Die Kunst der Berührung

Meine Damen, meine Herren, ich ziehe den Hut. Ich verbeuge mich vor Ihnen: Ich wäre gern so wie Sie, die Sie die Kunst beherrschen, unter ganz normalen Leuten normal zu sein und sich dabei prächtig zu amüsieren.

Das sei doch ganz einfach, sehe ich sie erstaunt? Normal sei man quasi von selbst, und wer anders sei, komisch? – Lassen Sie sich gratulieren, klopfen Sie sich mächtig auf die Schulter, denn Normalität ist eine Leistung, und mir ist nie mehr gelungen als ihre mehr oder weniger gelungene Imitation: Dieses Herumgehen und Lächeln, nicht zu lange bei einer Gruppe zu bleiben, Leute mit dem genau richtigen Maß an Vertrautheit zu grüßen und Dinge zu sagen, die nicht so banal sind, dass man mich für dumm, und nicht so originell, dass man mich für überspannt halten wird. Vollends hakt es bei mir aus bei der richtigen Dosis Berührung, und die Kunst des geselligen Körperkontakts, oh verehrtester Leser, bleibt auch in meinem 35. Jahr ein Buch mit mindestens sieben mal sieben Siegeln.

Zunächst die Umarmung. Wer erwartet zu recht, herzlich umarmt zu werden? Wem dagegen schüttelt man einvernehmlich die Hand? Wer dreht einem die Wange wie zu, wie vermeidet man das eigene und fremde geräuschvolle Schmatzen beim Wangenkuss, und wie bemäntelt man wirksam, dass man albernerweise stets etwas zurückschreckt vor der Berührung mit nackter Haut? Ich habe Angst vor fremden Oberarmen, besonders im Sommer, aber diese Phobie teilt der Rest der Welt ganz offensichtlich rein gar nicht.

Überdies kann ich nur eine Sache auf einmal. Denke ich nach, wer die Leute sind, die mich umgeben, ob ich sie kenne (oh, mein Gedächtnis ist schlecht), ob ich sie zumindest kennen müsste, und ob wir uns siezen oder duzen, und woher wir uns eigentlich kennen, ist mein Gegenüber schon weiter, hat mich begrüßt, gefragt, was ich mache, mich aufmunternd getätschelt und flattert zum nächsten Passanten. Verdattert bleibe ich stehen. Komisch, die Frau Modeste, steht es meinem Gegenüber auf die Stirn gechrieben. Komische Person, wird mein Gegenüber nun allen erzählen.

Immerhin erspart bleibt mir meist das Klopfen von Schultern, denn das ist eine männliche Beschäftigung und wird an Frauen nur selten geübt. Ganz besonders die großen, mächtigen Männer aus 100 Kilo reinem, saftigen, gut durchbluteten Fleisch klopfen gern Schultern, boxen sich gegen die Brust und lachen lautstark und kehlig über das, was der andere sagt, als sei irgendetwas davon auch nur annähernd lustig. Erst kürzlich war ich auf einem Fest, 10 bis 15 Männer standen herum, brüllten über nicht erkennbare Witze, tranken Bier, als würde Bier morgen verboten, schlugen die Pranken bei jeder Gelegenheit einander freundlich auf Schultern und Arme und gaben einander stundenlang recht. Worum es ging, habe ich nicht so verfolgt; ich nehme an, um Sport, Politik und Karriere.

Natürlich boxt niemand einer Dame die Brust. Der Unterarm-Streichler dagegen befällt so gut wie ausnahmslos Frauen, sitzt gegenüber, beugt sich weit vor und legt bei besonders bedeutungsvollen Stellen seiner Ansprache die Hand auf den Unterarm der Gesprächspartnerin irgendwo auf dem oberen Ende mehr so gegen Gelenk. Ich gefriere bei solchen Gelegenheiten dann sofort auf der Stelle.

Wie lange die Hand auf dem Unterarm liegt, richtet sich nach einer Kombination von Alter und Distanzlosigkeit des jeweiligen Mannes. Es gibt auch regionale Unterschiede und Städter sind zutraulicher als Herren vom Land. Besonders freche Exemplare lassen die Hand bis zu 30 Sekunden dort liegen und streichen ein bißchen den Ärmel rauf und runter, damit man den Arm nicht wegziehen kann. Ich gehe dann, wenn es möglich ist, weg. Ich habe mich schon mal auf der Toilette eines Tagungszentrums bis zu den Ellenbogen gründlich gewaschen und die ganze Zeit die Tür beobachtet, damit mich keiner dabei sieht.

Ist der Unterarm-Streichler eine vorwiegend professionelle Erscheinung, die einem im Wirtschafts- und Verbandswesen öfter begegnet, ist der An-den-Haaren-Zieher eher privater und bisweilen familiärer Natur. Gegen ihn ist kein Kraut gewachsen. Gern verbindet der An-den-Haaren-Zieher seine frisurzerstörende Tätigkeit mit der Versicherung, er kenne einen schon soooo lange, dass man selbst sich an den Moment der Bekanntschaft gar nicht mehr erinnern könne. Erinnern kann man sich aber ganz genau, dass man ihn schon als Kind nicht so sonderlich schätzte.

Immerhin: Die zwangsküssenden barttragenden Tanten meiner Kindheit hat es dahingerafft in den letzten Jahrzehnten. Die Autofahrten zu dritt auf der Rückbank mit schenkeldrückenden pickligen Buben gehören gleichfalls der fernen Vergangenheit an, und so bleibt mir dies zumindest erspart. Die Gelegenheiten zum geselligen Körperkonakt jedoch bleiben zahlreich, und neidvoll, oh liebe Leserinnen und Leser, beobachte ich bisweilen Sie, die Experten, die fein austariert, genau bemessen am Grad der empfehlenswerten Vertrautheit mit andere Leuten, die Wellen der Welt durchpflügen und mich freundlich begrüßen mit der mitleidigen Geste des Profis gegenüber dem blutigen Laien.

18 Gedanken zu „Die Kunst der Berührung

  1. Liebe Madame Modeste,

    dachte ich mir doch, dass es nicht nur an meinen Neurosen liegt, dass wir in vier Jahren keinen Modus der Begrüßung und der Verabschiedung gefunden haben. Es bleibt spannend.

  2. interessant,

    die eigenen einstigen probleme gespiegelt zu bekommen und gleichzeitig erkennen zu dürfen, dass das alter einiges hiervon hinweg bläst. praktisch unbemerkt. aber irgendwann muss es geschehen sein.
    inzwischen entscheide ich selbst, wem ich mich in welcher vertrautheit nähere und wem nicht. ich habe auch keinerlei scheu, mich abzuwenden und körperteile brüsk weg zu ziehen, wenn ich mich unwohl dabei fühle.

    gleichwohl erkenne ich auch, dass viele ein defizit an nähe haben, körperlich und verbal. eine junge kollegin vor einiger zeit, die ich – weil sie vom anderen apparat aus telefonierte – versehentlich „hasilein“ nannte, war gekränkt, als sie erkennen musste, dass nicht sie gemeint war.
    vielleicht steckt in vielen der wunsch, für irgendwen ein hasilein zu sein? 😉

  3. Sie sind nicht allein. Zu den „Schulterklopfern“: Sind nicht nur laut, sondern haben auch eine Vorliebe für Pullover und Hosen in lauten Farben und überdimensionierte Chronographen. Arbeiten, so wohnhaft in Berlin, gerne bei Verlagen, die laute „Zeitungen“ herausbringen. Begrüßung (dröhnend): „XY, Alte Pappsau!/ Alte Säge! etc.“ (Man kennt sich aus Verbindung xy in Göttingen/Passau o.ä. Kaff). Ist für dezente Hinweise der Ablehnung völlig unempfänglich.

  4. „richtig“ problematisch wird das ab dem punkt, ab dem man sich dem öffentlicheren rampenlicht nähert, und sei es nur lokal. ich habe das jahrelang im feldversuch geübt, aber ich bin da nach wie vor völlig autistischer novize. vor allem habe ich tage, da fällt mir kaum der name meiner eltern ein. schön, wenn man so einen tag bei irgendeinem öffentlichen ereignis erwischt wo einem massenhaft gesellschaftlich-beruflich verbundene menschen über den weg laufen, die man mal alle halbe jahre sieht … ööööhm.

    einzige ausnahme: frauen die spürbar älter sind als ich (also so ab 10 jahre+). wahrscheinlich bin ich da ungehemmter weil ich denke – „da kommt ja keiner der beteiligten auf die ideee …“. ist natürlich kwatsch, aber in meinem kopf läuft das wohl so ab. im gegensatz dazu: mit diesem lautjovialen männerpack kann ich weder beruflich – noch bei der begrüßung.

  5. Wer mich umarmt, bestimme ich alleine. Ein ehrlicher Händedruck kann eine herzlichere Geste sein als jede Umarmung !
    Schulterklopfer gibt es in meinem Umfeld nicht, fällt mir grad auf …
    Unterarmstreichler ebenfalls nicht, und sollte jemand dies unerwünscht praktizieren, müsste er mit der Landung des Inhaltes eines Wasser-/Wein-/Sektglases in seinem Gesicht rechnen – ohne Rücksicht auf allfällige berufliche Konsequenzen.
    Ein erwachsener An-den-Haaren-Zieher müsste mit nichts weniger als einer saftigen Ohrfeige zurechtkommen.

  6. Ich mag es zu berühren & berührt zu werden, wobei das keine Genderfrage ist, sondern beide Geschlechter berührt. Allerdings sollte die haptische Kontaktaufnahme zumindest gegenseitige Sympathie voraussetzen, sonst wird sie leicht zum Übergriff!

  7. Ich bin selbst meist eher abwartend-distanziert bei Menschen, die mir (noch) nicht wirklich nahestehen und wundere mich eher über Gesellen, die all ihren Mitmenschen immer gleich „herzlich“ um den Hals fallen, gleichgültig, ob sie vorher noch hämisch sprachen oder sie wirklich mögen. In mancher Branche ist das sicher auch ein Handwerkszeug, man kann das bestimmt lernen. Bloß, wozu? Am Ende färbt es doch auf das Private ab. Mir ist auch das vielfach beklagte Blog-Geszieze äußerst angenehm, auch wenn es meist nur eine spielerische Distanz darstellt. Und die Tanten, die mir mit ihrem mit Spucke befeuchtetem Taschentuch die Stirne wischten… Gott, hab sie selig.

  8. Bitte nimm es nicht so tragisch. Du bist nicht allein 🙂 Zum Beispiel bin ich daran zu erkennen, dass ich gerne mal der versammelten Manchaft den Rücken zukehre, weil mich die ganze Kommunikation überfordert.

    An der Stelle fällt mir ein, dass ich unbedingt wieder mal zurück nach Nordfriesland muss, wo der physische Raum zwischen Kommunizierenden generell größer ist als im Rest von Deutschland (kein Platz für Antatschen :-)), und wo ein kräftiger Händedruck in Verbindung mit einem „Moin“ schon alles an notwendigem Austausch beinhalten kann.

  9. REPLY:
    Ich bin Juristin, so was begegnet mir öfter und lässt mich jedesmal fassungslos zurück mit der nie zufriedenstellend beantworteten Frage „wie kann man so sein?“.

  10. REPLY:
    Das ist mir noch nie aufgefallen, aber es stimmt. Erstaunlich; ich werde darüber nachdenken. Ich versuche mich gerade zu erinnern, wie ich eigentlich andere Freunde begrüße, aber so recht mag es mir nicht einfallen. Immer unterschiedlich, meine ich, aber das ist sicherlich sonderbar genug.

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