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He, Sie!

Da sind Sie ja. Jeden Morgen, vielleicht auch einmal ein paar Tage nicht, aber mit schöner und schmeichelhafter Regelmäßigkeit sehe ich Sie bei mir vorbeilaufen, und da habe ich mir gedacht, ich bitte Sie doch einmal herein. – Legen Sie erst einmal ab. Ja, die Tasche können Sie im Korridor stehen lassen. – Einen Tee? In ein paar Stunden würde ich einen Sherry anbieten, aber um diese Zeit… Ein Stück Kuchen können Sie auch bekommen, und jetzt setzen Sie sich erst einmal hin.

Jetzt sitzen Sie mir also gegenüber, auf meinem grünen Sofa, und sind so stumm wie immer. Ich plaudere ein bißchen daher, wie meistens, vom gestrigen lustigen Abend im Visite ma tente, vom vorgestrigen im Prater, lästere ein bißchen über Bekannte, die ich nicht mag, und Freunde, die´s vertragen, und Sie sitzen mir einfach so gegenüber und baumeln ein bißchen mit den Beinen. Ist´s Ihnen unbehaglich auf meinem grünen Sofa? Sie sind ja so still! Mögen Sie lieber den Ohrensessel haben, der ist bequemer, und für´s Wohlfühlen gemacht und nicht fürs Paradieren? – Ach, so, unterhalten werden wollen Sie hier, und selber plaudern möchten Sie gar nicht? Und die anderen Gäste, die reden Ihnen schon genug, und da mögen Sie selber gar nicht dazwischenreden? Schüchtern sind Sie am Ende gar? – Aber nicht doch. Erzählen Sie mir doch ein wenig. Kennt Sie hier doch keiner.

Bei Ihnen daheim, da reden Sie schon genug? Ach, sage ich, und ziehe Sie ein wenig an den Ohren – und da denken Sie, das reicht? Ein guter Gastgeber zu sein, sage ich Ihnen, und dränge Ihnen noch eine Tasse Tee auf, reicht schließlich nicht. Auch ein guter Gast muss man sein, die Hausherrin mit reizenden Geschichten zum Lachen bringen und sie ein wenig aufheitern, wenn die Welt ihr gerade nicht gefallen mag. Virtuelle Blumen sind gern gesehen, denn die Hausherrin wird demnächst ja schon 300, und reife Damen hören ja gerne Komplimente. Das Kölnisch Wasser können Sie aber getrost Ihrer Großmutter schenken, so alt bin ich auch nun wieder nicht. Plaudern Sie einfach ein bißchen.

Und kommen Sie gerne wieder vorbei.

Wie ferner Saum

Entzündungsherde, die bleiben. Empfindliche Sensoren eines zerschundenen, krustigen Fluidums: So braunes Haar. – Am Freitag über ihn sprechen, nachts auf den staubgrünen Polstern einer Bar. Ihn lächelnd abtun, der vernarbt ist auf der Oberfläche meiner Seele. – Am Samstag morgen beim Photographen Li um die Ecke in den Kästen graben, die vor der Tür stehen: Alte Photographien, verblasste Hochzeitspaare, Stück einen Euro, ein Bub mit Mütze, verkrampft in die Kamera blickend im Jahre 1924. Eine Straße in Berlin, schwarzer Sommerschatten und von Früchten üppig hängende Äste am Wegesrand.

Irgendwann inmitten des Stapels, in fremden Kleidern, ein Käppchen auf dem Kopf, schaut er mich an: Das dunkle, volle Haar, die starke Nase. Die Augen ganz entleert. Neben ihm liegt ein Instrument auf einem Polster auf einem geschnitzten Stuhl. – Es ist das Richtige. Wilmersdorf, steht auf dem unteren Rand des Bildes, und der Name des Photographen. 1943.

Ohne Bilder komme ich atemlos heim und weiß für einen Moment, für zwanzig Minuten wieder genau, wie er aussah. Seine Stimme, dunkel, und ein bißchen langsam, schleppend, als dächte er stetig nach, was er sagen solle, und war doch bloß Camouflage, die Langsamkeit, für das kalte, präzise Gehirn eines hochbegabten Alligators. „Die Dämonen“, die er in einem rußígen Kellerlokal las, als ich ihn warten ließ, stundenlang, weil ich nicht wusste, ob ich hingehen sollte, oder es einfach lassen. Die kräftigen, fast bäuerlichen Hände, die ich sofort erkannt habe an den Armen eines anderen Mannes in einer Winternacht. Die eckige Schrift mit den steilen Unterstrichen. Das kalte Lachen, endend in einem schrillen, schmerzenden Laut.

Sinnlose Zeichen.

Das Bittere und das Saure

„Hast du deinen Bruder erreicht?“, frage ich die C., die beruhigenderweise nickt. Alles in Ordnung. Aufatmen. In den Gläsern klirren die Eiswürfel leise und melodisch aneinander, und als die Musik angeht, sprechen wir ein bißchen über dieses sonderbare Gefühl, dass diese Menschen den Westen, dieses inhomogene Gebilde, hassen für exakt die Dinge, die auf Freiwilligkeit beruhen, und bei denen keiner mitmachen muss: Die Wahlfreiheit über sein Leben zu haben, mit sich, seinem Körper, seinen Leidenschaften zu tun und zu lassen, was man will. Keiner zwingt die bärtigen, verkniffenen Männer aus der Zeitung dazu, der neuesten Prada-Kollektion zu verfallen, niemand zwingt ihre Frauen, statt riesiger schwarzer Stoffsäcke bauchfrei und gepierct mit einem Mojito in der Hand auf den Tischen zu tanzen. Niemand weist diese Leute an, statt an einen Gott und seinen Propheten an viele Götter oder gar keinen Gott zu glauben, und Erlösung nicht im Gebet, sondern bei Wal-Mart zu suchen.

„Diese Leute,“, meint der O., „haben die Relativität der Zeichenwelt nie verstanden.“, und ordert einen Kir Royal. Mangels einer noch irgendwie weltumspannend Verbindlichkeit beanspruchenden Idee, wie es Gott für das Mittelalter war, oder die Revolution und der Fortschritt für die Moderne, könne von einer irgendwie gearteten ideellen Hegemonie ohnehin nicht mehr die Rede sein. Auch The American Way Of Life sei daher nur so einflussreich, wie jeder ihm eben zugestehe, und dass die Bewohner der Slums dem Mythos von Beverly Hills begehrlich und hasserfüllt aufsäßen, sei schließlich nicht weiter erstaunlich. „Macht gibt es eben immer nur im Kopf.“, sage ich, ein bißchen unbehaglich, weil es dort nicht stimmt, wo die Macht der Zeichen auf die körperliche Ebene überschwappt.

„Am meisten nerven mich eigentlich die geistigen Konzessionen, diesen Verständniskotau, den die Weichspülpresse so absondert.“, meint der O., und die C. nickt: Das entschuldigende Gerede von der miesen wirtschaftlichen Lage in manchen Regionen und dem Erbe des Kolonialismus: Ganz so, als seien Missgunst und Vergeltung in irgendeiner Weise berechtigte Empfindungen, deren Emanationen man in ihrer Intensität missbilligen könne, die aber dem Grunde nach nicht völlig abwegig seien. – Der reflexhafte Verweis auf die Politik der USA oder Israels, oft geprägt von einer puren, grundsätzlichen Gegnerschaft, die über Kritik im Detail weit hinausgeht, und im schlimmsten Fall geprägt ist von hämischer Opposition: Sündenfall der politischen Linken.

„Lass´ uns über was Angenehmes reden.“ sage ich, und wir bestellen bei der Kellnerin im viel zu kurzen Rock und mit den wippenden Zöpfen Gin Tonic und trinken auf unsere Welt mit ihren schneidenden Kanten und Widersprüchen, ihrer brausenden, wortreichen Leere, die wir füllen können, wie immer wir lustig sind. Auf die Freiheit, zwischen vielen Leben wählen zu können, und von heute auf morgen fortzugehen. Auf die Freiwilligkeit, die unseren menschlichen Beziehungen zugrundeliegt: Das Geschenk, das darin besteht, dass jeder, der mit uns seine Abende verbringt, dies ganz und gar freiwillig tut. Das Glück eines Lebens, dass auch dann, wenn es keinen postmortalen Ausgleich gibt, ein Gelungenes gewesen sein wird: Hier im orangefarbenen Licht, das Lächeln auf dem Weg an der Bar vorbei, die Musik, die einen weich umspült, und ein wenig bitter und säuerlich allein die glasklare Füllung der Gläser zwischen den Eiswürfeln an einem Abend in Mitte.

Dein PC, das unbekannte Wesen

Alles in allem bin ich keine arg unpraktische Person: Ich weiß, welche Blumen zu welchem Anlass passen, und wie viele davon. Ich kann, wenn es denn sein muss, Fenster streifenfrei sauber bekommen, Gurken einlegen, Prozesse gewinnen und Wiener Walzer tanzen. Ich koche Hühnersuppe, die gegen Erkältung hilft, kann Servietten so falten, dass sie wie Schwäne oder Frackhemden aussehen, und wissenschaftliche Tagungen kann ich auch organisieren. Die Datenverarbeitung indes…

Nehmen wir nur einmal diese Woche.

Am Dienstag sitze ich also in der Wohnung des J., der sich seinerseits auf einem Konzert befindet. Zu meinen Füßen schlafen die Pinguine, vor mir steht das Powerbook des J., und neben mir steht mein eigenes Notebook. Es heißt Acer. „Ich schreibe,“ hat der J. vor seinem Aufbruch mitgeteilt, „dir das WLAN-Passwort einfach mal auf. Dann kannst du ein bißchen surfen.“ „Du hast aber ein langes Passwort.“, sage ich zum J., und fahre den Rechner hoch. Unten rechts zeigt Acer an, ob drahtlose Netzwerke vorhanden sind, dann muss man auf das Richtige tippen, und wird nach dem Passwort gefragt. Ja, und dann….dann springt ein Fenster auf, in dem steht, das Passwort müsse irgendwie anders eingegeben werden. „Wie machst du das in deiner Wohnung?“, fragt der J. etwas irritiert nach seiner Rückkehr. „Gar nicht.“, sage ich. Und dass ich zwar nicht diese Anzeige bekäme, indes auf verschlungenen Wegen ein viel kürzeres Passwort für das WLAN auf Acer geraten sei, dass jetzt nicht mehr wegginge. Die Eingabe des richtigen Passworts indes führe ebenfalls nicht zur Eröffnung eines Zugangs zum Internet, so dass ich eigentlich nur den großen Rechner auf dem Schreibtisch nutze.

Dieser Blick…

Heute morgen dann fahre ich also den Rechner hoch, öffne problemlos die langweiligste Diss der Welt, und klicke auf das Symbol mit der Note, mit dem normalerweise iTunes aufgeht. Heute aber öffnete sich lediglich ein schwarzes Fenster und ging sofort wieder zu. Panik.

Nach einiger Zeit hektischer, aber erfolgloser Betriebsamkeit und über der zweiten Kanne Tee kam der vermeintlich rettende Gedanke: ich würde, dachte ich mir, iTunes einfach deinstallieren und neu aufspielen. Gesagt, getan.

Irgendwann öffnete sich also das Zeichen, mit dem die Installation hätte beginnen sollen, die Kiste fing an zu rattern und zu rauschen, und dann erschien die irritierende Anzeige, es sei bereits eine neue Version von iTunes installiert. Die Installation könne nicht fortgesetzt werden. Öffnen lässt sich iTunes indes immer noch nicht, statt dessen geht der Installationsvorgang jedesmal erneut und erfolglos auf.

Vielleicht, so dachte ich mir, liegt irgendwas im Weg, und verstopft den Zugang zu den Musikdateien? Der Rechner ist zu voll geworden, und nun kommt das aufgerufenen Programm nicht mehr richtig durch? Wahllos löschte ich ein paar Programme, die mir eher unbekannt erschienen, und klickte erwartungsvoll auf die – sich aus irgendwelchen Gründen nunmehr verdoppelt habenden – iTunes-Symbole. Keine Veränderung. Statt dessen klingelt das Telephon.

„Weißt du, wie ich iTunes wieder draufbekomme?“, frage ich meinen kleinen Cousin nach eiigen einleitenden Worten, denn die jüngste Generation, so sagt man, sei imstande, der Datenverarbeitung in erhöhtem Maße Herr zu werden. „Was?“, fragt der Kleine, und zeigt sich sowohl unkundig als auch uninteressiert. „Wozu brauchst du das`“, fragt er weiter, und referiert seine Feriensorgen, die mich wiederum nur peripher interessieren.

Dann eben nicht, denke ich, und überlege, wie viele Musikdateien nun unwiderruflich den Orkus hinabgeschwommen sein könnten. Und ob ich einen frischen Rechner brauche, und wie lange der gegebenenfalls vorhalten würde.

Als ich einmal 18 war

Mozarts meinten wir, alle miteinander so ungefähr 18, überdrüssig zu sein. Verdi? Ein Fall für´s Abonnementspublikum. Beethoven – „meine Liebe, Beethoven ist ausgeschöpft“.

Schlechte Bücher, so glaubten wir überdies, verdürben den Charakter. Wir lasen Wilde und Céline, Jünger und Benn, und hegten schon deshalb kaum einen Zweifel an unserer Perfektion. Die Welt, so glaubten wir allen Ernstes, habe ein Rausch aus Gold, Blut und Rosen zu sein, Gott war ein toter Hund, und Nietzsche dafür um so lebendiger.

Es liegt an eines Menschen Schmerz, an eines Menschen Wunde nichts, sagten wir uns vor, und als die Mutter eines Kameraden Schlaftabletten nahm, und eine Woche später begraben wurde, lobten wir, noch etwas weiß um die Nase, die Schönheit dieses Todes, die den Abschied in Würde dem Verlassenwerden vorzog. Den moralischen Rigorismus der Jugend, den sich andere gehalten haben mochten, meinten wir, schon von vornherein überwunden zu haben. Im weißen Kleid mit Lochstickerei ging ich zu der Einladung, die die Geliebte des Vaters eines Freundes für jenen gab, und trank Krimsekt. Mundus vult decipi, zuckten wir die Achseln, und lachten ein bißchen über Regierung und Opposition gleichermaßen und über die, die dumm genug waren, gar nicht gehört zu werden, noch ein bißchen mehr.

Statt der Ungerechtigkeit der Welt hassten wir ihre Hässlichkeit, und stellvertretend jene Kameraden, die das Unglück hatten, mangels anderer geeigneter Ziele in jenem windstillen Winkel der Welt für uns deren Grobschlächtigkeit zu verkörpern: Der dicke, immer etwas schwitzende Junge mit dem Aktenkoffer. Die blonde, ordinäre Bauerntochter, die sich aus der Stadtbücherei Liebesromane entlieh, die „Stürme der Leidenschaft“ hießen oder so ähnlich. Als der Direktor der blonden Bäuerin nahelegte, die Schule nach der U I zu verlassen, hatten wir gesiegt.

Zehn Jahre ist das her. Das Mädchen, das ich einmal war, ist mir fremd geworden, die Sorglosigkeit und die Arroganz, auch der selbstgerechte Äthetizismus, sind mir hoffentlich ferngerückt. Ihre Bücher aber sind die meinen geblieben, und beim Wiederlesen bin ich so bei mir, dass das Mädchen von früher noch in einer meiner Ecken sitzen muss, irgendwo. Neben die gepflegten Ekstasen der letzten Jahrhundertwende sind indes andere Vorlieben getreten, und der jugendliche Snobismus, der alles gesehen und gekannt haben wollte, und dem kaum etwas exklusiv und gesucht genug sein konnte, ist einer Demut gewichen, von der ich mir wünsche, das sie nicht nur die Kunst umfasst.

An die Stelle der Schönheit der Welt als Maß und Regel ist eine Komplexität getreten, vor der wohl nicht nur ich ein wenig ratlos stehe. Schwierig ist die Welt bisweilen geworden, und ich urteile zunehmend weniger und stets ein wenig ungern.

Für die Verwirrung über die Kompliziertheit der Dinge, für den Verlust der Sicherheiten des jugendlichen Selbst, schenkt einem die Welt indes manchmal die Momente, die der Achtzehnjährigen in ihrer Hybris nicht gegeben worden wären: In der Staatsoper zu sitzen, Daniel Barenboim die Sonaten Beethovens spielen zu hören, und vor der Erhabenheit des tausendmal Dagewesenen in Demut zu erzittern, und im Innersten berührt zu sein:

Gebadet – nein: getauft – in den reinen Wassern der Kunst, in denen wir immer wieder neu und rein werden, wenn wir ihr gesenkten Hauptes nahen.

Untergang Utopias

Die RAF-Ausstellung öffnete ihre Tore. Frierend und ein bißchen gespannt stand ich in der Schlange, plauderte ein bißchen mit den Umstehenden, und hielt Ausschau nach den Freunden, die zur vereinbarten Zeit angekommen sein mussten. Meine Nachbarn in der Schlange spöttelten ein bißchen über den naiven Idealismus des Milieus, aus dem einige aufgebrochen waren, die Bundesrepublik der Siebziger und Achtziger auf den Rücken einiger toter Wirtschaftsbosse umzuwälzen. Ein blutiger Kindergeburtstag müsse das gewesen sein, war man sich einig. Mit schnellen Autos und Frauen, die zum Teil schön gewesen sein mussten, Banken zu überfallen, alte Männer totzuschießen, und zu glauben, die Welt würde besser auf diese Weise. – Über die bessere Welt sprach man nicht in dieser Schlange auf der nächtlichen Auguststraße. Der Traum einer besseren Welt ist sehr, sehr weit weg.

Belächelt wird der Glaube an eine bessere, sanfte und gerechte Welt auch an jenen Tischen, an denen ich bisweilen eingeladen bin. Die Gemüsestreifen in der Thai-Style Suppe stammen aus der Bio-Company oder vom Kollwitzmarkt, Ökologie wird großgeschrieben, und nicht nur ich führe ein Karteileichenleben bei amnesty international. Die Mehrheit am Tisch wird ihr Kreuz im September bei den Grünen machen, der eine oder andere wird die CDU wählen, und auch die FDP hat ihre Anhänger: Liberale mit leicht unterschiedlichen Akzenten verlieren einige wohlgesetzte Worte über die Reform der WTO und Politik als Kommunikationsproblem. Dass die Macht der Gewerkschaften zu recht ihrem Ende zuginge, bedarf hier ebenso wenig der Diskussion wie die leise Verachtung der Sozialdemokratie, die zwischen Rotwein und Schokolade durch den Raum wabert.

Die Auseinandersetzung mit dem deutschen Neokonservatismus verfehlt angesichts dieses gesellschaftlichen Mainstreams ein wenig die Realität: Niemand der Leute, die mit mir an den Bars der Stadt ihren Wein trinken, will mit einer neoliberalen Brechstange die Republik reformieren. Das Primat der Arbeits- und Sozialpolitik stößt vielmehr auf ein leicht erschöpftes Desinteresse. Es möge, so hört man ein wenig gequält, die Politik sich doch einmal wieder mit anderen Dingen beschäftigen. Galt die Politik noch vor zwanzig Jahren, glaubt man meinem Vater, als ein hochinteressantes Spielfeld, so hat diese Faszination einer bisweilen wortreichen Gleichgültigkeit Platz gemacht: Man erwartet nichts mehr vom Staat.

Die Zeit der Utopien ist vorbei.

Nachdenken über Deutschland

Geht es Ihnen auch manchmal so? Sie liegen bewegungslos in der Hitze, ächzen nach Weintrauben oder Erdbeeren, und überlegen, am Abend vielleicht eine Thaisuppe zu essen. Rot vor Schärfe. Mit Kokosmilch, Zitronengras und -blättern, Galgant und Gemüse drin. Oder eine Reisschüssel mit rohem Thunfisch und Seetangsalat dazu? Oder Spaghettini mit Zitronensahne und ganz, ganz viel Basilikum? – Und während sie noch so am See liegen, und den Kindern zuschauen, die sich bis zur Hüfte im kleinen Wannsee stehend mit Wasser bespritzen, fragen Sie sich:

Was haben die Deutschen eigentlich früher gegessen?

Keine Fragen wirft der Winter auf. Entgegen dem miesen Ruf der deutschen Küche ist die Wildküche gerade im Landessüden nicht übel, und ein Rehrücken Baden-Baden oder eine Hirschkeule in Wein und Schalotten geschmort, passen gut zu klirrender Kälte und mögen die feuchten, kalten Winter ein wenig verschönern. Ein mit einer Fischfarce und Eiern gefüllter Karpfen mit Aspik überzogen. Eine Königinsuppe mit Sahne, Kalb und Huhn, ein Palatschinken mit Mohn oder Topfen gefüllt, oder eine gebratene Gans mit Rotkohl und Knödeln, im Norden aus Kartoffeln und im Süden aus Semmeln gemacht: Der Winter lässt sich aushalten.

Dass eine gebratene Gans aber im Sommer nichts weniger als eine Zumutung darstellt, und auch ein Eintopf mit dicken Bohnen und Weißkohl und Hammel darin nicht zu dem gehört, was man essen mag, wenn die Temperaturen steigen, liegt eigentlich auf der Hand. Die deutschen Suppen enthalten, zumindest meiner Kenntnis nach, entweder Sahne und Ei, oder werden mit ziemlich schweren Einlagen angereichert. – Und wollen Sie etwa heute mittag eine Bouillon mit Maultaschen drin essen? Oder mit Fritatten?

Der Fischgenuß ist ja nicht in allen Landesteilen gleichermaßen beheimatet, und alle mir bekannten traditionellen Salate werden entweder mit Sahne, süß und sauer, oder Mayonnaise zubereitet: Gar nicht gut bei großer Hitze und leicht verderblich dazu. Frisches Obst kann man auch nicht den ganzen Tag essen, und Kurzgebratenes wirft schon wieder die Frage nach der passenden Beilage auf.

Vielleicht, so sinniert man, haben die ehemaligen Bewohner der deutschsprachigen Landschaften einfach auch im Sommer die Winterküche fortgesetzt? Schnittbohneneintopf mit fettigen Würsten drin gegessen und schwarzes Brot mit Schmalz? Vielleicht besaß, wer alle paar Jahre raubend und sengend durch die auswärtigen europäischen Gefilde ziehen konnte, auch einen wahrhaften Ledermagen? Ernährten sich die Vorväter vielleicht nicht gerade von einer sprichwörtlich spartanischen schwarzen Suppe, aber immerhin von gebratener Blutwurst mit weich gekochten Sommeräpfeln?

Fragen über Fragen.

Ein paar Worte zur Evolution

Wer bin ich, dem großen Darwin, dem verdienten Schöpfer der Evolutionslehre, zu widersprechen! Gleichwohl sei an dieser Stelle einmal schüchtern ausgesprochen, dass mich nicht alle Aspekte seiner Evolutionslehre, soweit mir in groben Zügen bekannt, vollkommen zu überzeugen in der Lage sind.

Im Tierreich, so zwischen Fell und Federn, da geht es meinetwegen noch halbwegs an: Frau Giraffe nämlich liebt immer den Giraffenmann mit dem längsten Hals, der am meisten Futter aus den Bäumen klauben kann, und so werden pro Generation die Hälse länger und länger. Die Pfauendame gibt sich dem prächtigsten Gefieder hin, und die schwachen Störche fallen ins Mittelmeer, ersaufen und geben ihre schwächlichen Gene im nächsten Sommer nicht mehr weiter.

In meiner unmittelbaren Umgebung jedoch sind Tiere – abgesehen von den beiden kastrierten Katern im zweiten Stock – schon eher selten, und bei den Menschen mag es einfach nicht hinhauen. Ginge es nach Darwin, dann müssten doch die Frauen den besten Ernährern hinterherlaufen, die Seniorpartner großer Kanzleien und Vorstände international agierender Konzerne müssten sich vor paarungswilligen Damen kaum mehr retten können, und vor der Deutschen Börse in Frankfurt am Main würden leicht bekleidete Mädchen versuchen, die Aufmerksamkeit der anzugjackerten Investmentbanker zu erregen.

Aber nichts.

Diejenigen Männer meines Bekanntenkreises, die aus der Schar ihrer Anbeterinnen wohlgestaltete weibliche Fußballmannschaften zusammenstellen könnten, können, soweit ich das beurteilen kann, nur auf spärliche Qualitäten als Ernährer verweisen. Und die meisten erwecken noch nicht einmal optisch den Eindruck, optimale Gene zu besitzen. Welche Qualitäten etwa mögen es sein, die ausgewachsene Frauen dazu bewegen, sich um die Gene eines maximal mittelgroßen, dünnen und meistens arbeitslosen Romanisten mit spärlichem schwarzen Haar zu schlagen? Und wieso verschmäht die weibliche Welt einen im Großen und Ganzen wohlgestalteten Richter am Finanzgericht, der Geige spielen kann?

Andersherum indes schaut es auch nicht besser aus: Von den beiden schönsten Frauen, die ich kenne, ist augenblicklich eine Single, und die andere schlägt sich herum mit einem Mann, der sich hartnäckig gegen die Weitergabe seiner und ihrer Gene sträubt. Weibliche Ernährerqualitäten sind ohnehin nicht in der Lage, Männer zu betören, und bezeichnend ist überhaupt, dass nicht die schönsten, erfolgreichsten und klügsten Leute die meisten Kinder haben, sondern sozusagen das Gegenteil der Fall ist – zumindest aus meiner Abiturklasse haben sich bisher nur jene Menschen verheiratet und teilweise sogar reproduziert, die ich nicht ganz grundlos für aussichtslose Fälle auf dem Heiratsmarkt gehalten habe.

Darwin muss sich geirrt haben.

Wunschliste

Kaum etwas verrät soviel über einen Menschen wie seine Bücher, und so steht man beim ersten Besuch in fremden Wohnungen oftmals fast ein wenig ängstlich vor den Regalen: Lass, oh Himmel, denkt man, diesen reizenden Jüngling bitte nicht das Gesamtwerk von Douglas Adams und alles von Tolkien in vieltausendmal zerlesenen Ausgaben besitzen, und an jener Stelle, wo von Rechts wegen die Recherche ihren Platz hätte, das blanke Nichts den Betrachter anlachen. Stehen Nick Hornby und Benjamin von Stuckrad-Barre auf drei kümmerlichen Regalbrettern? Liebt da einer Grillparzer oder Raabe? Kann man jemanden küssen, der Grass verehrt und Martin Walser als lesbar erachtet? – Und überhaupt – welchen Regelmäßigkeiten folgt die Anordnung der Bücher – sind´s die Anfangsbuchstaben, ist´s die Vorliebe oder ist es gar der Zufall, der die Bücher regellos in die Reihen spült? Stammen die Bücher von Flohmarkt und Antiquariat, zusammengesucht von der zufälligen Hand des Liebhabers und Sammlers, der die eine oder andere mühsam erschlagene Ausgabe zärtlich und stolz vorführt?

Steht Besuch prüfenden Blicks vor meinen Regalen, so halte ich manchmal, ist´s wichtig, auch ein wenig den Atem an. Welches Buch wird er herausziehen? Was als trivial abtun, was aus welchen Gründen loben, und an welchen Büchern geht er gänzlich vorbei? Besteht mein lesendes Selbst vor kritischen Augen? Man erfährt einiges über mich vor diesen Büchern, und so erfährt man auch einiges über mich, liest man ein wenig in der Wunschliste herum, die ich bei amazon vor ein oder zwei Jahren einmal zusammengestellt – und gestern ein zweites Mal für alter ego Modeste angelegt – habe, um Familie und Freunden das Beschenken ein wenig zu erleichtern.

Ob der Betrachter nicht vielleicht mehr erfährt, als mir lieb ist, kamen die Bedenken vor der fertigen Liste, und die Frage, ob zwischen dem schreibenden Fräulein Modeste und der Leserin auf dem grünen Sofa wirklich jenes Maß an Koinzidenz besteht, das ich vielleicht nur aufgrund mangelnder Distanz annehme? Ob ich überhaupt will, dass der Leser im Verlaufe der Zeit mehr und mehr über mich erfährt, sei es durch eine Bücherliste, sei es durch Alltagsgeschichten, ein Photo – ob mir diese Verwandlung in kleinen Schritten in eine – wenn auch für einen glücklicherweise begrenzten Personenkreis – öffentliche Person möchte, der mit der Führung eines persönlichen Blogs zwangsläufig verbunden ist.

Aber sei´s drum: Ich liebe Geschenke.

Auflösung folgt nicht nach

Schade ist auch, dass, anders als bei manchem Erzeugnis der Literatur oder auch in Filmen, im echten Leben die Erklärungen meist nicht nachgeliefert werden. Auflösungen dergestalt etwa, dass ein am Geschehen unbeteiligter, aber umfassend informierter Dritter am Ende daherkommt und erklärt die Motive und verborgenen Handlungen der Akteure, kommen praktisch nicht vor. – Dass nicht die damals durchaus minderjährige Modeste, sondern höchstwahrscheinlich ihre kleine Schwester an den Kühlschrank geschlichen war und alle Cocktailkirschen von der großmütterlichen Geburtstagstorte genommen hat, wird sich so wohl nie aufklären vor den Augen der Welt. Und gleichfalls nie wird ans Licht kommen, wer damals, im Sommer 1992, zum Englischlehrer Dr. F. gegangen war und diesem erzählt haben muss, was ich von ihm und seinen Haaren in den Ohren und überhaupt von der englischen Sprache wirklich hielt.

Könnte in derartigen Fällen vielleicht noch ein fleißiger Kommissar ein bißchen spüren und graben, so schaut es in anderen Fällen noch einmal anders aus. Unwegsam ist nämlich das weite Land der Seele, verschlossen hält der Mund in vielen Fällen die Gedanken, und zu gern wüsste man aber trotzdem, ob der X. sich nur nicht getraut hat, mich zu küssen, oder einfach kein Interesse hatte. Ob der Y. sich wohl gemeldet hätte, hätte ich ihm am Morgen der Abreise aus nicht mehr völlig nachvollziehbaren Gründen nicht nur einen Gruß an die Tür geklebt, sondern meine Telephonnummer dazu? Im Film, auf der Bühne, würde der X. einen Monolog halten, beim Rasieren etwa, und den Zuschauern wäre völlig klar, was der X. vom Fräulein Modeste hält. Der Y. würde so ungefähr in der zweiten Hälfte eines Romans einer Freundin im Park erzählen, was ihm beim Anblick des kontaktmöglichkeitslosen Klebezettels durch den Kopf gegangen, und der Leser wüsste Bescheid. Auch in dieser Hinsicht erweist sich das echte Leben wieder einmal als der Kunst hoffnungslos unterlegen.

Könnte in den Fällen von X. und Y. immerhin noch der jeweilige Herr zumindest theoretisch Aufklärung schaffen, so ist dies in einer weiteren Kategorie der Unwissenheit vollends unmöglich. Ob ich gut daran getan habe, die Rechte zu studieren, und nicht etwa Klassische Philologie? Welche Wendungen mein Leben genommen hätte, wäre ich letzte Woche nicht nach Riga , sondern nach Wales gefahren, weiß kein menschliches Wesen zu sagen. Ein zweites Leben, nur um die Alternative einmal auszuprobieren, steht mir zumindest meines Wissens auch nicht zur Verfügung, und so wird es unklar bleiben, ob es klug und längst überfällig war, Hannover damals zu verlassen, oder ein blödsinniger Kardinalfehler, nicht wieder gut zu machen, und jetzt ist alles vorbei mit Glück und Liebe? War der J. vielleicht der Richtige, oder war´s der E.? War es keiner von beiden, und wahres Glück wartet auf mich hinter tibetanischen Klostermauern?

Zumindest zu Lebzeiten wird mir keiner verraten, welche Wege sich eröffnet hätten, und noch am Ende wird es dunkel werden, ohne dass mir einer sagt, ob nun die Lungenembolie oder eine mörderische Krankenschwester mit Giftspritze das Ende herbeigeführt haben wird, und wer, statt mit meiner Leiche auf den Friedhof, fröhlich pfeifend ins Kaffeehaus geht.