„So war ich auch mal 25.“, sage ich zum W., als wir vorm Kino stehen und zähle für mich die Jahre, die vergangen sind, seit wir so waren wie Marie und Francis aus Montreal und die Leute, mit denen Xavier Dolan sie umgibt.
So sahen auch unsere Parties aus, erinnere ich mich an ein fröhliches Chaos aus vielen Flaschen, Aschenbechern, einer wüsten Mischung aus sehr hübschen und sehr klugen Menschen, gelallten Gesprächen über Filme, Bücher und Bands und sehr, sehr lauter Musik. Überhaupt war das Setting recht ähnlich und auch die Manierismen von Marie und Francis pflegten auch manche meiner Freunde, die immer auf der Jagd waren nach einem eleganten, alten, verschlissenen Sessel aus Chintz, über deren Betten vergoldete Geweihe hingen und die sich anzogen wie Tote, deren Leben dramatischer und bedeutungsvoller erschien als das von uns Mittelstandskindern in den satten Jahren der Republik, in der wir erst Schulkinder waren und dann Studenten. Ich kann mich noch an die stilisierte, romantisch ausschweifende Handschrift des T. erinnern, an den Siegelring des Großvaters vom J.2, den dieser in der Oberstufe wochenlang trug, bis er ihn irgendwo an einem bretonischen Strand verlor. Die ganze Nacht haben wir gesucht.
Auch so verliebt wie Marie und Francis waren wir ständig. Es war das schiere Glück, nie in denselben Mann verliebt zu sein wie andere Freundinnen oder Freunde, denn auch wir hätten uns gehasst, in aller Freundschaft natürlich, um den Geliebten um die Wette geworben, uns gedemütigt, weil das zur Liebe dazugehört, und auch bei uns wäre es nie etwas geworden, weil ein glücklicher Ausgang im Drehbuch gar nicht vorgesehen war. Auch in Dolans Film kann man sich nicht einmal vorstellen, dass Marie oder Francis glücklich würde mit Nicolas, so einem blonden, zarten Epheben, der zuerst ein bißchen naiv erscheint, als würde er die Liebe gar nicht bemerken, und dann wie ein sehr, sehr guter Spieler, den es freut, wenn die Saat aus kleinen Aufmerksamkeiten und langen Blicken keimt und bunte, ausschweifende Blüten trägt, und der die Zeichen, die Marie und Francis begierig lesen, missdeuten, verrätseln und aufladen mit Drama und Spannung auf den erlösenden Schluss, bewusst setzt wie ein Maler bunten Pinselstriche auf eine Leinwand. Am Ende entzieht er sich beiden.
Traurig oder einsam wirken Marie und Francis trotzdem nicht. Es haut nicht hin mit der Liebe, Francis (gespielt von Dolan selbst) fügt einen weiteren Strich zu seiner Dokumentation amourösen Scheiterns an der Badezimmerwand dazu. S*x gibt es nur mit Freunden, mit denen es nur um Haut und nie um Herzen geht, doch gleichwohl wirkt der Film, der mit Bildern, Zitaten und Reminiszenzen spielt, heiter und nie so ernst, als sei die Liebe etwas, an dem man stirbt. Vielleicht ist es das Licht, denn der Film (und die Liebe) zeichnen einen Sommer nach bis im Herbst die Blätter fallen. Vielleicht sind es die Einblendungen von anderen Personen, die über Fehlschläge in der Liebe sprechen und das Geschehen so relativieren, denn das, was jedem zustößt, kann nicht außerordentlich sein. Vielleicht ist es auch die Freundschaft zwischen Marie und Francis, vielleicht aber ist es auch die Jugend aller Protagonisten, denn damals – so erinnere ich mich auf dem Weg durch den Abend die Torstraße hoch – war nichts so ernst, nichts wirklich dramatisch, alles nur Pose und Vorspiel und Spiel überhaupt.
„Es war schön, 25 zu sein.“, sage ich zum W. und verabschiede mich und biege ab an der Trust Bar vorbei durch die sich langsam erwärmende Nacht.
Les amours imaginaires (Herzensbrecher)
Canada, 2010
Ich hoffe inständig, dass das ‚Essen auf Rädern‘ noch ein Weilchen auf sich warten lässt, Frau Modeste!
Es ist schöner, fünfundvierzig zu sein. Man sieht die wesentlichen Dinge schärfer, und nicht etwa, weil man durch eine Brille schaut. Diese Blicke zurück filtern immer die sehr langweiligen Wartezeiten zwischen diesen vermeintlich beinah lückenlos aneinandergereihten Augenblicken voller Versprechen, Hoffnung und aufgeregtem Vorgefühl. Gut, dass man sich so darin irrt. Wenn man seine Sehnsucht, sein Herz und seinen Verstand füttert und pflegt, gibt es ja etwas zu ernten, wenn die Jahre ins Land gehen. Viel zu ernten. Auch Verluste, ja, aber – das ist ein Gefühl der Liebe. Wenn Verlust egal wäre, hätte man nichts von Bedeutung verloren. Ein Zeichen inneren Reichtums. Und selbst im Verlust bewahrt sich die Erinnerung an das reiche Gefühl. So wie diese Augenblicke, als man fünfundzwanzig war.
REPLY:
Ach, das ist es gar nicht. Ich fühle mich nicht alt. Nur jung in dieser exaltierten, letztlich sorglosen Variante war ich mal und bin es nicht mehr.
REPLY:
Ja, das mag sein. Die Erinnerung verzerrt ja viel. Ich habe mich auch viel gelangweilt, aber Überraschungen gab es mehr, als meine Welt noch nicht so fest gefügt war wie heute.
… ja, so ist das mit dem lauwarmen Leben:
wohltemperierte Freude, wohltemperierter Schmerz,
akurat eingeschenkt.
Die Existenz als Kurpackung – aus zweiter Hand,
doch immerhin Logenplatz.