruhe sein, rufe ich ihr hinterher, und das angenehmste wäre, das Internet stünde für einen Tag still. Oder für immer. Das Fernsehen ginge auf einmal, mitten im Satz aus. Die Zeitungen stellten den Druck ein. Fabriken machten morgens nicht mehr auf. Die Menschen schlenderten noch ein paar Tage, etwas unschlüssig, was jetzt wird, durch die Städte, zunehmend ungewaschen und beschäftigungslos und säßen dann einfach so Tag für Tag auf dem Rasen und würden lächelnd immer dünner.
Es soll still sein in den Straßen, fordere ich und verschütte ein bisschen Tee. Gras soll über uns und unsere Städte wachsen. Es soll keine amerikanischen Präsidentschaftskandidaten mehr geben. Niemand soll wissen, was ein Buchpreis ist. Oder ein Buch. Die Menschen sollen nach und nach sogar das Sprechen verlernen, wieder geduckt, klein und haarig werden, glücklich in den Bäumen hängen, und es wäre vorbei. Wirklich vorbei und zu Ende.
„Sprich nicht immer
Von dem laub
Windes raub
Vom zerschellen
Reifer quitten
Von den tritten
Der vernichter
Spät im jahr
Von dem zittern
Der libellen
In gewittern
Und der lichter
Deren flimmer
Wandelbar“
Stefan George
Zwischen Abend und Nacht heimzufahren, auf dem Fahrrad die Köpenicker hinab Richtung Mitte, schwer vor Müdigkeit und Kälte. Die eigenen bleichen, blaugeäderten Hände wie fremde anzusehen im weißen Licht der Laternen. Eine gefallene, leere Kastanie in der Hand zu wiegen, und sie wiegt so leicht wie das Jahr. An der Ampel die modrigen, gelben Blätter im Rinnstein zu riechen, das Abgas der startenden Wagen, und dem Herbst Hallo zu sagen, von dem ich mir nichts verspreche, was auch der Sommer nicht gehalten hat, und auf der Brücke hoch über der schwarzen, öligen Spree erstaunt feststellen, dass ich nicht mehr weiß, was ich erhofft habe, und erst recht nicht:
Alkoholismus sei, hört man so, eine Art Volkskrankheit. Jeder dritte oder vierte Deutsche saufe zuviel und werde absehbar deswegen erst krank und dann sterben. Bedenkt man allerdings, dass der Abusus alkoholischer Getränke auch große Vorteile hat, so ist es eigentlich, und das hört man zu Unrecht eher selten, fast erstaunlich, dass nicht noch viel mehr Deutsche, vielleicht sogar alle, den ganzen Tag trinken. Denn seien wir einmal ehrlich: Anlass genug wäre vorhanden für jeden von uns für einen besänftigenden Dauerdusel, eine leichte Betäubung im Kontakt mit der Außenwelt und die leicht hysterische Heiterkeit, die beispielsweise in meinem Fall mit dem Genuss von Alkoholika verbunden ist.
Nehmen Sie – dies illustrierend – etwa einen ganz beliebigen Samstagmorgen. Von mir aus den vierten Oktober. Sie waren am Vorabend im Kino und haben sich diesen ziemlich guten Film über die RAF angeschaut, der viel besser ist, als die Zeitungen schreiben. Sie haben danach noch ziemlich lange gelesen und ruhige, ernsthafte Gespräche mit Ihrem Kater geführt. Vor kurzem sind Sie von selbst erwacht, es ist Samstag, so in etwa elf Uhr am Morgen, und Sie müssen nach Mitte, denn der Herbst hat Einzug gehalten und Sie brauchen Stiefel und Stiefeletten, um Ihre Umwelt zu erfreuen und nicht mehr zu frieren als nötig in dieser kalten Stadt.
Weil das Fahrrad Ihres Begleiters nicht funktionsfähig ist, fahren Sie Bahn. In der Straßenbahn sind außer Ihnen viele Berliner und außerdem stehen ungezählte andere Leute in der M 1 und starren aus den Fenstern.
Sie sind leider ein klein bisschen klaustrophobisch. Sie schließen daher ein wenig die Augen. Sie atmen langsam. Sie konzentrieren sich auf schöne, angenehme Sätze, vielleicht ein Gedicht von Mörike, das Ihnen in solchen Situationen immer einfällt, und schauen nicht die anderen Leute an. Auf keinen Fall die anderen Leute ansehen. Sehen Sie nicht die anderen Leute an (und so weiter). Schauen Sie am besten auf den Boden.
Wenn Sie am Hackeschen Markt aussteigen, funktioniert das natürlich nicht mehr. Wenn Sie hier auf den Boden starren oder in den Himmel, dann stoßen Sie mit anderen Menschen zusammen. Diese Menschen werden Sie – oh Ihr Berliner! – unter Umständen rüde beschimpfen. Sie werden den dumpfen, fettigen Körpergeruch dieser Menschen riechen und ihnen so nahe kommen, dass Sie ihre schadhaften Zähne sehen können. Niemand hat so hässliche Zähne wie die Berliner.
Sie halten daher sorgfältig Abstand. Sie weichen nach rechts und links aus. Sie verlieren dabei immer wieder Ihren Begleiter. Um Sie herum sind lauter Leute, die sich so groß und breit wie möglich machen und mit wuchtiger, Furcht erregender Fleischigkeit genau auf Sie zukommen. Ab und zu reißen einige der Leute, die Ihnen entgegenkommen, den Mund so weit auf, dass Sie etwas unterm Solarplexus das leichte Prickeln der Angst verspüren, man könne Sie beißen.
Sie schelten sich überempfindlich und ekelhaft wehleidig. Die Leute, so sagen Sie sich, können ja nichts dafür, zu zahlreich zu sein, als dass Sie sie angenehm finden. Sie lächeln (lächeln, Modeste, lächeln). Sie lächeln so verbindlich wie möglich, als die erste Schuhverkäuferin Ihnen sagt, dass die Stiefel nicht mehr in Ihrer Größe vorrätig sind. Sie lächeln, als Sie im nächsten Geschäft feststellen, dass ein Paar, das Sie ganz gut, aber nicht großartig finden, € 246,– kosten soll. Sie lächeln, als Sie es aufgeben, Schuhe zu kaufen, und Sie lächeln, als vor der Tür des Lafayette eine ganze Gruppe teigiger, ziegelroter Leute einfach stehen bleibt, und Sie für einen Moment mit der Hand den bloßen Unterarm einer fremden Frau berühren, der trotz der niedrigen Außentemperaturen etwas feucht ist, klebrig, und Sie zusammenfahren und sofort duschen möchten, aber das geht jetzt gerade nicht.
Einen Rundgang um den Kosmetik-Corner sparen Sie sich, um die demütigende Wirkung des Kontakts mit der Schönheit zu vermeiden. Vielleicht kaufen Sie besser einen Shawl, eine Art Stola in Schwarz und Silber, und widerstehen der Versuchung, sich auf der Stelle sozusagen ganzkopfverhüllend in Ihre Neuaquisition zu hüllen. Dann kämpfen Sie sich bis zur Rolltreppe, fahren hinab, lassen alle Hoffnung fahren, an diesem Tag noch irgendetwas Produktives zu tun, und trinken ganz schnell einen Chardonnay, essen sechs Austern und eine Hummersuppe, und dann kippen Sie einen Moët Rosé Imperial hinterher.
Weil die Mittagszeit schon vorbei ist, gibt es nur ein paar Dosentapas auf Plastikstühlen. Die Restaurants mit den weißen Tischdecken haben schon zu, und dort, wo man auf dreisprachigen Karten Paella anbietet, will ich nicht essen.
Voll ist die Strandpromenade, die ungefähr ebenso ausschaut wie in Travemünde oder Westerland, und nicht einmal vor den Promenadencafés riecht es anders als einige tausend Kilometer weiter nördlich und zwanzig, ach, fünfundzwanzig Jahre zuvor. Waffeln und Kaffee sehe ich vor mir. Hauben geschlagener Sahne.
Hand in Hand laufen Paare vorbei, dicke und dünne Männer mit ganz jungen Mädchen mit rosa Lipgloss und viel zu dick ummalten Augen, und alte, ausgemergelte Frauen, denen die Sonne tiefe Furchen in die Haut gegraben hat. Ein paar Männer tragen stolz ihre goldenen Ketten, als gehöre dies zu einem Mann dazu wie der Bartwuchs. Zwei, drei Kinder werden auf den Schultern getragen und recken sich stolz empor, einen halben Meter über den Köpfen, und ein paar Schritte seitwärts am Strand spült sich ein feingliedriger, hübscher, bronzebrauner Junge unter einer Dusche mit geschlossenen Augen den Sand von der Haut.
Jetzt ein Eis, stelle ich mir vor und schiebe den Teller mit den Muscheln zur Seite. Jetzt am Strand sitzen, die Füße im Sand, dem Nachmittag zusehen und überlegen, wie die fremden Jungen wohl heißen. Nicht weitergehen, wünsche ich mir. Einfach hier bleiben, wo die Sonne scheint, vielleicht mit den Füßen ins Wasser, nur ganz kurz, und so tun, als sei der Sommer noch lang.
Im Schatten aber wird es kühl, die C. will weiter, und der Herbst weht auch hier in der Luft wie ein feiner, kühlender Schleier.
Ich habe drei Nachrichten auf dem Samsung und vierzehn auf dem Blackberry. Von den vierzehn sind allerdings neun an mehr als drei Leute gerichtet und daher erfahrungsgemäß nicht so besonders wichtig. Von den übrigen fünf beschäftigen sich zwei mit dem Mittagessen, eine Bekannte will Informationen von mir, die ich auch nicht habe, und nur zwei Nachrichten bedeuten Arbeit. „Bin Dienstag wieder da.“, schreibe ich zurück, damit sich die Leute nicht wundern, die mir Nachrichten schicken, und diejenigen, die mit mir ungefähr jetzt in Kreuzberg Mittag essen möchten, bekommen Mails, ich sei auf dem Weg nach Barcelona.
Tatsächlich und genau genommen bin ich allerdings erst irgendwo zwischen dem Alex und dem Flughafen Schönefeld, und dieser Umstand ist es, auf den die drei Samsung-Nachrichten abzielen.
„Wo bist du?“ lautet die erste noch recht harmlos.
„Das Boarding schließt in acht Minuten!“, klingt schon deutlich nervöser, und die Mitteilung, man habe mir auf die Mailbox gesprochen, kann nur eine sehr ungemütliche Nachricht ankündigen. Entsprechend rufe ich die Mailbox gar nicht an.
Stattdessen lasse ich es bei der J. klingeln. Diese steht seit fast einer halben Stunde an der Sicherheitskontrolle. Ich habe noch nie einen Flug verpasst, will ich die J. gerade beruhigen, da fällt mir ein, dass das nicht nur nicht stimmt, sondern die J. die genauen Umstände dieser Panne auch kennt. „Ich bin auf jeden Fall pünktlich!“, behaupte ich stattdessen etwas unbestimmter und versuche mich zu erinnern, wie lange man von Rummelsburg bis Schönefeld braucht. – Ich bin gegen einen Großflughafen am Ende der Welt, schießt es mir durch den Kopf.
Neben mir tippt ein dicker Mann schnaufend SMS in ein baguettebrötchengroßes Telephon. In der Aktentasche einer bleichen Frau in einem erdbeerrote Kostüm klingelt es alle paar Minuten, und als wir fast am Flughafen sind, nimmt sie das Telephon aus der Tasche und in die Hand und sieht es versonnen an. Einfach so, ohne abzuheben. Dann packt sie es wieder ein.
Nicht nur die Distanz zwischen Mitte und Schönfeld ist länger als ich es für richtig halte. Auch die Distanz zwischen der S-Bahnstation und den Gates ist lang, länger, am längsten, und ich laufe, laufe so schnell, wie es möglich ist, wenn man hochhackige, schmale Stiefel trägt, einen Koffer hinter sich her zieht, und ein Kleid anhat, das eigentlich eher zum Ganz-gut-Aussehen im Stehen gemacht ist.
In meiner Handtasche (verdammt, die passt nicht zu den Schuhen, fällt mir auf) klingelt es weiter. Erst ruft das Samsung nach mir, dann läutet der Blackberry, den alle Freunde nur benutzen, wenn das Samsung nicht geht, und kurze Zeit klingeln sogar beide. Die C. ist, scheint’s, eingetroffen, und ich werde nun zweifach vermisst.
Einmal fällt mir der Koffergriff aus der Hand, und ich muss halten. Ein zweites Mal bleibe ich stehen, weil ich nicht weiß, wo ich himuss. Ich sollte öfter zum Sport, sage ich mir, schon ganz außer Atem, und frage mich, ob es Sportarten gibt, bei denen man zu Trainingszwecken schwere Rollkoffer hinter sich herzieht.
Schließlich komme ich an. „Aha.“, werde ich empfangen, was in diesem Kontext ungefähr so etwas wie „na endlich“ heißen soll, und durch die Glastür geschoben. Fünf Minuten später schließt sich hinter mir der Bus. „Ich bin jetzt weg.“, tippe ich eine letzte Nachricht am Boden.
Von Spanien habe ich ja eher verschwommene Vorstellungen. Egon Erwin Kisch bei den internationalen Brigaden, sexy schwarze Stiere, Pedro Almodóvar, und im Hintergrund sitzt Hemingway herum und trinkt Whiskey aus kübelgroßen Gläsern. Tatsächlich, so entnehmen Sie diesen Zeilen, war ich als letzter Bewohner dieser Republik noch nicht auf der iberischen Halbinsel, denn meine Eltern seinerzeit zog es nie dahin, und mich seit Aufnahme selbständiger Reisen trotz mehrfacher Anläufe dann doch auch immer eher in irgendwelche anderen Ecken der Welt.
So aber kann das natürlich nicht bleiben. Nicht in Spanien gewesen sein zu sein ist ja ungefähr so, als hätte man den Reichstag nie gesehen, und wenn ich nächste Woche vom Auto überfahren auf der Köpenicker verende, dann stünde auch das auf der langen Liste mir leider entgangener, überaus buchenswerter Orte und Ereignisse.
Um diesem Zustand abzuhelfen, begebe ich mich morgen um 13.50 Uhr nach Barcelona. Mich begleiten die charmante C. und die nicht weniger amüsante J., und wenn jemand unter Ihnen, oh geschätzte Leserin, verehrter Leser, mir Restaurants oder Bars oder andere angenehme Orte benennen mag, die aufzusuchen ein langes Wochenende geeignet wären, so bitte ich um umgehende E-Mail oder einen kurzen Kommentar.
Wir werden ja alle nicht jünger. Wenn ich morgens aufstehe, fühlt mein Rückgrat sich an, als stäke es quer im Fleisch. Meine Mutter hat sich die Füße operieren lassen müssen, was höchstwahrscheinlich (sie streitet das ab) mit dem jahrzehntelangen Tragen hochhackiger Schuhe zu tun hat. Der J. hat inzwischen ganz schön viele graue Haare, meinem Cousin L. fallen diese sogar aus, und manchmal, wenn sie müde sind, sieht man meinen Freundinnen an, wie es mal enden wird in zehn oder zwanzig Jahren. Für mich gilt das wahrscheinlich auch.
Grau werden will ich so schnell aber nicht. Vielleicht helfe ich ein bisschen nach für ein paar Jahre Aufschub. Falten werde ich bekommen, erst unter den Augen, dann wahrscheinlich an den Seiten. Dagegen mache ich nichts. Ein wenig fürchte ich mich vor der Furche zwischen Nase und Mund, die einen so grämlich macht, und vor dem Schwinden der Spannkraft der Haut. Es wird dann so sein, als habe man aus einem Ballon etwas Luft abgelassen, ein wenig beulig, nicht mehr ganz glatt, fleckig, und am Morgen werde ich die Kontaktlinsen erst in letzter Minute einsetzen, weil ich mich dann wohl noch weniger mag als jetzt.
Zu bösen Falten zwischen den Augen neige ich, glaube ich, nicht. Vielleicht hängen meine Lider dann noch etwas tiefer, so dass meine Augen sich verkleinern mit den Jahren. Bestimmt werden meine Lippen dünn. Unmerklich erst, dann auf einmal recht rasant, werden meine Hände sich verändern, ein Blattwerk von feinen Linien erst, dann dunkle Flecken, und am Ende werden sogar die Nägel dünn, als lohne es sich nicht mehr, nachzuwachsen.
Schlanker als jetzt werde ich wohl nicht mehr werden. Vielleicht verlagert sich das Fett noch ein bisschen. Wie andere Frauen auch werde ich einen Fettgürtel bekommen, an den Armen und Oberschenkeln wird die Haut dafür zu weit, und irgendwann werde ich auf der Bettkante sitzen und mit dem Zeigefinger die blauen Adern nachfahren, die sich durcharbeiten durch die Haut, bis sie sich wie die Flüsse auf alten Karten auf meinen Beinen schlängeln, das Knie mit dem Knöchel verbindend wie die Donau Budapest mit Passau.
Vorm Spiegel werde ich dann stehen, selten, vielleicht einmal im Jahr. Anschauen werde ich mich, und mich fremd fühlen. Erinnern werde ich mich an alles, was ich mal war, was ich hatte und was hätte sein können. Und bedauern, bedauern werde ich, was mir entgangen sein wird, für alle Zeiten, wirklich oder vermeintlich, und wissen werde ich, dass nur das Gelebte zählt, nur das warme, wirkliche Wirken und Werden, und alle Gegengründe keinen Bestand haben werden vor der Endgültigkeit der verflossenen Zeit.
Der letzte Geburtstag in Heiligendamm. Sich im Spa geschämt für den eigenen Körper, und nur in die Damensauna, wenn sonst keiner da. Trotzdem gut gegessen. Champagner und Fisch. Sich vorgenommen, im nächsten Jahr schlanker wiederzukehren.
Den Geburtstag gefeiert, ein paar Wochen später. Mit Freunden angestoßen auf ein großartiges Jahr. Am nächsten Morgen in der Küche gestanden, ein bisschen Salat vom Vortag, heißer Kaffee, dem leichten Schwindelgefühl der ersten Zigarette am Tag nachgespürt, und nachgedacht, was eigentlich fehlt, und nichts gefunden. Ein bisschen traurig gewesen.
Circa vier- bis fünfmal die Woche aus gewesen, fast das ganze Jahr, weil das der optimale Schnitt ist, um sich wohl zu fühlen und trotzdem genug zu schlafen. Mindestens fünfzig Besuche im LassunsFreundebleiben. Mindestens zwanzig im Visite ma tente. Mindestens 15 im 103. Überall hingegangen, wo was los ist, und zu diversen Anlässen, wo nichts los war, auch. Täglich mindestens eine Mahlzeit außer Haus. Meistens gut gegessen. Das schlechteste Essen des Jahres in einer nordrhein-westfälischen Kantine bekommen, ein paniertes stinkendes Schnitzel, und dann kommt gleich der schreckliche Speckknödel im Alten Zollhaus in Kreuzberg. Meistens nur einmal die Woche gekocht, leider, Samstags oder Sonntags, und fast immer die C. und die J. zu Besuch. Zu selten im Theater, kaum in der Oper. Gelangweilt in Galerien.
Am besten im Paris Moskau und im Hartmanns gegessen, und am zweitbesten im E.T.A. Hoffmann und im Grill Royal. Es wieder nicht ins Margaux geschafft, nicht im Ma Tim Raue gewesen und das Fischers Fritz erneut um ein Jahr verschoben. Drei bis fünf Mal eingeladen gewesen, ansonsten immer selbst gezahlt. Mehrfach von Freunden bekocht worden und sich warm und wohl gefühlt.
Viel zu viel gearbeitet. Gearbeitet im letzten Herbst, bis morgens um drei die Buchstaben auf dem Bildschirm ineinander verflossen, und es Mühe kostete, sie zusammenziehen und Worte zu bilden. Im Saldo hunderte von Stunden telefoniert. Weitergemacht, bis die Welt vor lauter Müdigkeit zu flackern begann, seltsam leicht und egal wurde, und sich ein bisschen erschreckt, weil sich das ziemlich gut anfühlt. Sehr wenig über mich nachgedacht und festgestellt, dass man nicht schlechter lebt dabei. Auf dem Höhepunkt der Arbeitsbelastung nicht einmal mehr Hunger gehabt. Jeden Abend ein Hamburger vom Burgermeister am Schlesischen Tor. Ich hätte alles gegessen, sogar Hundefutter oder so, und wäre nichts dagewesen: Ich hätte es auch nicht gemerkt. Oktober, November 2007. Seither wieder runter auf die üblichen 60 Stunden. Immer behauptet, nicht ehrgeizig zu sein, und nun doch festgestellt, dass das nicht stimmt.
Fast jeden Morgen den Kater gekrault, und am Abend meistens die Katze. Sich manchmal gewünscht, wie der Kater herumgetragen zu werden. Den Kopf an einer warmen Brust. Manchmal glücklich gewesen, oft zufrieden, und ab und zu den J. angeschaut und sich einfach gefreut.
Leider kaum neue Freunde kennen gelernt, und manche alte Freunde zu selten gesehen. Das ganze Jahr in niemanden verliebt gewesen, nicht einmal so ein bisschen „was wäre, wenn“. Gleichzeitig ein ganzes Jahr niemand aufgetaucht, der sich in mich verliebt hätte. Kein Versuch, mich zu küssen, weil es wohl so langsam zu Ende geht mit meinen guten Jahren. Ab und zu bedauert, nie schön gewesen zu sein und manchmal gehofft, dass es keiner merkt. Viel Zeug gekauft, vor allem Taschen, Schuhe und Kleider, und festgestellt, dass das nichts bringt bei mir. Die Einkäufe trotzdem fortgesetzt.
Zu viel beruflich und zu wenig zum Spaß gereist. Fertig promoviert. Meine Eltern zu selten gesehen, aber wenn, war es schön. Selten krank gewesen, und nie beim Arzt. Alle sechs Wochen mein Fahrrad reparieren lassen. Fast einen Couchtisch gekauft. Beschlossen, umzuziehen, das aber noch nicht in die Tat umgesetzt. Vorgestern Urlaub gebucht, morgen in aller Frühe zum Hauptbahnhof, und Mittwoch dann mit der J. und vielleicht mit der C. irgendwo sitzen, die Gläser heben auf ein neues Lebensjahr, vom Glück sprechen, dass man sich erhofft, und sich fragen, ob das das Glück vielleicht schon ist, und mehr nicht vorgesehen, für mich, hier und heute.
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