Als früher

Alles anders, behaupten wir und trinken noch mehr Cocktails. Die Gesprächsthemen zum Beispiel. Früher wollten immer alle etwas ganz Besonderes machen und sprachen immerzu über die Vorbereitungshandlungen für dieses Besondere, das ein Buch sein konnte, ein Film, ein ganz besonderes Unternehmen, eine Diss, die die Wissenschaft rocken würde. Inzwischen finden sich die meisten Leute nur noch ganz für sich und heimlich sehr besonders, und sprechen ansonsten mit ermüdender Penetranz über Immobilien und Kinder.

Natürlich waren auch die Parties besser. Das ist jetzt keine Nostalgie. Es versteht sich von selbst, dass es für Parties ein Problem darstellt, wenn die Gäste um zwölf losmüssen wegen des Babysitters, niemand viel trinkt, weil ja alle am Sonntagmorgen um acht aufstehen müssen, und überdies jeder ganz genau weiß, wen er heute noch küsst.

Überhaupt wird ja kaum mehr geküsst, zumindest sehe ich keine Leute mehr beim Küssen auf fremden Sofas oder beim Küssen in Bars. Fast alle Leute, die ich kenne, sind nämlich gar nie mehr verliebt. An der grundsätzlichen Beschaffenheit dieser Leute liegt das aber nicht. Dieselben Leute vor zehn Jahren, ach, was sage ich: vor fünf, fielen beständig von einer Verliebtheit in die andere, wandten sich dem X zu, während sie doch dem Y erst kürzlich eine gemeinsame Zukunft offeriert hatten, verloren ihr Herz im Supermarkt, am Flughafen, im Büro, an der Bar, sozusagen wo sie gingen und standen, und gerieten darob in Verwicklungen, die einer Rokokokomödie würdig gewesen wären.

Alles vorbei.

Ob es das jetzt war, grübele ich irgendwann später daheim, im Dunkeln im Bett. Ob sich Leute ab 35 einfach nicht mehr verlieben? Und wenn sie doch in Liebe fallen, ob dann sofort alles ganz schrecklich wird, also so finster mit Tränen, Ernst und Scheidungsvereinbarungen. Oder ob nach einer kurzen Pause der Idylle, ein paar Jahren mit ruhigem Glück und lustigen Kindern doch wieder Unruhe einzieht, dramatische Anrufe, Geheimnisse, Alibis für Freundinnen und lange Treffen in Cafés, bei denen man bespricht, was vom X zu halten sei, und ob man nicht ebenfalls glaubt, dass der Y … und alles wird wieder lustig und unernst in Himbeer und Weiß?

16 Gedanken zu „Als früher

  1. Das ist vorbei mit dem Verliebtsein nach 35. Wenn man weiß wie’s geht und Glück hat, kann man den Partner ja dann noch ein paar Jahrzehnte einfach weiter lieben, aber Küssen in der Öffentlichkeit ist dann nicht mehr so dringend.

    1. Das ist ja grässlich! Hätte mir das jemand gesagt, ich hätte es mir überlegt mit dem Alter, und wäre einfach bis heute 32. Hört sich eh viel richtiger an.

  2. Also, das mit der Küsserei auf fremden Sofas können Sie ja leicht ändern, schnappen Sie sich halt den J. und los. Dann bleibt den anderen womöglich der Mund offen stehen und sie können nicht mehr so penetrant über Immobilien oder ihre Kinder reden. Sie werden sich fragen, ob Sie beide immer noch so ineinander verliebt sind und werden vielleicht insgeheim auch etwas neidisch. Und was anderes zu reden, haben die hinterher wahrscheinlich auch. 😉

  3. Ich kenne Menschen, die sich mit über 30 noch immer lieben. Nicht wie am ersten Tag, aber auf eine andere, auch von außen als wundervoll zu sehende Art. Die äußerst sich aber nicht unbedingt in wildem Küssen in der Öffentlichkeit. 😉

    Leute ab 35 lieben sich. Aber ob sie sich noch verlieben? Reden wir in zwei Jahren nochmal drüber. Optimismus ist jedenfalls eine gute Idee, auch wenn die Wahrscheinlichkeiten miserabel verteilt sind.

  4. bin 69 und hospizhelfer, ehrenamtlich, seit einigen jahren.
    zum thema folgendes erlebnis ca. 1jahr her.
    ich besuche eine 93jährige dame, fahre sie im rollstuhl in den park des heimes.
    wir sitzen im schatten und unterhalten uns angeregt.
    da geht ein hoch betagtes paar an uns vorbei, offensichtlich in positiver grundstimmung und lächelt uns
    grüßend, glücklich zu.
    meine gesprächspartnerinn meint in einem spitzbübisch, verschwörerischem ton “ da läuft was“
    mein verdutztes gesicht lächelnd betrachtend werde ich aufgeklärt:
    Herr Richard merken sie sich eins VORBEI IST ES NIE
    dem folgte ein schallendes lachen.
    soviel zum thema

    1. naja, die qualität wird vielleicht eine andere mit der zeit (wenn man davon ausgeht, dass es irgendwann eben der stets gleiche partner ist), aber wie zärtlich man miteinander umgeht, liegt ja doch an einem selbst. meine eltern jedenfalls (die buchstäblich durch den tod getrennt wurden) küssten sich schon zum abschied, wenn er nur in den keller oder zum bäcker nebenan ging. und das war kein lapidares mitdemmundaneinandervorbeihuschen.
      und übrigens, liebe frau m., höre ich neuerdings von ihnen so anklänge von lebensmittekrise. mag sein, dass das leben mit einem kleinkind, das seine beständigkeit und auch allerhand kraft kostet, nicht der große aufreger ist. aber sie hatten doch so gute vorsätze und wussten theoretisch auch wies geht!

      immer das beste draus machen und jeden fortschritt mit freuden begrüßen.
      sollten jedoch ihre freunde die triefnasen sein, suchen sie sich neue. 😉

      1. Ach, aufregend … Mir geht es gar nicht schlecht. Tatsächlich ist F. viel weniger anstrengend als ich dachte. Nur die anderen Leute spielen irgendwie nicht mit. Entweder sind deren Kinder anstrengender als meins, oder sie werden alt.

  5. Gestern gerade stundenlang im Café gesessen und einer lieben Freundin über 40 zugehört, die Hals über Kopf verliebt ist. Fazit des Vormittags: „Ja, hört dieser ganze Irrsinn denn nie auf?“ Geküsst wurde am Nachmittag und Abend – erst die kleine Kröte, dann den großen Frosch. Muss sein. Täglich.

  6. Bin einer von zwei Menschen in zweiter Ehe und zweiter Lebenshälfte. Seit 13 Jahren verliebt. Wir küssen uns täglich. Wir finden aber öffentliche Demonstrationen unserer gegenseitig ungebrochenen Anziehungskraft nur ganz, ganz selten wichtig.

    Und ja, das ganze Thema hört NIE auf. Wie herrlich!

  7. Die Unruhe, die du beschreibst, ist ein Ausdruck der Unerfahrenheit. Sie mit Verliebt sein gleichzusetzen, ist meines Erachtens nicht sinnvoll. Mit zunehmendem Alter und zunehmender Erfahrung verändert sich die Form der Verliebtheit. Die Aufregung, das Begehren, die Bewunderung, sie alle bleiben, aber es gesellt sich auch ein überwältigendes Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Stabilität dazu, die das Ganze in einen neuen, höheren Orbit katapultieren. Ich habe die Liebe meines Lebens, die sich immer wieder aufs Neue, im intensiven Gespräch, beim Beobachten und beim Betrachten meiner Geliebten, bestätigt, erst mit 47 Jahren gefunden. Folge: Immer wiederkehrende Wellen akuter Verliebtheit und gleichzeitig tiefer, innerer Verbundenheit. Eine Art geistiger Dauerorgasmus. Zur Nachahmung empfohlen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Sie möchten einen Kommentar hinterlassen, wissen aber nicht, was sie schreiben sollen? Dann nutzen Sie den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken