Alle Beiträge von Modeste

Tagebloggen (1)

Vielleicht fährt unsere Welt gerade zur Hölle, wenn man so ins Internet schaut, aber ich sitze in meinem Büro in meergrün und weiß, schaue auf den Karpfenteich im Hinterhof und trinke eine Schale langsam erkaltenden Genmaicha.

Am alten Kempinski vorbei radele ich den Ku’damm abwärts Richtung Kreuzberg und nehme mir vor, einmal darüber zu schreiben, wie ich mein erstes Steak Tartare als Kind im Kempinski gegessen habe, und wie grandios ich den Messingwagen fand mit den vielen kleinen Schälchen mit den Zutaten und überhaupt, wie toll dieses alte Berlin war. Wie es roch, wie es aussah, und wie schade, dass nicht mehr davon übrig ist.

Höhe KaDeWe fallen ein paar Tropfen, aber schon zwei Kilometer weiter ist die Straße wieder trocken, und selbst meine Haare fühlen sich an, als hätte es nicht geregnet, ach, nie geregnet, seit April nicht mehr geregnet, und als ich am Landwehrkanal mein Rad abschließe, sehe ich zwischen den Gehwegplatten ein paar letzte Büschel vertrocknetes Gras. Die Bäume sind staubig und zittern.

Im Feedback gibt es Kantonküche, und als ich sehr schnell einige Dim Sum, ein Aperol Spritz und ein Bier getrunken habe, fühle ich mich auf einmal sehr schwer. Freund M. erzählt von seinem neuen Job, wir sind glücklich und trinken auf die Liebe, und als ich einige Stunden später von der Oranienstraße aus nach Hause fahre, ist die Nacht noch so warm, so verheißungsvoll, so vielversprechend wie eh und je.

Der vierte Tag (tddl)

Ich bin unfassbar müde. Im Lendhafen ist es erst warm, dann kühler, dann wieder wärmer, und ich trinke sehr schnell drei Kaffee, um nicht wegzudämmern.

Immerhin ärgere ich mich über Jacob Noltes Text ausreichend, um nicht einfach selig wegzuschlummern. Vermutlich sind die schiefen Bilder Absicht, und die Geschichte eines Mädchens, das in Mexiko Urlaub macht und in einem Tagebuchauszug einen Ausflug beschreibt, soll durch komplette Trivialität die Trivialität Gap Year feiernder Studenten geißeln, aber was soll mir das sagen? Dass solche Leute ein bisschen banal sind? Das wusste ich schon. Ein absichtsvoll schlechter Text kann durch seine Fehler eine andere Geschichte erzählen, aber eine solche unerzählte Story ist hier nicht einmal angedeutet.

Beim nächsten Text bin ich wach: Stefan Groetzner liest einen (nur etwas zu langen) grotesken, verspielten Text über eine Misswahl, eine Weltmaschine, ein aus bunten Klischees erfundenes, knallbuntes Österreich, und ich muss tatsächlich lachen. Ich denke an Herzmanovsky-Orlandos Tarockanien, Jandl, an das „Paradies der falschen Vögel“ von Hildesheimer, und an die Illustrationen von Paul Flora. Ach, und überhaupt Maschinen. Ich bin ein Riesenfan von Maschinen.

Dann wird es hart. Frau Özlem Özgül Dündar verleiht vier Müttern eine Stimme, die über einen Brandanschlag sprechen. Der Text ist nicht realistisch, so sprechen weder die Toten noch die Überlebende und auch nicht die Tätermutter. Es ist ein ergreifender Gesang über den Schrecken, das Sterben, die Unmöglichkeit des Weiterlebens, die Unfassbarkeit von Schuld, dabei ästhetisch bis in jede Spitze gefügt. Der bekommt einen Preis, denke ich, und dann gehe ich in die Stadt und kaufe für den J. und den F. auf dem Markt ein Geschenk.

Der letzte Text erinnert mich an ein Comic. Lennard Loß ist jung, sehr jung, so jung, dass man ihm sogar seinen etwas schnöseligen Vorstellungsfilm verzeiht, der sich anhört, als betrachte er Arbeiter wie ganz besonders aufregende Eingeborene in der Südsee. Leider ist der Text trotzdem nichts. Es geht um einen Flugzeugabsturz, die RAF, einen teuren Bleistift, einen Zahntechnikmeister, der in der SS war, ein Heimkind unter falschem Namen: Es ist, kurz gesagt, eine Kreuzung aus Life of Pi und einem Tarantinofilm über Nazis und Terroristen.

Dann gehe ich schlafen. Und schwimmen (2. Stein!). Und Essen, weil man in Klagenfurt großartig essen kann. Und trinken im Lendhafen. Und als ich schlafen gehe, hämmert irgendwo in diesem Hotel jemand dreimal ganz laut gegen die dünnen Wände.

Der dritte Tag (tddl)

Manchmal ist der Zufall ein fieser Kerl. Manchmal ist er auch eine Zahnärztin: Dass das Los Corinna Sievers mit einem pornographischen Text über eine erotomane Zahnärztin, die ihre Patienten verführt, ausgerechnet auf den Freitag morgen befördert hat, war jetzt vielleicht mehr so mittelglücklich. Vermutlich hätte ich den Text aber auch zu keiner anderen Tageszeit gemocht: Eine simple Nacherzählung einer stinknormalen Pornophantasie, mit ein, zwei Sätzen, aus denen hervorgeht, dass die weibliche Lust auch hier soziale Bestrafung erfährt. Nun gut.

Aber überlassen wir Frau Sievers ihren – hoffentlich auch noch nächste Woche – real existierenden Patienten. Die Dame ist wirklich Zahnärztin, und dass man ihr lassen: Ich glaube, sie kann nicht so besonders gut schreiben, aber mutig ist sie auf jeden Fall.

Nach einem sehr auf grobe Effekte abzielenden Text folgt ein ausgesprochen langsamer, sehr kleinteiliger Text. Ally Klein beschriebt minutiös eine Panikattacke, und auch wenn ich mir schon vorstellen kann, dass sich Panikattacken exakt so und nicht anders anfühlen, fesselt mich der Text nicht. Warum das Ich Panik bekommt, wer der titelgebende Carter ist: Mir bleibt der Kontext völlig unklar, und wenn ich ehrlich bin: Er interessiert mich auch nicht sehr.

Beim nächsten Text wird alles besser. Tanja Maljartschuk erzählt eine gut gemachte, sehr konventionelle Geschichte einer alten, dementen Frau und eines jungen illegalen Immigranten. Letzterer nutzt eine Verwechslung aus, aber – anders als die Nachbarn denken – nutzt vielleicht auch sie ihn aus, man weiß es nicht, und dass die Jury nicht auf die Frösche eingestiegen ist, die durch den Text springen, die ungeküssten, die verwandelten, die glitschigen Amphibien, ist ein bisschen schade. Das war eine gute Story, wenn auch so brav erzählt, dass sie vielleicht schon deswegen leer ausgeht, weil sie nicht das ist, weswegen wir hier sind.

Bov Bjerg steigert die gegenüber dem ersten Tag ohnehin schon deutlich gestiegene Qualität noch einmal. Eine dichte, eine fugenlose Geschichte über Vater und Sohn, familiäre Belastung, Flucht und Schicksal, Provinz, Befreiung und Liebe, die mich sofort hatte. Nach wenigen Sätzen hatte ich Angst um den Siebenjährigen, der familiär belastete Vater tat mir leid, ich habe auf jedes positive Zeichen für eine gute Wendung gewartet, und als dann keine kam, war ich traurig. Wenn der nichts gewinnt,

Zum Schluss des Tages Anselm Neft. Hui. Das ist ein Text. Vielleicht bin ich voreingenommen, wir sind befreundet, aber die Geschichte über einen Obdachlosen und sein Alter Ego, ganz fleischgewordene toxische Männlichkeit, die ihn auf eine Höllenfahrt reisst, vorbei an Glaube, symbolisiert durch einen Priester, Liebe, eine dicke Bäckerin und Hoffnung, einen Hund, bis in eine kalte Hölle, in der eine peitschende Mutter einen wieder Fünfjährigen erwartet, war so schmerzhaft, dass die Jury dem Text zumindest unmittelbar nach der Lesung nicht ganz gerecht geworden ist.

Nach einem kühlen Tag ein langer, schöner Abend und zu wenig Schlaf.

Der zweite Tag (tddl)

Irgendwo müssen sie sein: Die aufregenden Texte, die Texte, die man nach Jahren nicht vergisst. Von denen man manchmal träumt. Um es kurz zu machen: So ein Text war nicht dabei. Ich werde die Texte des heutigen Tages voraussichtlich rückstandslos vergessen.

Der Tag startete mit Raphaela Edelbauer (Text); im Nachhinein mein Favorit. Frau Edelbauers Text war, man kann es nicht anders sagen, gepflegt. Ein Ausfüllungstechniker, ein gescheiterter Akademiker, kommt in eine Stadt, die unterspült ist durch ein Bergwerk. Das Bergwerk hat eine dunkle Geschichte, Weltkrieg, Nazis, Mörder: Alles dabei. Ein paar starke Momente, wie das Schwimmbad sich plötzlich leert. Wie es im Untergrund arbeitet, wie das Es das Ich zu verschlingen droht. Die Metaphorik ist etwas aufdringlich, Edelbauer erzählt vom Untergrund wie von einem Körper, aus dem es quillt, in dem man eindringt, und den der Techniker nun erstarren lässt. Der Preis der Sicherheit ist Leblosigkeit. Das ist vermutlich sachlich zutreffend, aber keine sehr originelle Erkenntnis. Der Text ist solide gemacht, aber er erschöpft sich in der reinen Metapher. Das ist mir zu wenig. Die Bezüge zu Kafkas Schloss, zu King sind geschickt gesetzt, aber sie weisen nicht über den Text hinaus. Gleichwohl: Man traut der Autorin zu, dass ihr Text in den nächsten Kapiteln gewinnt.

Immerhin. Der nächste Text von Martina Clavadetscher (Text) hat mich fast in den auch wärmebedingten Tiefschlaf getrieben. Es geht um eine Schneiderin, Schweiz. Kleine Verhältnisse, rücksichtslose Männer, geduckt, nie gesprochen, und dann stirbt sie und erzählt auf dem Weg ins Krematorium ihre Geschichte, bis sie sich in ein Insekt verwandelt.

Nun sind Insektengeschichten heikel, weil es immer schwierig ist, mit einer Insektenverwandlung neben der einen großen Verwandlung zu bestehen. Aber so fad sollte es dann doch nicht sein. Frau Clavadetscher schafft es nicht, die ehemals schöne, nun alte und tote Louisa näherzubringen, und das hat vor allem mit Sprache zu tun. Sie spricht nicht wie eine alte, etwas schlichte Frau. Hier fehlt es handwerklich, und das schafft Distanz. Ich habe nicht eine Minute an Louisa geglaubt.

Inzwischen war die Sonne um den Lendhafen herumgewandert und es wurde wahnsinnig heiß. In meiner Klagenfurttasche – dieses Jahr aus Filz – schmolz der schokoladige Kern einer Packung Toffifee.

Nach diesem nicht sehr ärgerlichen, aber sehr langweiligen Text las Stefan Lohse. Sein Text handelt von zwei Jungen, vielleicht 20, von denen einer sich mit dem kongolesischen Befreiungskrieger Patrice Lumumba identifiziert, bis er sich von seinen Freunden sogar so nennen lässt. Der andere ist dick und schwul, der eine verliebt sich in eine Prostituierte, und beide wären gern sehr weit weg. So weit, so gut. Freundschaften und Coming of Age Geschichten kann man ja immer gut hören, aber geht man näher an die Geschichte heran, fehlt dann doch Einiges. Zum einen: Was soll die Darstellung der Geschichte des echten Lumumba? Für diese Story reicht es doch, dass es sich um einen Freiheitskämpfer handelt. Warum die Ausstaffierung der Story mit Elendsfolklore? Die Ausstellung der Accessoires der Unterschicht ist riskant. Zudem: Wozu? Dass die Familie wenig Geld hat, ließe sich auch dezenter darstellen. Interessanter die Freundschaft, aber von der erfährt man nur in Andeutungen.

Vom nächsten Text bekomme ich nicht viel mit. Ich esse sehr gutes Tatar, ich spreche über alles Mögliche, aber dann sitze ich wieder am Lendhafen, verscheuche meine Nachmittagsmüdigkeit mit viel starkem Kaffee und höre die zweite Hälfte eines Textes von Anna Stern (Text). Vielleicht liegt’s an dieser Unvollständigkeit, vielleicht am Text: Ich verstehe ihn nicht. Da liegt also eine Schwangere in Schottland im Koma, ihr Freund ist gekommen, mit dem sie wohl Streit hatte, und irgendwie spielt ein Flugzeug mit, das dort vor vielen Jahren abgestürzt ist. Natürlich schweigt die Schwangere, die liegt ja im Koma. Dafür reden die anderen Leute am Krankenbett, die Namen tragen, bei denen ich leider die ganze Zeit an Loriot denken muss, genauer gesagt: An Evelyn Hamann, wie sie als Ansagerin eine Fernsehsendung ankündigt, die in England spielt. Mir hat sich nicht mal erschlossen, was für Leute das sind, wo sie herkommen, und auch nicht, was eigentlich passiert ist. Schließlich gehen die meisten Schwangeren nie allein ins Hochland.

Ich spare mir allzu naheliegende Witze über Koma und diesen auch ziemlich langweiligen Text und trinke noch einen Kaffee. Kaffee kochen können sie hier. Dann warte ich auf den letzten Text des Tages: Joshua Groß (Text) liest eine Kurzgeschichte über einen Hipster in Miami.

Es tut mir leid, vielleicht bin ich auch für diesen Text schlicht zu alt. Groß‘ Hipster hat irgendein Stipendium, er geht zu einem Basketballspiel, er lernt ein Mädchen kennen und dann noch ein Mädchen, und während das eine Mädchen ihm drögen- und alkoholbedingt über das Hemd kotzt, kommt er dem anderen Mädchen näher und wird – das wird aber nur in einem Halbsatz erzählt – mit diesem Mädchen eine unglückliche Beziehung führen, die mit Abtreibung und Psychiatrie endet.

Ansonsten hat Groß Hipster Simon-Strauss-Probleme. Er fühlt sich ärgerlich unbedeutend und schicksalslos, er hat das Gefühl, in dieselbe biographische Falle wie seine Eltern zu tappen, er wünscht sich „Mystik und Existenzialismus“, aber alles, was er bekommt, sind kotzende Mädchen in Miami — Ich kann mir vorstellen, dass sich das für Zwanzigjährige doof anfühlt, aber ich bin mehr als doppelt so alt, und diese Probleme machen mich ungeduldig. Ich hoffe, Groß hat seinen Text als Satire angelegt, aber seien wir ehrlich: Satire, die man nicht gleich erkennt, ist vielleicht keine gute Satire.

Weil er seinen Text mit Produktnamen und Drogen ausstaffiert, freut sich die Jury. Ich freue mich nicht. Ich bin mit Drogen- und Markennamen eigentlich seit den Neunzigern durch. Wenn ich das nochmal lesen will, lese ich Bret Easton Ellis „Unter Null“, der den Horror Vacui an der Schwelle zum Erwachsensein so gut beschrieben hat, dass es eigentlich niemand mehr machen muss. Ich finde es eigentlich selbstverständlich, selbstverständlicher als die Jury offenbar, dass ein Autor nicht von einem „Kurznachrichtendienst“ spricht, sondern von WhatsApp, und nicht von einem elektronisch gestützten Bezahlsystem, sondern von PayPal. So reden, leben und denken Leute nun einmal, und auf dem Weg zurück vom ORF-Theater zum Hotel sehne ich mich nach Sensationen, nach Klarheit, Härte der Sprache, nach kristallinen Abgründen, den schwarzen Locken der Sprache, Spiel und Exzess.

Aber schauen wir, was der morgige Tag so bringt.

Der erste Abend (tddl)

Dieses Jahr nimmt mich mit. Diese plötzlich aus dem heiteren Himmel des boomenden Landes hereinbrechende Breitschaft, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gegen Härte und böse, gehässige Worte auszutauschen. Sorgfältig seine Worte zu wägen, dass sie bloß nicht zu großzügig daherkommen, weil man den Wähler, den Abonnenten, den Nachbarn bloß nicht verärgern will, den man sich böse, neidisch und engherzig vorstellen muss: Einen dumpfen Kerl, dem es nichts ausmacht, dass jeden Tag im Mittelmeer Menschen ertrinken, die nicht ertrinken müssten.

Ich will weg von dieser brodelnden Bösartigkeit, vier Tage zurück in ein anderes Land. Wisst ihr noch, denke ich, vor fünf Jahren. Ach, vor zwei. Als wir alle dachten, dieser Boden unter unseren Füßen sei fest. Ich will aber über Bücher sprechen, über Innenwelten, über schöne Worte, über Dramen, die unblutig enden. Keine toten Kinder am Strand.

Aber dann geht es doch wieder um die anderen und auf dem Weg zur Theke höre ich fremde Leute über die Barbaren sprechen, die an den Toren rütteln, und als Feridun Zaimoglu gegen die Bösen predigt und der Regen vorm ORF-Theater fällt, wünsche ich mir einen Zauberspruch, der uns alle von diesem Jahr erlöst.

Ich wünschte ich würde mich für Fußball interessieren

Ich sage nur: Neunzig. Neunzig Minuten. Ich kann nicht einmal einen einstündigen Podcast am Stück hören, ohne mehrfach zu unterbrechen, gleichzeitig abzuwaschen, mir eine Haarkur in die Haare zu schmieren, unruhig durch die Wohnung zu tigern, und mir eine vernünftige Software für die Transkribierung zu wünschen. Dabei höre ich natürlich sowieso nur Podcasts über Themen und von Leuten, die mich richtig interessieren. Oder sehr lange Bücher. Konnte ich früher sehr gut, aber heute schaue ich alle hundert Seiten mal nach, ob das Internet noch steht. Dabei interessiert mich alles, was in dem Buch steht, total, sonst hätte ich das Buch ja gar nicht gekauft.

Bei Büchern und Podcasts erwartet aber immerhin niemand gebannte Aufmerksamkeit. Aber haben Sie schon mal an einem öffentlichen Ort, an dem Leute Fußball gucken, alle paar Minuten in ihr Handy geschaut? Und wenn ja: Wieso verwenden eigentlich nur so wenige Leute bei Twitter Hashtags, die man muten kann? Ich erwarte doch auch nicht, dass sich jeder fürs Bachmannlesen interessiert, wieso gilt man schon als Nerd, wenn es einem von Herzen egal ist, ob Deutschland, Togo oder Luxemburg Fußballweltmeister wird? Und warum gibt es eigentlich derzeit keinerlei gesellschaftliches Event, bei dem es keinen Fußball gibt? Wobei: Wenn Leute nicht über Fußball sprechen, sprechen sie über Politik, da muss man auch schrecklich aufpassen, wo man hingerät, Langeweile ist ja immer noch besser als Ärger.

Nun schwimme ich eigentlich nicht so gern gegen den Strom. Es gibt Leute, die haben ein oppositionelles Temperament, die fühlen sich immer nur wohl, wenn sie etwas anderes meinen als jeder sonst. Das trifft auf mich überhaupt nicht zu. Ich mag ziemlich viele Leute nicht, weil ich die laut oder stumpf oder bösartig finde. Oder weil sie schlecht riechen. Aber  generell falle ich nicht gern so total aus dem Rahmen. Um so unangenehmer, wenn der Rahmen auf einmal wochenlang nur so fußballförmig daherkommt. Gestern zum Beispiel war ich Fußballgucken zu viert, es gab Bier in einem Biergarten, alle waren total gespannt, Niedergeschlagenheit, Jubel, in der Luft hingen dichte Schwaden von Emotion, und ich starte abwechselnd auf die Blätter (was für Bäume sind das?), die Fenster (das entspricht nicht dem aktuellen Effizienzstandard!) und bedauerte, dass ich mich nicht mit mehr Bratwurst ablenken konnte, weil ich schon gegessen hatte.

Heute morgen habe ich gelesen, die Deutschen würden vielleicht schon wieder Weltmeister. Ich kann das nicht gutheißen. Die nächsten Wochen soll das immer so weitergehen? Will mich denn niemand einladen und es gibt keinen Fußball? Spricht hier eigentlich noch jemand weder Fußball noch über Politik? Ich bin auch mit Partypatriotismus durch, ich denke bei deutschen Fahnen inzwischen nicht mehr tanzende Fans, sondern an Pegida. Ich will mich nicht so fürchterlich konzentrieren müssen, damit niemand merkt, dass ich nicht richtig zuhöre. Oh mein Gott: Ich wünschte, ich würde mich für Fußball interessieren.

Die Zauberer, der F. und ich

Ich wusste gar nicht, dass du dich auch für Zauberer interessierst, schwenkt ein begeisterter F. mein neues Buch durch die Küche. Zeit der Zauberer steht da weiß vor blauem Himmel, und der neugierige F. hat es von meinem Nachttisch geklaubt. Klaro, sage ich, strecke die Arme aus und F. samt Buch sitzen auf meinem Schoß. Der F. ist in den letzten Monaten wahnsinnig gewachsen und trägt seit kurzem Größe 122. Wenn er auf meinem Schoß sitzt, berühren seine Füße den Boden.

„Gibt es Bilder?“, fragt mich der F., und ich fange an, zu blättern. „Der sieht ja ganz normal aus.“, sagt der F.  und schaut Walter Benjamin an. Knietief steht seine Enttäuschung auf den Dielen: Sogar die Zauberer, die seine Mutter mag, sehen langweilig aus und tragen nicht mal Hüte.

„Er war ein besonderer Zauberer, weißt du.“, streiche ich dem F. den schon wieder ein klein bisschen zu langen Pony aus der Stirn. Dass er aus Berlin stammte, erzähle ich ihm. Dass er über Kunst und die damals noch recht neue Fotografie geschrieben hat, über Gott und seine Kindheit als kleiner Junge in einem Berlin, das einerseits ganz anders war als das des F., aber in gewisser Weise auch wiederum gar nicht. Dass er gestorben ist, als er vor Hitler weglief. Vor Hitler wegzulaufen kennt der F. schon, der in einer Stadt voller Toter groß wird, in der die Fassaden manchmal noch Einschusslöcher haben und in jeder Ecke Geschichten kauern und auf den warten, der sie hören will.

Dass ich die Zaubersprüche von Martin Heidegger nie verstanden habe, der ein anderer Zauberer ist, von dem das Buch handelt, beichte ich dem F., der sich noch nicht vorstellen kann, dass seine allwissenden Eltern für Bücher zu dumm sein können. Dass ich von Cassirer, obwohl der F. selbst sehr, sehr, sehr entfernt mit ihm verwandt ist, gar nichts gelesen habe, weil ich den Neukantianismus zu langweilig finde, um mich länger damit zu beschäftigen, erzähle ich ihm und dann google ich für den F. erst einmal Kant selbst. Der Zauberer sieht mehr aus wie ein Zauberer, sagt F., dessen Zaubererbild maßgeblich von dem großen und bösen Zauberer Petrosilius Zwackelmann geprägt sein dürfte. Kant findet er aber gut, weil er es gut findet, wenn Menschen sehr vernünftig sind, weil sie dann niemanden verletzen und auch nicht grundlos herumschreien. Der F. hat nämlich eine handfeste Abneigung gegen Krach.

Wittgenstein habe ich auch nicht verstanden, sage ich dem F., der mich inzwischen vermutlich für einen geistigen Totalausfall hält, und versuche ihm zu erklären, dass nicht nur das, was man machen soll, der Sinn dieser ganz besonderen Zauberei darstellt, sondern dass es auch darum geht, zu verstehen, was die Welt ist, was Sprache ist, was Begriffe sind und ob sie etwas zu tun haben mit dem, wofür sie stehen, und der F. hört mir aufmerksam zu. Ob das Buch auch Zaubersprüche enthält, fragt er mich, und dann gehe ich mit ihm nach nebenan, dort, wo unsere Bücher stehen, und lese ihm ein paar Sätze aus dem TLP vor.

„Es ändert sich nichts.“, sagt der F., schaut sich um und hebt die Hände mit den Handflächen nach oben bis auf Brusthöhe an wie sein Großvater es manchmal tut, aber ich nehme ihn auf meinen Arm und lege meine Wange an sein weiches, kühles Gesicht und flüstere ihm zu: Das stimmt nicht. Es ändert sich alles. Alles. Alles.

Geflügel

Ich kannte sie damals nur aus der Schule. Sie war anders als wir. Sie hatte bunte Glas- und Holzperlenketten um den Hals. Sie trug immer ungebügelte, bunte Kleider und Blusen. Ihre Mutter hatte auffälligen Silberschmuck um Hals und Arme, den sie aus Nordafrika mitgebracht hatte, wo sie als Lehrerin gearbeitet hatte. Die meisten fanden sie ein bisschen verrückt, aber niemand fand sie nicht schön.

Einen Vater gab es nicht, das war selten damals. Es mag an der Vaterlosigkeit gelegen haben, aber aus irgendeinem Grunde lud niemand Mutter und Tochter ein. Sie waren meistens für sich, ab und zu kamen Autos mit fremden Kennzeichen zu Besuch.

Sie hatte einen besonders schönen Namen, um den ich sie ab und zu beneidete. Sie war weder eine besonders gute, noch besonders schlechte Schülerin. Sie war kein Teil der Klassengemeinschaft, aber wohl weniger, weil sie nicht wohlgelitten gewesen wäre, sondern weil sie kein Interesse hatte an uns. Wobei, nun, da ich das schreibe, bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich habe mich auch nicht um sie bemüht. Ich weiß, dass sie ebenso gern las wie ich.

Das Geld für ihr Huhn hatte ihr Vater ihr geschickt, der niemals kam, aber mit dem sie jedes Jahr einmal in Urlaub fuhr. Ob er wusste, was sie vorhatte? Sie hatte Hühner ja immer gemocht, sie hatte sogar ein großes Foto von einem Huhn an ihrer Zimmertür. Das Bild stammte aus Mexiko. Das Huhn, das sie kaufte, stammte einfach aus einem der Dörfer in der Umgebung. Er war schon klar, dass ihre Mutter kein Huhn halten wollte, unter anderem deswegen, weil sie als eine von wenigen Eltern kein Haus hatte und damit auch keinen Garten, sondern eine Wohnung, die sich für die Hühnerhaltung erkennbar nicht eignete.

Sie hatte das Huhn deswegen im Gartenhaus der Eltern einer Freundin versteckt. Sie hatte es über Tage mit Vogelfutter gefüttert. Es gab sogar ein erstes Ei. Wie die Sache dann aufgekommen war, weiß ich allerdings nicht. Ich weiß nur, dass die Mutter das Huhn in ein großes Tuch gewickelt dem Verkäufer zurückbrachte. Ein anderes Haustier hat sie nicht mehr bekommen.

Sie hat eine Naturwissenschaft studiert, später, habe ich gehört. Sie kam nie zu unseren Ehemaligentreffen und hat, glaube ich, zu niemandem mehr Kontakt. Sie war ein paar Jahre im Ausland und hat für einen Fonds gearbeitet. Ein Freund, der lange Unternehmensberater war, traf sie ein paar Jahren einmal am Flughafen. Sie hatte ein graues Kostüm an und schwarze Schuhe, aber in den Ohren hing ihr bunter, orientalischer Schmuck. Er hatte sich gefreut, dass zumindest bei einer von uns noch etwas von uns übrig war.

Sie sei jetzt Lehrerin, höre ich nun vor einigen Tagen. Man hatte Quereinsteiger gesucht. Sie würde jetzt Mathematik und Physik unterrichten. Sie hätte sich in einem kleinen Dorf im menschenleeren Osten ein altes Haus gekauft mit einem schönen, wilden Garten. Eine grüne Wasserpumpe. Ein Apfelbaum, Lavendel, Blattsalat voller Schnecken, Rittersporn und Hagebutte. In ihrem Garten habe sie einen kleinen Stall gebaut mit einem grünen Dach. Und Hühner hätte sie jetzt, prächtige, weiße und braune Hühner.

Vielleicht rufe ich sie einmal an.

Mainzelmann

Am dritten Tag kommt der F. mit. Er läuft durch den Hof und gibt ziemlich vielen Leuten die Hand. Er bekommt Seifenblasen bei der Sparkasse und der Post, aber bevor ich ihn an Stage 1 vorbei zum Roboter bringen kann, gehen wir beim ZDF vorbei. Das ZDF hat nämlich auch einen Stand auf der re:publica.

„Guck mal, ein Mainzelmännchen!“, zeige ich auf eine riesige Figur, mehr Mainzelmann als Mainzelmännchen, und F. freut sich sehr. „Ein Glubschi!“, ruft er. „Ein Riesenglubschi!“ Glubschis sind überteuerte Plüschtiere mit Riesenaugen. Gut, Kulleraugen hat das Monstermainzelmännchen im Raumanzug hier auch, aber die Ähnlichkeit ist schon eher sehr entfernt.

„Das ist doch ein Mainzelmännchen.“, freue ich mich. „Heinzelmännchen!“, verbessert mich der F. und nähert sich der Riesenfigur. „Mainz.“, sage ich und erkläre, dass der Stand einem Fernsehsender gehört. Dass ein Fernsehsender so etwas ist wie Netflix, nur dass alle Sendungen nur zu ganz bestimmten Zeiten laufen und der Fernsehsender bestimmt, was die Leute wann zu sehen bekommen und dass manche Leute fürs Fernsehen extra ein besonderes Gerät haben, das nur fürs Fernsehen da ist. Und dass dieser Fernsehsender in einer Stadt namens Mainz ansässig ist und sein Maskottchen ein Heinzelmännchen ist, das deswegen Mainzelmännchen heißt.

„Haben die da echte?“, will der F. noch wissen und ist ein bisschen enttäuscht, als er erfährt, dass dem nicht so ist. Und wozu ein Fernsehsender überhaupt einen ausgedachten Zwerg braucht. Und woher ich das Mainzelmännchen kenne. Früher kannte das jeder, erkläre ich dem F., und dann lässt sich der F. beim ZDF mit einer VR-Brille in die Vergangenheit schicken, bekommt Mainzelmännchen aus Fruchtgummi und Aufkleber geschenkt und eine Mütze, und ein kleines Mainzelmännchen bekommt er auch. Das wird er am Samstag seinen Freunden zeigen.

Und wissen Sie was? Es kannte nicht einer.

Bleibt’s dabei?

Wir mittelalten Leute sind ja fast alle so ein bisschen dolle beschäftigt. Ich zum Beispiel, ich habe gerade eine Lunchverabredung für den 24. Mai getroffen, 12.30 Uhr am Potsdamer Platz, weil die Bekannte, mit der ich essen gehen will, mehr Termine als die Bundeskanzlerin und der Papst zusammen haben muss.

Noch vor drei Jahren wäre ich vermutlich einfach so am 24. da aufgetaucht. Aber inzwischen habe ich zweimal irgendwo gesessen, nach zehn Minuten angerufen, und ein paar Minuten später ist dann jeweils ein etwas atemloser Mensch aufgetaucht. Er hätte gedacht, wir mailen nochmal. Dabei ist dann auch mir aufgefallen, dass ich regelmäßig am Tage einer Verabredung Nachrichten bekomme, in denen „bleibt’s bei heute Abend?“ oder „wir sehen uns nachher, schaffst du’s?“ steht. Einmal habe ich aus Versehen nichts geschrieben und der mit mir verabredete Mensch hat auch nichts geschrieben, und dann gab es eben einvernehmlich kein Treffen, nehme ich zumindest an, denn wenn er da gewesen wäre, hätte er mich vermutlich angerufen oder bei nächster Gelegenheit angesprochen.

Mir kommt diese neue Unverbindlichkeit natürlich total entgegen. Was weiß ich, was am 24. Mai los sein wird. Vielleicht bin ich dann sonstwo. Oder es regnet und ich habe keine Lust auf den Potsdamer Platz. Auf der anderen Seite: Eigentlich wird der Aufwand ja so mehr statt weniger. Erst so eine Art unverbindliche Voranmeldung, na, wie sieht’s bei dir am 24. aus, bei mir noch gut, ne, besser doch zwei Tage später. Nein, da bin ich in München. Also irgendwo so. Dann noch die Einigung auf ein Lokal, die ja immer auch so ein Statement dazu beinhaltet, was man über sein Gegenüber so denkt und ob es sich um ein Date handelt oder doch nur um ein Mittagessen. Und dann noch Schritt 2, die Finalisierung als verbindlich, umgehende Reservierung, wobei das ja meistens nicht ich mache, sondern meine Verabredung, also wenn ich mit einem Mann verabredet bin, und noch eine Runde Kommunikation, wenn das Wunschlokal ausreserviert ist und man dann doch woanders essen muss.

Soweit alles schön. Aber was hat es zu bedeuten, wenn man sich nicht mehr meldet? Darf man sich dann später wieder melden, wenn man wieder mehr Zeit hat? Oder beinhaltet das Nichtmelden eine dauerhafte Absage gemeinsamer Mittagessen? Dann müsste ich, wenn ich es dann doch nicht schaffe, jeweils ausdrücklich absagen, und Leute, die mir nicht ausdrücklich absagen, dauerhaft aus der Liste möglicher Lunchpartner löschen. Aber wirke ich vielleicht etwas überengagiert, wenn ich ausdrücklich absage? Und erst jüngst habe ich eine Bleibt’s-dabei-Mail geschrieben, und die Antwort  – ja, klar – klang eher so ein bisschen befremdet.

Oder ich sehe neue Konventionen, wo gar keine sind, und meine Verabredungen wollen nur sehr dezent zum Ausdruck bringen, dass mein etwas sprunghaftes Verabredungsverhalten sie, gelinde gesagt, ein bisschen fordert.