Religiöser Anfall

In aller Gottlosigkeit spaziert man also durch Berlin, und nicht einmal für’s Finanzamt in der Pappelallee gehört man jenem Personenkreis an, dessen Himmel angefüllt ist, und dessen Orkus nicht leer. Keine Hölle reißt über mir des Nachts ihren Rachen auf, keine Heiligen reichen hilfreiche Hände in meinen Tag.

Nur manchmal, nachts vielleicht oder am frühen Morgen, in der Reinheit des leuchtenden, unberührten Tages morgens um 5.00, kommt es mich an, dass die Welt vielleicht runder wäre, fleckenloser vielleicht ihr Spiegelbild, wäre da noch etwas, jemand, der die scharfen, rissigen Kanten der Welt glätten könnte mit einem Sinn, den man nicht zu verstehen braucht. Aber der Himmel bleibt mir leer, und die Zeiten fließen durch die Straßen der Stadt, als seien wir der Welt gleichgültig, weil wir zu schnell vergehen, als dass die Erde sich unseren Schritt merken würde, und der Wind unsere Worte zu rasch verweht.

Aber mag es der Sommer sein, vielleicht das Licht über der Rummelsburger Bucht, ein Abend, an dem sogar die Spree glänzt, als sei sie eines großen Gottes Schöpfung am ersten Tag, noch unberührt von allen trüben Blicken: Angefüllt und müde von Lärm und stetem Betrieb, getrieben über’s das Zifferblatt mit hastigen Schlägen, bleibt die Stunde auf einmal stehen und lächelt mich an, und auf der Oberbaumbrücke, mitten in Berlin, durchdringt mich die rätselhafte Ebenmäßigkeit, die Größe, das Unvorstellbare all dessen, was mich umgibt, alle Ordnungen vom Kleinsten bis in jene Sphären, die ich nicht zu denken vermag, und ich möchte mich auf die Erde legen und demütig mein Gesicht im Gras verbergen und zu Ehren einer Gottheit, die zu erhaben ist, über mich zu lachen, lauter Verse in die Erde schreiben, wie groß und staunenswert die Welt geworden ist und wie erbärmlich jede Ironie.

Aber links von mir schieben sich die Wagen hupend an der Ampel vorbei, ein paar Jogger überholen mich, Kinder fahren auf Fahrrädern Richtung Kreuzberg, und da ist kein Gras und keine Erde, die Spree ist eine zu schmutzige Göttin, um zu ihr zu beten, und am Schlesischen Tor steht kein leuchtender Stier, der mich mit seiner Macht zu Boden würfe und anriefe Talitha Kumi, und so steige ich wiederum gottlos in die Tram und fahre nach Hause.

14 Gedanken zu „Religiöser Anfall

  1. PROFANE EPIPHANIE

    „Mädchen, ich sage Dir…“

    nicht allein aus stilistischen Gründen im Duzduktus:

    Du bist mit der Macht des Wortes gesegnet…!

    Die Welt verpantareiert…
    Kein Zweig, kein Halt kein Schoß.
    Das Glück? Gebenedeit gebiert
    es in Erinnerung bloß.
    Erinnern? Sich entäußern
    des Ballasts, der nur trügt.
    Das Wort? Fast will es scheinen,
    dass es sich selbst genügt.

    …und das tut es bei Ihnen, zwar anfallartig, aber wie denn sonst?

  2. Die Grösse des Augenblicks, die Tiefe einer Seele, die Wucht des Seins-an-sich, all das genügt um der Wahrheit näher zu sein als man das jemals mit dem Gott aus dem Religionsunterricht oder der Erziehung könnte. Nur… Spüren muss man’s wollen und immer wieder danach suchen. Es ist immer da.

  3. Kein Grund,

    hier sentimental zu werden: solche Anfälle kommen vor. Es ist einem dann ein wenig unangenehm, aber Gottseidank kommt irgendwann die Tram, man steigt an und läßt sich elektrisch weiterbefördern.

    Die Griechen hatten das Problem schon, aber von der anderen Seite her gesehen: sie kannten hunderte von Göttern, aber sie waren sich offensichtlich nie ganz sicher, nicht doch einen übersehen zu haben. Und wer hat schon Lust, in einer Unterabteilung für Blasphemiker im Hades rumturnen zu müssen, nur weil man das worshipping ein wenig zu eng gesehen hat? Deswegen aber mal ganz schnell einen Altar „EINEM UNBEKANNTEN GOTT“ aufgebaut – mitten in Athen. Da kann dann keiner mehr maulen, und in der Ignorantenabteilung des Hades tritt man sich nicht so auf die Füße.

    Paulus gibt darauf eine einfache Antwort – nachzulesen unter http://alt.bibelwerk.de/bibel/nt/apos017.htm#a22 (Apg 17, 23).

  4. So rein ästhetisch, Herr Wallhalladada, hätte ich ja mehr übrig für Wachskerzen und Prozessionen, in Stein gehauene Heiligenbilder und Reliquien, für die ich ja eine besondere Schwäche habe. Mit Religion hat das aber für mein Empfinden nicht viel zu tun, die äußert sich nur in Momenten, in Blitzen, die einschlagen und vorübergehen. Schade eigentlich. Und vielleicht übertönt das Rauschen der Tage die Erkenntnis, dass etwas immer vorhanden sei, Herr Mayer. Für mich ist es selten spürbar, so selten, dass ich die seltenen Momente flugs ins Blog schreiben muss, um sie aufzubewahren.

    Und mein Religionsunterricht war eigentlich ganz gut, Herr Sokrates, und befähigt mich immerhin, zu erkennen, welchen Heiligen ich gerade vor mir habe, was in der Bibel steht, und was man davon zu halten hat. Meine Bibelexegese war, obwohl schon damals konfessionslos, die klassenbeste. Ein seltenes Erlebnis in meiner Schullaufbahn.

    Und ist, Herr Reuter, nicht – vielleicht glücklicherweise – jeder Gott unbekannt?

  5. REPLY:
    Glücklicherweise –

    Frau Modeste – das kann man vielleicht nicht sagen, wenn Gott – zumindest der christliche – unbekannt bleibt, denn in letzter Konsequenz scheint das soviel Angst und Unbehagen zu erzeugen, dass die Menschen anfangen, Unsinn zu verzapfen – zum Beispiel Altäre für einen unbekannten Gott aufzubauen. Oder Angst vor der Hölle zu entwickeln. Oder sich Fragen danach erst gar nicht zu gestatten.
    Es gibt Denkansätze, die beweisen, dass man auch ohne Gott ganz gut oder sogar sehr gut durchs Leben kommt. Ich traue ihnen nicht.

  6. Ich fürchte,

    werter Herr Reuter, dass Ihr Misstrauen weder bekannte (sic), noch unbekannte Gottheiten ernsthaft anficht…!

    Was ich mit einer forcierten Empathie zu verstehen glauben möchte, ist die Leugnung des potentiellen Plurals „Gottheiten“.., ich tue dies allerdings aus rein fadenscheinigen Gründen…, welchen singulären haben Sie auf Ihrer URL anzubieten? Sie sehen mich zu fast allem bereit…!

  7. Sie haben Glück, Frau Modeste …

    … dass es keinen Gott gibt. Die doppelte Sünde zweier falscher Apostrophe würde er Ihnen nämlich um die Ohren hauen. Und zwar zu Recht! 😉

  8. Oh, Frau Modeste,

    mir steht es nicht an, Ihren Religionsunterricht – völlig unbekannterweise – in seiner Qualität in Zweifel zu ziehen. Meine vielleicht allzu kurze Bemerkung bezog sich auf die Äußerung von Herrn Mayer, der die Deutungen seines (?) Unterrichts den Erfahrungen eines „religiösen Anfalls“ gegenüberstellte und dabei – wenn ich es recht verstand – zu einer negativen Wertung des Unterrichts kam; vielleicht verstand ich das auch falsch.

    „Religiöse Anfälle“, wie Sie dies beschreiben, befallen uns ja vielleicht alle ab und an, zumindest viele von uns. Ein guter Unterricht – so meine ich – sollte dazu beitragen, diese Erfahrungen hochzuschätzen und in aller Freiheit Deutungshilfen an die Hand zu geben. Dass solches nicht immer gelingt, scheint in der Natur der Sache, sprich der Schule zu liegen. Bei mir waren es sowohl das personale als auch das inhaltliche Angebot der Schule, das mir die Zugänge zur Musik und Literatur eher ver- als aufschloß. So mag es anderen auch im Religionsunterricht gehen. Nicht Ihnen offenbar; und das ist schön.

    Die des weiteren durch Herrn Reuter in die Diskussion geworfene Frage, inwieweit uns (der) Gott bzw. die Götter (?) bekannt oder unbekannt sind, ist natürlich eine höchst interessante und seit mindestens 2500 Jahren diskutierte Frage. Ich meine: Wenn viele Menschen nicht auf der einen Seite davon ausgingen, dass (der?) Gott uns grundsätzlich unbekannt – weil der Welt jenseitig – sei, würden zumindest die sog. monotheistischen Religionen nicht von eigens ergehenden „Offenbarungen“ dieses Gottes sprechen. Andererseits macht gerade die Rede von solchen „Offenbarungen“, die es ja nicht nur in den etablierten Religionen gibt, deutlich, dass wir Menschen – zumindest teilweise – doch davon ausgehen, einen irgendwie gearteten Zugang und dann vielleicht sogar eine entsprechende Kenntnis von diesem oder jenem Gott bzw. Göttlichem zu haben. Oh, ist das spannend!

  9. REPLY:
    Fechten,

    lieber Herr Walhalladada, tun Götter nicht, vor allem nicht mit uns.
    Ich würde es mal so zu formulieren wagen: wir haben die Freiheit, unsere Beziehung zu Gott zu gestalten wie wir wollen – aber wir können ihn in seiner Haltung uns gegenüber in keiner Weise beeinflussen. Die Christen nehmen einen grundsätzlich liebenden Gott an – dessen Liebe zu uns wir aber durch unser Tun und Lassen absolut nicht beeinflussen können. Wir können uns benehmen, wie wir möchten – ändern tun wir nichts in Richtung von Gott zu uns. In Richtung von uns zu Gott natürlich sehr wohl. Das sehe ich so ähnlich wie mit dem Gebet: das Gebet beeinflußt nicht den Lauf der Dinge, es beeinflußt unsere Einstellung dazu.
    Also, was Frau Modestes Anfall von Religiosität doch für erstaunliche Wirkungen hat. Jetzt fangen die hier im Blog an über Gott zu diskutieren. Wer hätte das gedacht.

  10. REPLY:
    Ein falscher,

    gefräßiger Knorpelfisch, ein einziger, und der ist entschuldbar, denn der nachgestellte Artikel gestattet es jedem, sich das ihm Gefälligere rauszusuchen. Bei „Werner’s Auto’s An- und Verkauf“ würde ich Ihre Kritik gelten lassen.

  11. REPLY:
    Des Teufels Küche

    haben Sie ins Spiel gebracht, Herr Tom,- auf ihrer Seite – und ich habe Ihnen dortselbst geantwortet, weil mir schien , dieses Mißverständnis sei dort auszutragen und jetzt nötigen Sie mich, mich mit unabsehbaren Folgen doppelt zu moppeln.

    Ich zitiere für mein Leben gern, aber nicht mich selbst!

    „…Darf man eintreten, Platz nehmen, fragen, wie man wieder rauskommt…? Nämlich aus Ihrer Vorstellung von des Teufels Küche, die sich mit Ihrem Mißtrauen (s.o.) lustvoll zu decken scheint…

    Meine Vorstellung ist eine völlig andere…:

    Die hölzerne Eckbank sieht recht einladend aus und auf dem Herd stehen – Dampf +Geruch nach zu schließen – allerlei Leckereien und vor allem riecht es verucht nach den scharfen Gewürzen der Aufklärung…!

    Da setz ich mich doch gerne dazu…:

    Ja, zum Teufel!!! Soll den das Faust’sche Gretchen umsonst gerettet sein, oder worauf wollen Sie eigentlich hinaus auf Ihrer Seite und speziell mit Ihrem Autopiloten, dem Sie das Landen und Wassern nicht so bereitwillig überlassen sollten….!

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