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Es bleibt längst abgemessen unser Glück

Hell strahlen jenseits der Donau die Fenster der Paläste, als würde ein Fest gefeiert, zu dem wir nicht eingeladen sind. Irgendwo rechts fahren noch einige Wagen über die Kettenbrücke, und die J. spricht von einem, den sie geliebt hat und nicht haben sollte.

Schwarz und glänzend fließt der Strom zu unseren Füßen wie flüssiger Basalt, und ich höre der J. zu, die von den verzweifelten Spielen an jenen Tischen spricht, an denen der Einsatz hoch ist, und die Gewinnchance zum Heulen niedrig. In denjenigen Nächten aber, sagt man, in denen der Mond rot, und der Nordwind heiß würde, in denen die Stäbe grünen und den Häusern entlang des Flusses Hühnerbeine wachsen, in diesen Nächten gelingt vielleicht der große Wurf, der Himmel küsst die Erde, die Venus selber steigt von ihrem weißen Sichelwagen, und in allen Kelchen verwandelt das kalte Blut sich endlich in Wein. – An diesen Tischen indes, denke ich, bin ich nicht zugelassen, auf diesem Rasen habe ich die Platzreife nie erhalten, und am Ende rasseln aus den Einarmigen Banditen meiner Säle vielleicht nur wertlose Münzen, die man leichter Hand verstreut, und die nicht zählen, wenn man nächtens erwacht.

Halt mich fest, sage ich ins Dunkel, aber der Flussgott schweigt, und langsam gehen auf der anderen Seite der Donau die Lichter aus, nur die Fassaden leuchten steinern und kalt und werfen ihre Abbilder auf den fließenden Spiegel. Die J. ist ruhig geworden, und schaut den Wassern nach, und ich überlege, was sie wohl sehen mag.

Gemächlich, immer am Ufer entlang, gehen wir zurück, hören das Hallen der Schritte auf der Brücke, und bleiben einige Momente stehen. Möchte doch, denke ich, aus dem Rauschen ein Flußgott nach mir greifen, kalte, feuchte Hände mich zu sich ins Fließen ziehen, die Finger mir um den Hals legen, bis es dunkel wird, und ich keine Luft mehr brauche. Möchte doch die kalte Haut mir einmal abgezogen werden, die schützenden Zaubersprüche ungehört verhallen, die unterirdischen Feuer in den Höhlen unterm Budaberg lodern und der Flußgott mächtig werden über meinem Blut.

Aber die Götter sind tot, und der Abend wird kühler, und auf dem Rückweg zum Hotel weiß ich wieder, dass die Feuer nicht brennen wollen, und die Feste nicht stattfinden, ob mit mir oder ohne mich.

Der Budapester Tortentrip

„Also,“, sage ich zur C., und gieße der J. noch einen Tee ein. „ganz großartig war´s.“, und die J. nickt. „Und ohne mich, verdammt.“, sagt die C., und bedauert noch einmal, nicht mitgefahren zu sein. „Du hättest die Kaffeehäuser gemocht.“, sage ich, und lobe das Kaffeehaus Central, in dem man ganze Nachmittage und Abende dazu verbringen kann, wie es mit einem guten Kaffeehaus eben so geht. Das Café Gerbaud, ergänzt die J. mag zwar prächtiger sein, Jahrhundertwende mit seidenen Tapeten und Samtportieren, aber da machen einen die anderen Gäste ganz nervös, mit ihrem hektischen Rascheln, den irritierten Blicken, wenn ein paar Minuten keine Kellnerin zu sehen ist, und ihren Bestellungen, die aus zwei Flaschen Wasser und einem Schinkenbaguette bestehen.

„Schlechte Kaffeehausgäste.“, bestätigt die J., und wir beschreiben die anderen, wohl meistenteils gleichfalls auswärtigen Besucher der Budapester Renommierkaffeehäuser, die in absurden Gewandungen das im Reiseführer vorgeschriebene Tortenstück verzehren und sodann zu weiteren Top-Tips weitereilen. „Ganz schlimm,“, erzähle ich der C. zur Warnung, „war´s in der Konditorei Ruszwurm auf dem Burgberg.“, die zwar an sich sehr niedlich ist mit ihrer Biedermeiereinrichtung und den wirklich formidablen Torten, in der jedoch unter unermesslicher Geräuschentwicklung ungefähr alle zwanzig Minuten dreißig fehlfarbene Rentner das Café verlassen, um durch dreißig andere, wenn auch exakt identisch anmutende Rentner ersetzt zu werden, die mit den Ellenbogen auf den zierlichen Tischchen ein Stück Schwarzwälder Kirsch in sich hineinschlingen.

„Waren die Torten denn gut?“, fragt die C., und schaut ein wenig sehnsüchtig daher. „Extrem.“, lobt die J., und beschreibt Aussehen, Geschmack und Zusammensetzung der verzehrten Torten, und der bedauerlicherweise nicht verzehrten Torten dazu. Morgens, berichte ich der J., sind wir in eine kleinere Konditorei mit Stehtischen auf dem Ring eingekehrt, und haben erst einmal ein Stück gegessen, und vielleicht noch eine Kremschnitte dazu. „Die Dobostorte!“, seufzt die J., und verflucht die Berliner Konditoren. Ein paar Stunden später, fahre ich fort, die nächste Pause, vielleicht so gegen 11.00 Uhr, natürlich Torte, vielleicht ein bißchen Kleingebäck dazu und ein Kännchen Tee. Das ohnehin in meinem persönlichen persönlichen Ranking höchstplazierte Central hat sich auf diesem Gebiet weitere Meriten erworben, derweilen es als einziges der besuchten Kaffeehäuser losen Tee statt der weitverbreiteten Beutel verwendet. – Am Nachmittag dann ein weiteres Stück Torte, vielleicht ein Ischler Törtchen dazu, vielleicht ein Teller mit Kleingebäck wie jenen kleinen Linzer Törtchen, von denen ich mir einige hundert Gramm mit nach Berlin gebracht habe. Am Abend natürlich Torte, oder eine Mehlspeise, Strudel vielleicht oder Palatschinken, und dann ein bißchen Wein und zurück zum Hotel.

„Hört sich ja eindrucksvoll an.“, lacht die C., und fragt nach weiteren Speisen. „Bißchen Gulaschsuppe.“, sage ich, „und ein paar Würste.“, und winke ab, denn die herzhaften Spezialitäten der ungarischen Küche sind in aller Regel ein wenig zu deftig für meinen Geschmack, und besteht zum größeren Teil einfach aus Sauerrahm, Kohl und Paprika in Zusammenhang mit Fleisch oder Fisch.

„Und sonst?“, fragt die C. und fragt nach nicht-kulinarischen Reiseeindrücken. „Schön.“, sage ich. Genau im richtigen Maß verrottet, prächtig, elegant, melancholisch und vibrierend. Große, schöne Bäume an den Straßen und Denkmäler auf allen Plätzen. Die höchste Fast-Foodkettendichte, die ich jemals gesehen habe, ein Friedhof, der es an Größe vermutlich mit dem Centralfriedhof in Wien aufnehmen kann, abends schweigend an der Donau sitzen, am Morgen über einen schattigen Kirchplatz spazieren und den alten Frauen zuschauen, die gebeugt und ein wenig hexenhaft zur Messe gehen. Am Samstag den vielen, vielen Bräuten zuschauen, die in allen Kirchen Budapests heiraten, und nachts auf dem Franz-Liszt-Platz der J. erzählen, wie man sich alles vorgestellt hat einmal, und was daraus geworden ist in diesem Leben, bisher.

„Aber warte auf die Photos.“, sage ich der C., und schenke Tee nach.

Ist das Glück

Eine möglichst kleine Tasche packen, die Abflugzeiten auf einem Post-It notieren, und dann die Wohnungstür hinter sich zuziehen. Die Treppe herabzulaufen, und zu wissen, das man den roten Sisal nicht wiedersehen wird, wenn man nicht wirklich will: Wegzufahren und bleiben zu können, den Personalausweis, ein paar Karten, und sonst nichts in der Hand. Nur denjenigen Bindungen unterliegen, deren Druck angenehm auf der Haut liegt. Die Wohnung, denke ich, könnte ich von überall auf der Welt kündigen, per Telephon meine Sachen verschenken, einen Job irgendwo auf der Welt annehmen, ein neues Lächeln in neuen Städten erwidern, ein anderes Zimmer mieten, und schwimmen in Wassern des Lebens, die ich noch nicht kenne.

Nie lebt man so intensiv wie auf der Durchreise. Nie leuchtet eine Stadt mehr als beim ersten Besuch, wenn man vom Flughafen in die Innenstadt fährt, und das fremde Licht um die Silhouette einer Stadt spielt, in der ich noch nie war. Der Geruch einer Stadt im klaren Morgen und nachts. Auf Plätzen sitzen, von denen man gestern nur den Namen kannte und das Leben derer zu erraten versuchen, die im Anzug mit Tasche an einem vorbeihasten. Alle eure Bindungen sind nicht wirklich, denkt man dann, und dass sie alle wegfahren könnten, ihr Leben stehenlassen, ihren Job kündigen, ihre Frau verlassen und an anderen Orten ein anderer Mensch sein. Seine Vergangenheit in ein Weckglas zu tun, das man gerne in die Hand nimmt, betrachtet, den Kopf schüttelt und lächelt, weil es schön war, manchmal oder meistens. Den Zauber des Anfangs immer wieder erleben, den Zeiger immer wieder auf Null setzen, anderen Boden unter den Füßen zu spüren, andere Stimmen hören, und wissen, dass man ganz und gar freiwillig zurückkommt, wenn das, was einen hält, noch schwerer wiegt als der süße Geruch der Fremde.

Noch liebe ich Berlin. Montag bin ich wieder da.

Wer immer es ist, den ihr sucht

Null und eins, schwarz und weiß: Die Schatten auf der weißen Wand des Höhlentheaters blitzen auf, werfen grelle, scharfe Schatten und verschwinden wieder im Dunkel. Haben Sie den Schatten der gekrümmten Hand des Direktors gesehen, der das Theater betreibt? Was wissen Sie von der Frau, deren Silhouette durch den Mauerpark läuft? Weit sind die Maschen, in die Sie nicht schauen können, weil das Licht ausgeschaltet bleibt, und der Vorhang geschlossen.

Null und eins. In den Zwischenräumen mag alles passieren oder nichts. Verbirgt sich die blutige, lodernde Liebe hinter dem geschlossenen Vorhang, Krankheit, harte Arbeit, oder bloß ein grauer, trister Regentag, an dem die Lampe nicht brennen will? Strahlt der Lichtkegel auf eine Figurengruppe am äußeren Rand der Bühne, mögen an der Rampe Reden gehalten und Herzen gebrochen werden.

Nach der Aufführung fängt das Publikum an, mit den Figuren auf der Bühne weiterzuspielen. Das Licht mag verloschen sein, der Direktor nach Hause gegangen, aber die Vorstellung läuft weiter. Mit eigenen Geschichten, Wünschen, Bildern wird die Aufführung zu Ende gespielt, verschmolzen das eigene und fremde Stück. Die Realität aber ist ganz woanders.

Greifen Sie, kündigt der Direktor an, ruhig nach den Figuren. Sie werden nur Schatten in den Händen halten.

Ich bin es nicht.

Das Große Neusser Wunschkonzert

Lesungen, meine Damen und Herren, sind eine aufregende Sache – wird überhaupt irgendwer kommen? Mögen die, die erscheinen werden, mich und meine Texte, oder fängt das Publikum jedesmal, wenn ich anhebe zu lesen, an, mit Stühlen nach mir zu werfen? Oder lacht mich einfach aus? Und was wollen die Neusser Sonntagabend eigentlich von mir hören? Ist mein minderjähriger Cousin interessant genug? Will die Welt alles über den unsichtbaren Pinguin meines geschätzten ehemaligen Gefährten wissen? Darf ich meinen Lieblingstext vorlesen, auch wenn er von Kleist handelt, den angeblich und außer mir keine Sau auf Erden freiwillig liest?

Gespannt, aufgeregt und ein bißchen unsicher ob der Auswahl habe ich einige Texte zusammengestellt, einen letzten Text aber überlasse ich dem werten Publikum, das – anwesend oder nicht – Wünsche äußern darf, die ich möglicherweise erfüllen werde.

Also, meine Damen und Herren,

Was wollen Sie von mir hören?

Im Abteil

„Sie!“, sage ich, „würde es ihnen etwas ausmachen, ihren Film mit Kopfhörern zu verfolgen?“ Verständnislos schaut der Mitreisende im Intercityabteil mich an. „Ihr Film!“, sage ich möglichst freundlich, und deute auf das Notebook auf seinen Knien. Aus den Lautsprechern des Notebooks scheppert es, schrille Schreie und Klirren dringen durch das volle Abteil, und statt einer Antwort bläst mir mein Gegenüber Zigarettenrauch ins Gesicht.

„Kopfhörer habe ich nicht.“, der Notebookbesitzer klingt deutlich konsterniert. „Also,“, schaltet sich eine Frau mit dicken Kajalstrichen um die Augen und schwarzgefärbtem Haar ein, „mich stört das nicht.“ Die anderen Mitreisenden murmeln Zustimmung oder Ablehnung, und ein dicker, schwitzender Mann beugt sich vor und gibt zu verstehen, der unglaubliche Zigarettenkonsum der anderen Mitreisenden wäre ihm deutlich lästiger.

„Dann setz dich doch woanders hin.“, fährt der Notebokkbesitzer ihn an, während wir so durch die Nacht fahren, die letzten Lichter der Stadt hinter uns lassen, und immer weiter Richtung Osten gleiten. „Woanders ist alles voll.“, brummt der dicke Mann und deutet auf den Korridor vor dem Abteil, wo zwischen Rucksäcken und Koffern andere Passanten sitzen, die offenbar auch nicht daran gedacht haben, rechtzeitig zu reservieren.

Im Notebook ist ganz offensichtlich die Hölle los, es knirscht, quietscht, Frauen kreischen und eine Männerstimme flucht laut, um dann plötzlich zu verstummen. Das Kind auf den Knien seiner Mutter am Fenster fängt an, ein bißchen vor sich hinzuweinen und patscht mit den dicken Händen immer wieder gegen die Fenster, hinter denen nichts zu sehen ist als die schwarze Erde und der etwas hellere Himmel im Nichts zwischen Hamburg und Berlin.

Der dicke Mann hat die falsche Fahrkarte, der Notebookbesitzer grinst breit und schadenfroh, und das Mädchen auf dem Mittelsitz kann unmöglich, denke ich mir, identisch mit derjenigen Person sein, die auf ihrer Bahncard abgebildet ist. Der Kontrolleur aber scheint zu müde zu sein, um nachzufragen, schwenkt ihre Bahncard ohne hinzuschauen, und möchte wohl auch bloß schlafen, schlafen, die Augen schließen und Ruhe. Statt dessen schreien im Notebook nun alle gleichzeitig, der Zug fährt wegen „umfangreicher Bauarbeiten“ diesen Sonntag nicht bis Ostbahnhof, und noch in der U-Bahn zur Friedrichstraße sehe ich das Notebook auf den Knien seines Besitzers, der gebannt auf Bilder starrt, die ich nicht sehen kann.

Das schwere Sein der Himmel

Schwer und müde hängt der Sommer in den Bäumen, lehnt an einer Mauer, und würde den Schwalben zusehen, wenn es hier welche gäbe irgendwo zwischen Arkonaplatz und Mauerpark. In meiner Tasche obenauf liegen gelbe Pflaumen, Flaschentomaten und Aprikosen mit einer dichten, stumpfen Haut in der Farbe mancher fremdländischer Mönche, deren langezogenes, modulierendes Singen gut in diesen Tag passen würde, in dessen warmer Luft die Konturen der Welt schon jetzt, gen Mittag, zu verschwimmen beginnen. Die Schatten der Bäume lasten schwarz auf dem ausgeblichenen, rauhen Asphalt.

Ein Paar steht küssend an einer Hauswand. Ein Radfahrer tritt stehend in die Pedale, ein Kind geht starr auf den Gehsteig blickend immer geradeaus. Eine alte, winzige Frau läuft die Schwedter Straße hinab, in jeder Hand einen geblümten Stoffbeutel. Vor den Mülleimern bleibt sie stehen, sucht mit der Hand nach weggeworfenen Pfandflaschen, und aus meiner offenen Einkaufstasche steigt der Geruch der reifen Früchte nach oben und streift mein Gesicht.

Schon morgen würden die Früchte Stellen aufweisen, dunkle Verfärbungen auf dem hellem Safrangelb. Schon morgen ist der Sommer vielleicht vorbei, nimmt der Herbst der Sonne die kraftvollen Arme, und vielleicht ist nur heute, nur diesen Vormittag der Sommer in dieser reifen, vollkommenen Balance: Schwingend wie die Pendel alter Uhren, ein entspanntes Vibrieren, das so perfekt erscheint, so fehlerlos, dass die eigene Seele, der Perfektion entwöhnt, auf die Schüsse wartet, auf die Beschleunigung des Metronoms, auf Blut und Schreie.

Aber dann fängt doch nur Billie Holiday zu singen an, und man überlegt, was man essen sollte, heute mittag oder heute nacht.

Auch nicht

Träge lastet die Sonne auf meinem Rücken, und zwischen den einzelnen Sätzen des Nachsommers schließe ich die Augen und höre dem Summen der Gespräche zu, im Weinbergspark, Ende Juli, nachmittags um fünf. Die Schritte höre ich nicht, aber dann flucht jemand laut zu meinen Füßen, und kaltes Bier schäumt über meinen Knöchel. Ich drehe mich um. „Pardon.“, entschuldigt sich ein schlanker, dunkelblonder Herr, erklärt, über meine Beine gestolpert zu sein, und bietet ein Bier an als Schadensersatz.

Wer er ist, was er macht, erzählt mir dann der Mann neben mir auf der Bastmatte, und zerstreut höre ich ihm zu, und blinzele in die Sonne, die noch Kraft hat zu dieser Stunde. „Lass uns mal was trinken gehen.“, sagt er schließlich. Ich nicke, denke „warum nicht“, und sage: „Gern.“, diktiere meine Telephonnummer in sein Handy, und er winkt mir hinterher auf dem Weg nach Haus.

„Wie schaut es aus bei Dir?“, fragt er am Dienstag, er sei verreist gewesen eine Woche, und ob ich am Mittwoch Zeit hätte. Nein? Am Donnerstag müsse er auflegen irgendwo, vielleicht aber am Freitag? Um neun Uhr abends sage ich, im 103, und dann überlege ich, ob ich ihn eigentlich erkennen würde, denn schlank und blond sind ja so viele, und mein Gedächtnis nur gut, wenn es um Worte geht.

Lebhaft, stetig strömend, fließt dann der Freitagnachmittag zwischen den Tischbeinen des Kaffeehauses hindurch, spült mich von der Choriner Straße ostwärts Richtung Kollwitzplatz, löst sich auf im spanischen Wein, und irgendwann ist es spät, zu spät eigentlich für meine Verabredung, und ich schicke meiner Verspätung eine SMS hinterher. Es werde ein wenig später. Er säße mit Freunden, teilt er mit, ich könne mir Zeit lassen, und ich trinke noch ein Glas Wein, sehe dem Fließen der Zeit zu, die stetig schneller zu strömen scheint, und vergesse das 103, vergesse den Mann aus dem Park, und die Nacht treibt mich noch ein Stück weiter ostwärts, dem Morgen entgegen. Als ich vor der Bar auf der Straße stehe, ist es hell.

„Schade.“, summt mein Handy gegen Mittag, und ich schüttele lächelnd den Kopf.

Pro domo

Geht es in jenen Medien, die sich mit gefurchter Stirn und grauen Bärten um den Zustand der Nation sorgen, einmal um Blogs, so fehlt selten ein Seitenhieb auf jene Teile der Blogosphäre, die sich hartnäckig weigern, ernsthafte Schicksalsfragen der Zukunft ins Internet zu posaunen, Fakten zu verbreiten, und überhaupt nichts weiter tun, als mit ihren Befindlichkeiten das Internet zu verstopfen. Ein herablassender Unterton des „Das interessiert doch keinen“ schwingt da gerne einmal mit, ein Bedauern, dass die Blogosphäre nicht lauter privat betriebene Miniaturausgaben der etablierten Presse hervorbringt, deren Postings Nachrichtenwert besitzen und Meinungen feilbieten. Das Schlagwort des „Graswurzeljournalismus“ demonstriert nicht schlecht, wie das Wunschblog jener Herren auszusehen hätte. – Dass dagegen irgendwelche dahergelaufenen Privatpersonen auf die Idee kommen, mit völlig irrelevanten Mitteilungen über den Verlauf ihrer Dates, die Erfolglosigkeit ihrer Diäten oder merkwürdigen Ereignissen in ihrem Freundes- und Familienkreis die Öffentlichkeit zu suchen, wird im besten Falle mitleidig bis gönnerhaft belächelt, im schlechteren Fall als Abart jener Gesellschaftskreise betrachtet, welche sich in Talkshows über ihre Gatten beschweren oder ihre Nachbarn beschimpfen. Ernstzunehmende Leute, so scheint es, haben sich für den Bundeskanzler zu interessieren, für die Zukunft der Rente, das Schaffen der Dichter und die technischen Probleme, die im Zusammenhang mit der Benutzung von Personalcomputern auftreten können.

Tatsächlich interessieren sich Menschen aber nur eingeschränkt für Kanzler, Rechner und Renten. Das neue Vordach der Nachbarn dagegen interessiert die Nachbarschaft brennend. Die ehelichen Probleme der Verwandtschaft, der Keuchhusten der Nichte, der Autounfall des Kollegen und der peinliche Verlauf eines romantischen Abends des Cousins des Kollegen, den der Zuhörer gar nicht kennt. Die Frisur der Kanzlerkandidatin und nicht ihr Programm. Das Liebeslebens Schillers oft mehr als die Xenien. Und nur der wird dieses Faktum bedauern, der nicht zu konzedieren bereit ist, dass das Leben der Menschen nur zu einem geringen Teil aus jenen Teilen besteht, über die die Verfasser besorgter Leitartikel sich verbreiten.

Schön, würden jene Herren zugeben. Aber muss man, so höre ich förmlich die Fortsetzung, dieses Interesse einen öffentlichen Niederschlag finden? Aber meine Herren, würde ich dann sagen, genauso, wie jede Zahnarztgattin ihre Bilder im Kaffeehaus ihrer besten Freundin feilbietet, wie jede Feierabendband ab und zu auf dem lokalen Schützenfest aufspielt, so soll auch der Dilettant, der die Ereignisse seines Lebens nicht in der geadelten Form der Literatur feilbietet, sondern in der kleinen Münze der Unterhaltung, sich mitteilen können. Öffentlichkeit als demokratische, nicht pädagogische Struktur bedeutet eben auch, dass der Leser sich aussuchen kann, ob er Zeit und Aufmerksamkeit hier oder woanders verbringt.

Als bekennende Trivial- und Befindlichkeitsbloggerin freue ich mich über jeden einzelnen Leser, der mir, meinen Diäten, meinen Streifzügen durch Bars, Clubs und Bibliotheken oder meiner vergeblichen Suche nach dem Mann für´s Leben oder zumindest für den Sommer 2005 Interesse entgegenbringt. Ebenso, wie ich am Kaffeehaus Geschichten erzähle oder weitererzähle, möchte ich auch in diesem Blog unterhalten, wie ich in anderen Blogs unterhalten werde. Und es behaupte einer, ihm sei dieses Vergnügen an den Begebenheiten des Alltags fremd, das sich, nur gepuderter, vielleicht geschönt und sicher konfektioniert in jeder Fernsehserie findet und in jedem Roman nicht minder.

Wem es aber gefällt in meinem kleinen virtuellen Wohnzimmer auf der Bühne meiner Existenz – wer dazu noch das Rheinland bewohnt und am 4. September abends Zeit hat:

Der kann dem Herrn Bandini und mir zuhören kommen, wenn wir im Theaterkeller Neuss aus unseren Blogs lesen.

button_modeste_bandini

Urlaub

Ab und an sollte man für ein paar Tage oder Stunden Urlaub nehmen können vom eigenen Leben und ein anderer sein können, mit anderen Erinnerungen, anderen Begabungen und in einem anderen Körper stecken. Heute nacht vielleicht eine vierzigjährige Frau sein, die mit ihrem Mann daheim beim Wein sitzt, einen Film schaut, den ich nicht mögen würde, und hin und wieder mit der linken Hand über seine Schulter streicht, weil das warm ist und gut. Irgendwann müde werden auf dem gemusterten Sofa. Der Mann, ich den ich mich niemals verliebt hätte, schaltet auf Zehenspitzen den Fernseher aus, und zöge die andere, die ich gerade wäre, sanft ins Bad und dann zu Bett. – Vielleicht auch einmal ein Mann sein, mit Freunden durch die Bars zu ziehen, schnalzen, wenn eine Frau den Raum durchquert, und soviel Bier zu trinken, wie ich es niemals könnte noch täte. Einen anderen Gang zu gehen, in aller Selbstverständlichkeit, und genau zu wissen, welcher Fußballverein wann welche Meisterschaft gewonnen hat. Auf dem Heimweg an Lieblingsgerichte zu denken, die ich im Leben nicht essen würde. Schweinekrustenbraten zum Beispiel. Oder gefüllte Milz.

Ein Kind zu sein, das eine fremde Mutter staubige Straßen entlangziehen würde auf dünnen Beinen und weinen wollen, weil es kalt ist, und der Weg noch lange nicht zuende. Auf der Straße sitzen und auf jemanden warten, der mir Geld geben würde für etwas zu essen oder das gefälschte Glück aus den Laboren oder von den Mohnfeldern Afghanistans. Vielleicht ein Tier sein, spielende Muskeln. Ein Stern. Etwas, was im Boden wartet, um irgendwann zu keimen.

Vielleicht, wenn ich jemand wäre in meiner Urlaubsexistenz, der lesen kann und schreiben, würde ich mir eine Postkarte schicken: „Liebe Modeste, die diesjährige Unterkunft ist wirklich schön, über das Essen kann man sich nicht beklagen, und einmal musst auch Du in diesen Zipfel der Welt fahren, in dem es sich zu leben lohnt.“ – Tage später, wenn ich wieder zurück wäre aus dem anderen Leben, würde ich die Postkarte finden und lächeln, und mich an das fremde Sein erinnern wie an einen fremdartigen und wirren Traum.