Im Abteil

„Sie!“, sage ich, „würde es ihnen etwas ausmachen, ihren Film mit Kopfhörern zu verfolgen?“ Verständnislos schaut der Mitreisende im Intercityabteil mich an. „Ihr Film!“, sage ich möglichst freundlich, und deute auf das Notebook auf seinen Knien. Aus den Lautsprechern des Notebooks scheppert es, schrille Schreie und Klirren dringen durch das volle Abteil, und statt einer Antwort bläst mir mein Gegenüber Zigarettenrauch ins Gesicht.

„Kopfhörer habe ich nicht.“, der Notebookbesitzer klingt deutlich konsterniert. „Also,“, schaltet sich eine Frau mit dicken Kajalstrichen um die Augen und schwarzgefärbtem Haar ein, „mich stört das nicht.“ Die anderen Mitreisenden murmeln Zustimmung oder Ablehnung, und ein dicker, schwitzender Mann beugt sich vor und gibt zu verstehen, der unglaubliche Zigarettenkonsum der anderen Mitreisenden wäre ihm deutlich lästiger.

„Dann setz dich doch woanders hin.“, fährt der Notebokkbesitzer ihn an, während wir so durch die Nacht fahren, die letzten Lichter der Stadt hinter uns lassen, und immer weiter Richtung Osten gleiten. „Woanders ist alles voll.“, brummt der dicke Mann und deutet auf den Korridor vor dem Abteil, wo zwischen Rucksäcken und Koffern andere Passanten sitzen, die offenbar auch nicht daran gedacht haben, rechtzeitig zu reservieren.

Im Notebook ist ganz offensichtlich die Hölle los, es knirscht, quietscht, Frauen kreischen und eine Männerstimme flucht laut, um dann plötzlich zu verstummen. Das Kind auf den Knien seiner Mutter am Fenster fängt an, ein bißchen vor sich hinzuweinen und patscht mit den dicken Händen immer wieder gegen die Fenster, hinter denen nichts zu sehen ist als die schwarze Erde und der etwas hellere Himmel im Nichts zwischen Hamburg und Berlin.

Der dicke Mann hat die falsche Fahrkarte, der Notebookbesitzer grinst breit und schadenfroh, und das Mädchen auf dem Mittelsitz kann unmöglich, denke ich mir, identisch mit derjenigen Person sein, die auf ihrer Bahncard abgebildet ist. Der Kontrolleur aber scheint zu müde zu sein, um nachzufragen, schwenkt ihre Bahncard ohne hinzuschauen, und möchte wohl auch bloß schlafen, schlafen, die Augen schließen und Ruhe. Statt dessen schreien im Notebook nun alle gleichzeitig, der Zug fährt wegen „umfangreicher Bauarbeiten“ diesen Sonntag nicht bis Ostbahnhof, und noch in der U-Bahn zur Friedrichstraße sehe ich das Notebook auf den Knien seines Besitzers, der gebannt auf Bilder starrt, die ich nicht sehen kann.

24 Gedanken zu „Im Abteil

  1. Sehr schöner Artikel. Sehr schöne Bilder. Sehr treffend eingefangene Stimmung. Sehr gut formuliert. Sehr stimmige Dialoge, im tristen Alltag eines Bahnreisenden, der vermutlich einfach nur Leben möchte.

  2. Und deshalb fahre ich bewusst lieber mit dem Auto. Trotz B404 nach Berlin. Aber da habe ich meine Musik, meine Ruhe und meine Mitreisenden, die weder schwitzen (KA), noch weinen oder gar dusselige Movies via Notebook schauen. Haben Sie denn keinen iPod, Frau Modeste?

  3. REPLY:

    Nein, ich habe weder Auto noch iPod, ich lese aber eigentlich gern im Zug, irgendwie beruhigt mich das pure Faktum der Ortsveränderung. Normalerweise finde ich das ganz entspannend. Zugrestaurants schätze ich dafür weniger, es gibt doch kaum etwas Tristeres als ein Bord-Bistro des ICE „Emsland“ oder so. Ein Paar Frankfurter mit Brot und eine Miniflasche Fanta….nein, eher nicht.

  4. REPLY:

    Lachs an Zitronenreis mit einem Glas Sekt oder Entenbrust
    mit Aprikosenknödeln mit einem Rotwein dazu finde ich nicht
    so wirklich trist. Obwohl ich im Cisalpino besser esse als im ICE,
    das ist wahr. Ich sprach vom Zugrestaurant (Speisewagen), nicht
    vom Bistro.

  5. REPLY:

    Ich überlege immernoch, welches Essen zu Billie Holliday passt. Der Lachs im Zug hatte gelegentlich Probleme mit seiner Kühlkette. Deshalb lieber Auto und 404, und hinter Herzsprung kurz raus, gut und günstig Essen.

  6. Hah, als wir noch jung waren ham uns die Leute im Zug angefahren den „Hoellenlaerm“ aus den Walkmankopfhoern nicht leiser, sondern abzustellen. Und mittlerweile allerortens was der soziologen Feuilleton wohl „Laermverschmutzung“ nennt (anderer Leute Privattelefonate in die Oeffentlichkeit geschrien, usw.)
    Soll man jetzt kopfschuetteln und wie die „Alten“ von damals reagieren und sich im Recht dabei fuehlen oder sich den Technikscheiss gefallen lassen und sich vermeintlich juenger dafuer fuehlen?

    ps. der herr mit laptop gehoert natuerlich erschossen.

  7. Interessant, wie unterschiedlich man das Zugfahren empfindet.
    Durch negative Erlebnisse in der Vergangenheit zählt das Zugfahren für mich zu den unangenehmsten Arten zu reisen. Allein der Gedanke daran, dass die Freude am Musikhören (Walkman) dadurch getrübt wird, dass sich in regelmäßigen Abstanden das Geräusch von sich auf Netzsuche befindlichen Handys über die Kopfhörer überträgt, lässt mich schaudern. Dann bleibt einem nichts, als untätig in der Gegend herumzuschauen und zu versuchen, die geistigen und körperlichen Ausdünstungen der Mitreisenden auszublenden, um schließlich, weil erfolglos, das Abteil zu wechseln, wenn gewisse ältere Damen lautstark darüber sinnieren, wie gut doch alles unter Adolf war. Nein, danke – das Zugfahren ist irgendwie schon eine eklige Angelegenheit.

  8. REPLY:

    Ja, erstaunlich. Ich lerne im Zug öfter interessante Leute kennen und habe
    schon tolle Gespräche in Zügen geführt. Und außer im Krankenhaus oder am
    Strand noch nie einen Walkman benutzt. Ich finde es eine Unsitte, diese
    Kommunikationstöter in Gegenwart anderer (und wacher) Menschen einzusetzen.

  9. Ich laß mal wieder den Praktiker raushängen. Seit mehr als einem Jahrzehnt begleiten mich auf Reisen aller Art billige Schaumstoff-Gehörstöpsel. Ob laute Hotelzimmer, Schlafen im Flugzeug oder plärrende Blagen – schnell eine Packung aufgerissen und die „Quietschies“ ins Ohr gepopelt, fertig. Die Blicke von Mitreisenden schwanken dabei zwischen Neid und Abscheu.

    Ok, es gibt besseren Schallschutz als die Schaufstoff-Teile, das Tragen ist gewöhnungsbedürftig, die gelben Dinger im Ohre sehen merkwürdig aus (viele tragen sie auch noch falsch), 100% Lärmschutz gibt es nicht und an die gedämpften Restgeräusche muß man sich ebenfalls gewöhnen. Mir egal.

    Eine Sache ist allerdings doof. Es ist klasse, wenn man damit in einem lauten Hotel schlafen kann. Es ist scheiße, wenn man dadurch nicht mal den Wecker wahrnimmt. Man war das peinlich …

  10. REPLY:

    Man ist ja leider immer gerade dann unbewaffnet, wenn es sich mal so richtig lohnen würde. Die Telephonate anderer Leute höre ich indes manchmal sogar richtig gern mit – man bekommt da teilweise Sachen zu hören, da könnte man sich auf der Stelle lachend auf den Boden werfen. Wenn ich gut gelaunt bin, habe ich für diese Art Verbalvoyeurismus einiges über – dem Mensch mit dem Laptop in dem unglaublich vollen Zug war aber auch geradezu berstend gute Laune nicht gewachsen.

  11. REPLY:

    An und für sich fahre ich nicht ungern Zug, und verbinde noch aus alten Interrail-Tagen sentimentale Erinnerungen mit schmutzigen Zügen. Die alten Damen sind natürlich eine rechte Pest, aber wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich für sehr alte und sehr junge Leute ohnehin nur in Ausnahmefällen viel über. Was der Rest der Welt treibt, ist mir im Regelfall aber herzlich egal, die können die ganze Zeit am iPod hängen, Hauptsache, sie drängen mir kein Gespräch auf.

  12. REPLY:

    Oh, das hört sich peinlich an. Meinen Hahnenschrei-Handywecker kann allerdings nicht einmal ein Taubstummer überhören, noch auf dem Friedhof auf der anderen Seite der Schönhauser erheben sich regelmäßig die Toten aus ihren Gräbern, wenn mein billiges D2-handy einmal richtig loslegt.

  13. Ah. Die Hölle, das sind… ist der ICE. Mir fällt gerade ein, daß ich meine Bahncard verlängern muß. Ich bin allerdings erstaunt über die unverfrorene Rücksichtslosigkeit Ihres Mitreisenden. Für mich ein deutliches Signal, daß es gen Berlin ging.

    Sie brauchen nun wirklich einen eigenen MP3-Player. Muß ja nicht dieses lärmende Apfeldings sein. Dazu eine Platzreservierung im Großraumwagen, denn im Abteil ist es schwer, gegen die Zwangsfraternisierung anzukommen.

  14. REPLY:

    Platzreservierungen setzen ja immer voraus, dass man genau weiß, wann man fährt, und dazu noch einigermaßen sicher sein kann, dass man den Zug auch wirklich bekommt. Ich hechte ja häufiger in letzter Minute in abfahrende Züge, für mich ist das schon deswegen kein Modell. Diesen Zug hätte ich um ein Haar ja auch verpasst, immerhin hätte mir das den Herrn mit dem Notebook erspart.

  15. REPLY:

    Ich hechte ja häufiger in letzter Minute in abfahrende Züge…

    Ah, Spiel mit dem Feuer, verstehe. Ich halte ja lieber alle Fäden, Stricke und Platzreservierungen in der Hand.

  16. REPLY:

    Spiel mit dem Feuer

    Nein, pure Unfähigkeit. Bei Gelegenheit erzähle ich mal die Geschichte, wie ich letzten Januar einen Flug nach Wien verpasst habe, weil ich Abflug- und Ankunftszeit verwechselt habe.

  17. REPLY:

    @modeste: Das eben unterscheidet uns: Ich liebe es, in Zügen mit wildfremden
    Leuten Gespräche über Gott und die Welt zu führen. Es erweitert den Horizont doch
    ungemein. Besonders bei Reisen durch fremde Länder.

  18. Zug fahren

    halte ich für eine sehr erbauliche Tätigkeit. Es hat mir viele interessante Gespräche gebracht, Bekanntschaften über das Übliche hinaus, so den Fanclub von Borussia Dortmund, der einen ganzen ICE füllte, und zwei Heiratsanträge mit den damit verbundenen Umzügen in die USA bzw. Ghana. Was ware wohl gewesene, wenn ich zugesagt hätte? Fragen über Fragen.
    (ach ja, einen Mennonitenpriester, den Sänger von lemmon tree und eine Einladung nach Tessaloniki….den Rest habe ich mit für meine Memoiren auf 😉

  19. Ja, das ist

    auch so ein Geheimnis, dem ich nicht auf den Grund komme. Verschanzen nutzt nichts bei mir. Man spricht mich an, um die Uhrzeit zu erfragen, um Geld auf dem ec-Automaten zu ziehen, um seine Lebensgeschichte los zu werden. Ich bekomme Handtaschen anvertraut, kleine Kinder und Kontovollmachten.Dies alles ist mir zwar unheimlich, unterhält mich aber doch auf das Vergnüglichste.

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