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Sommers die Berge fleckt.

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Bleib mir doch weg mit deinen Verschwendergriechen und allem Papier aus deinem blutenden Brüssel. Ich will auch nicht wissen, wo man in Athen heute feiert, wenn man noch sorglos ist oder schon sehr verzweifelt. Ich will auch heute nicht wissen, wo die Boote landen, die unser aller Schande sind, und wo man in Heraklion gut essen kann: Geschenkt.

Ich will hier nicht schwimmen. Ich will am Ufer stehen, die Hand über den Augen, das leere Lächeln der Kouroi im Rücken, und auf der Innenseite des Meeres sollen die tausend Schiffe nach Osten fahren, und ich will ihnen nachsehen. Den Eibenstab in der Hand.

 

Er ist nicht da.

Ich habe gehört, sie habe ihn überall gesucht. Sie hatte erst seinen Bruder angerufen, dann seine Mutter, auch wenn die sie nicht besonders mochte und nur des Babys wegen akzeptierte, das in ein paar Wochen kommen würde. Sie rief sogar seinen besten Freund D. an, der ihn auch nicht gesehen hatte, angeblich, und als sie im Büro anrief und bei seiner Sekretärin landete, wusste die, wie sie behauptete, auch nichts. Da saß sie also in einer Dreizimmerwohnung in Moabit, konnte sich kaum mehr bewegen vor lauter Bauch und hatte drei Tage lang Angst. Am dritten Tag kam er wieder.

Am ersten Tag, am zweiten noch vielleicht, hätte sie ihm eine Szene gemacht. Vielleicht hätte sie geweint, geschrien, ihn gefragt, wo er war, aber am dritten Tag war sie so froh, dass er da war, dass er zur Geburt mitkommen würde, dass sie mit dem Kind nicht allein sein würde, dass er die Miete und den Löwenanteil der Ausgaben tragen würde, weil sie nur 800 EUR Elterngeld bekam wegen ihres lausigen Jobs, dass sie einfach erleichtert war, ihm einen Kaffee kochte und zu Bett ging. Sie hatte tagelang nicht geschlafen, und jetzt war sie erschöpft. Eine Woche später war das Kind da.

Er war ein guter Vater. Er stand nachts mit auf, er kaufte ein, kochte, erledigte seinen Teil der Hausarbeit, spielte mit der kleinen Tochter und wurde zweimal befördert. Heute ist die Tochter sechs. Doch wenn im September eingeschult wird, werden sie wohl nicht gemeinsam kommen, denn er scheint ausgezogen zu sein, auch wenn seine Sachen noch da sind, die Bücher, die CDs, nur ein paar Kleider fehlen, und das Notebook. Und sein alter, abgeschabter Bär.

Sie hatte, als er zum erstmal verschwand, noch alle angerufen, aber sie hatten ihr nicht mehr gesagt als damals. Vielleicht ist es die Sekretärin, denkt sie manchmal, denn die schmettert immer etwas zu fröhlich, dass sie auch nicht wisse, wo er steckt. Vielleicht ist sie aber auch nur unsicher und fühlt sich mit den Verleugnungen nicht wohl. Am Samstag taucht er meistens auf, holt die Tochter und zischt, wenn sie noch reden will, dass das jetzt schlecht sei vor dem Kind. Meistens kommt er mit der Tochter erst am Sonntag wieder. Er scheint eine neue Wohnung zu haben, aber auch die Tochter sagt ihr wenig oder nichts.

Das gemeinsame Konto scheint es nicht mehr zu geben. Sein Gehalt landet jedenfalls nicht mehr auf dem Konto, dessen Karte in ihrem Portemonnaie steckt. Sie hatte ein paar schlimme Nächte deswegen, aber als sie ihn fragte, kam eine der wenigen Antworten zurück. Er zahle natürlich weiterhin die Miete. Auf dem Konto landen nun monatlich 600 EUR.

Von 600 EUR kann sie nicht leben. Ich weiß nicht, wie ihre Aussichten sind, wieder arbeiten zu gehen. Sie wollte, meine ich mich zu erinnern, Kinderbücher illustrieren, aber daraus scheint nichts geworden zu sein. Vorerst spart sie eisern, gönnt sich nichts, liegt lange wach, hat einen Termin mit einer Anwältin, die ihr Fragen stellt, die sie nicht beantworten kann, und weiß nicht mehr, wie sie sagt, ob sie sich ihn zurückwünschen soll oder sich wünschen soll, sie hätte ihn niemals getroffen.

Heinz und ich

Der AfD-Anhänger ist also, wie ich gelesen habe, meistens ein Mann. Er ist älter als ich. Er ist ganz gut ausgebildet, aber hat nicht die berufliche Position erreicht, die er sich vorgestellt hat. Er lebt eher in einer Kleinstadt als in Berlin. Er ist verheiratet und hat Kinder, um die sich seine Frau mehr kümmert als er. Das findet er nur natürlich. Er arbeitet Vollzeit, sie arbeitet – vielleicht – Teilzeit, und ich stelle mir nach der natürlich ganz und gar nicht repräsentativen Lektüre von sehr vielen Internetkommentaren und dem im Entwurf kursierenden Wahlprogramm der AfD vor, dass er zeitgenössische Kunst verachtet, selten ins Theater geht, „weil die da ja nur noch rumschreien“, und dass er sein Auto sorgfältig pflegt und seinen Sommerurlaub pauschal bucht. Er spart viel, auch am Essen. Ich stelle mir vor, dass er gern Königsberger Klopse isst, aber auch Salamipizza und vielleicht Bami Goreng. Ich werde ihn Heinz nennen.

Ich habe monatelang versucht, Heinz nicht zu verachten. Ich weiß, dass eine Gesellschaft, die aus sich gegenseitig verachtenden Gruppen besteht, nicht imstande sein wird, Herausforderungen zu bewältigen. Damit meine ich nicht einmal die Flüchtlinge, die im letzten Jahr nach Deutschland gekommen sind und nun erst einmal versorgt und dann integriert werden müssen. Mit der Finanzierung und Unterstützung von Flüchtlingen hat Heinz nämlich überhaupt nichts zu tun, da reicht es schon, wenn er nicht aktiv stört. Ich denke an die zunehmende Automatisierung, die vielleicht nicht mehr Heinz, aber die Lehrlinge in seinem Betrieb vielleicht einmal den Job kosten werden, und wir dann alle einmal sehen müssen, wie wir es schaffen, auch mit wenig Arbeit glücklich zu sein. Ich meine die Künstliche Intelligenz, die vielleicht dazu führen wird, dass Heinz Sohn vielleicht eine Maschine als Vorgesetzten haben wird, und ich meine die Veränderungen in der Arbeitswelt, in der es nicht unwahrscheinlich ist, dass die Tochter von Heinz mehr verdient, als sein Sohn, der sich dann etwas anderes ausdenken müssen, als einfach arbeiten zu gehen, um attraktiv genug für eine Familiengründung zu bleiben. Ich meine auch den Umstand, dass Heinz wie wir alle zu wenig Kinder hat, um in Zukunft noch so zu leben, wie wir heute.

Leider ist es mir nicht gelungen, Heinz als einen ängstlichen, aber im Grunde guten Kerl zu betrachten. Ich denke nämlich, Heinz geht es gar nicht darum, dass er Angst hat, schlechter als Moslems, Schwule oder Frauen behandelt zu werden. Er ist insofern kein Bürger, der besorgt wäre, unverdient zurückzubleiben. Er will, wie er vielgestaltig schreibt, nämlich nicht genauso, sondern besser behandelt werden als diejenigen, die in seinen Augen weniger wert sind als er. Warum er meint, ein wertvollerer Mensch zu sein, hat sich mir auch nach Wochen nicht erschlossen. Wenn Heinz argumentativ nicht weiterkommt, beruft er sich im Internet auf den „gesunden Menschenverstand“. Darunter kann ich mir wiederum nichts vorstellen. Ich denke, er meint die Summe derjenigen Vorurteile, für die es schlechthin keine vernünftige Begründung gibt, die sich in seinen Augen aber richtig anhören. Genaueres weiß ich über Heinz leider nicht, weil Heinz sich auch bei facebook oder twitter nicht mit mir unterhalten möchte. Dabei habe ich ernsthaft versucht, mit Heinz zu diskutieren, aber offenbar bin ich es in Heinz Augen nicht wert, dass man mit mir diskutiert.

Nun nützt es nichts. Heinz verschwindet nicht morgen früh aus dieser Republik, und auch ich bleibe aller Voraussicht nach, wo ich bin. Heinz und ich müssen uns also arrangieren. Im praktischen Leben ist das ziemlich einfach, denn ich wohne ja im Prenzlauer Berg, den Heinz, wie er manchmal bei SpOn schreibt, zutiefst verachtet. Meine Lieblingsrestaurants findet Heinz affig, meine Freunde überspannt, und meinen Job will er garantiert auch nicht haben. In der Montessorikita meines Sohns will er seine Kinder vermutlich auch nicht unterbringen. Im geistigen Luftraum über Deutschland sieht es dagegen schon anders aus. Heinz hält Leute wie mich, das nehme ich amüsiert zur Kenntnis, nämlich für das sogenannte „linksgrüne Establishment“, also für die geistige Mitte der Gesellschaft, mit anderen Worten also für Leute, die eine Geschmackshegemonie ausüben, die Heinz Meinung nach naturgesetzlich eigentlich Leuten wie ihm zusteht.

Ich habe wenig Hoffnungen, dass Heinz in diesem Leben noch einmal freundlicher, aufgeschlossener und entspannter wird. Weil ich Heinz für einen schlechten Menschen und nicht für ein verängstigtes Schaf halte, glaube ich auch nicht, dass es sinnvoll ist, auf ihn zuzugehen und ihm zuzuhören. Heinz wäre erst zufrieden, wenn er obenauf und alle anderen mindestens drei Stufen drunter wären. Wenn man Heinz Wunsch nach Wiederherstellung seiner gesellschaftlichen Vorrangstellung also nicht erfüllen will, bleibt vermutlich nur eins:

Man muss Heinz isolieren. Man muss Heinz lächerlich machen. Man muss klarstellen, dass Heinz mit seinem Wunsch nach Aufwertung zulasten Dritter außerhalb der Gesellschaft steht statt in ihrer Mitte.

Aber Dich

Als Du Geburtstag hattest, stehen wir auf der Bötzowstraße und es ist Nacht. Ich schiebe mein Fahrrad, meine Füße schmerzen, und im Rücksitz schläft unser Kind. Ich trage meine hochhackigen Schuhe seit 18 Stunden, ich habe über 1.000 km zurückgelegt, habe irgendwo im Ruhrgebiet weit übers Land geschaut und den Horizont so klar gesehen wie selten. Ich habe Dich und unseren Sohn im Gedränge des Lafayette entdeckt, und sofort war der helle, laute Raum zwischen Dir und mir vor der Fischtheke voll von Blitzen, sprühenden Funken, Fontänen und goldenem Licht. Im Ishin waren wir und haben Sushi gegessen, das wir alle lieben, im Lafayette zurück haben wir Kaschmirpullover gekauft, Crémant getrunken und unser Kind hat getanzt.

Als Du Geburtstag hattest, haben wir Dir Karten geschrieben. Die haben wir in der buchbox gekauft Unser Sohn kann nur ein paar Worte schreiben, aber „Papa“ gehört dazu, und eine Karte hat er für Dich ausgesucht, auf der Dein Lieblingstier abgebildet ist. Die Karte hat er Dir geschenkt, und ein Buch, und auch von mir hast Du eine Karte und ein Buch bekommen. Wir waren dann beim Centro Italia und bei Ikea und bei boesner, wo sie leider einen Rahmen für unser tolles neues Bild von Katia Kelm irgendwie falsch zugeschnitten haben, und wir haben uns angeschaut und beide gleichzeitig gesagt „Berlin“ und gelacht.

Als Du immer noch Geburtstag hattest, haben wir Kuchen gebacken und Bier getrunken, geschlafen und überlegt, ob wir wohl die am lautesten schnurrende Katze der Welt besitzen, und es weiß nur keiner, weil wir das nicht messen. Als Du gerade noch Geburtstag hattest, hast Du Deine Zähne geputzt und ich habe Dich angesehen und mich gefragt, bis wann Du so gut aussiehst wie heute, denn irgendwann sehen ja alle alten Männer irgendwie komisch aus, sogar so Edelgreise wie von Weizsäcker oder so, und irgendwann fängt das ja an.

Als Du Geburtstag gefeiert hast, klingelte es von morgens um elf bis nachmittags um vier. Es gab Wurst und Schinken und Eier und Blinis mit Lachs, es gab Kuchen von mir, und einen, den die liebe C. gebacken hat und der wie eine Pizza aussah. Es gab Salate und Hummus und Hot Dogs aus der großen Partybox von Ikea, und es war laut und schön und die Kinder spielten quasi überall auf dem Boden. Als ich dann losging, um mit einer Freundin ins Kino zu gehen, bliebst Du in der Küche mit den letzten Gästen und schwenktest eine Flasche Bier und sahst ziemlich glücklich aus.

Als ich heimkam, räumten wir ein bisschen auf. Auch die Karten für Dich stehen nun in der Küche an der Wand. Auf der von mir steht: Love and Adventure. Und immer etwas Gutes zu essen.

Neu

Dank der großartigen und nicht genug zu lobenden Frau Koma können Sie nun auch bei mir

(dumpfer Trommelwirbel, ein roter Vorhang öffnet sich)

automatisch in diversen sozialen Netzwerken Blog wie Blogtexte mögen, automatische Kommentare hinterlassen und sich überhaupt wieder mal mehr zu Wort melden. Im Ernst, es macht keinen Spaß, wenn sich im virtuellen Salon nur lauter schweigenden Gäste verschämt in den Ecken herumdrücken. Sagen Sie Ihre Meinung und hauen Sie auf alle verfügbaren Pauken. Und wenn Sie mir einen besonderen Gefallen tun möchten: Ich möchte demnächst mein Bloglayout ändern. Ich brauche einen schönen, roten Vorhang.

Haben Sie so etwas zufällig bei sich herumliegen? Frei von Rechten Dritter und verfügbar für mich?

Die Großmutter des Erfolgs

Vor einigen Jahren – ich habe es selbst nicht gelesen – erschien ein Erziehungsbuch, das eine chinesischstämmige Amerikanerin geschrieben hat, die kommerziell sehr erfolgreich den Wert strenger Disziplin und harter Arbeit pries. Derzeit sprechen sich eigentlich alle anderen publizierenden Pädagogen für ein sanftes Wachsenlassen aus, schon deswegen erschien mir das Buch der Amerikanerin bemerkenswert, auch wenn ich selbst neben allen inhaltlichen Vorbehalten für dermaßen viel Erziehung zu faul wäre und außerdem fest glaube, meinem F. stehen schon wegen der Demographie alle Türen offen.

Dieses Buch beeindruckte nun die Mutter einer Freundin ganz über alle Maßen. Großmütter sind ja eigentlich ausnahmslos sehr am Wohlergehen ihrer Enkel interessiert. Diese Großmutter sah das Wohlergehen ihres Herzblattes jedenfalls in harter Arbeit und frühen Erfolgen, und so kaufte sie das verheißungsvolle Buch und gab es besagter Freundin. Diese reagierte nun so süßsauer wie jeder von uns, wenn unsere Mütter vorsichtig andeuten, ihre Enkel würden nicht optimal aufgezogen, und legte das Buch erst einmal beiseite. Also irgendwo auf den Schrank. Ganz oben hinten rechts oder so. Und als sie mehrere Monate später ihr Bücherregal aufräumte, legte sie das Buch noch ganz woanders hin, wo es erst mal liegen blieb.

Monate vergingen. Staub kam und wurde wieder weggewischt, die Großmutter erschein und reiste wieder ab, als eines Tages vor gar nicht so langer Zeit besagte Freundin eine Whats-App-Nachricht ihrer Mutter erhielt. Mütter lieben nämlich Whats-App, weil es ihrem Sinn für Sparsamkeit und der Neigung zu einer vermeintlichen Intimität optimal entgegenkommt. Auch diese Mutter schrieb den ganzen Tag Whats-Apps, und in einer dieser Whats-Apps stand, sie habe das Buch ihrer lieben Freundin R. geliehen, welche ebenfalls Großmutter geworden sei. Diese Dame sei ohnehin demnächst in Berlin und hole sich das Buch ab.

Meine Freundin suchte überall. Sie suchte auf den Regalen, in den Regalen, unter den Regalen, hinter den Regalen sowieso, und als sie auch unter dem Küchenschrank und in der Kiste mit alten Magazinen nichts fand, verdrängte sie den Gedanken an den Besuch der alten Dame fest, bis diese anrief und sich für Donnerstag morgen ankündigte. Sie bringe auch Semmeln mit.

Als auch die weitere Suche erfolglos blieb, begab die Freundin sich in die nahegelegene Buchhandlung. Das Buch kostete 25 EUR. Die Freundin kehrte um. Den Gegenwert von drei Pizzen einer kaltherzigen und brutalen Erziehungspsychopathin in den Rachen zu werfen, brachte sie nicht über sich. Darob vergingen die Tage.

Am Tag vor dem Besuch der Großmutterfreundin fasste die Freundin einen Entschluss. Sie packte Kind und Handtasche, betrat eins der größeren modernen Antiquariate der Stadt, die jeden Bestseller der letzten 50 Jahre führen, und fragte sich durch, bis sie das betreffende Buch in Händen hielt. Sie zahlte 9 EUR ans Antiquariat und nicht an Frau Chua, nahm das ordentlich zerlesene Buch mit und übergab es unangetastet am nächsten Tag. Um das kosmische Gleichgewicht wieder in Ordnung zu bringen, gab sie für wiederum 9 EUR den Pennern vor Lidl Bier und Chips aus, und nur, als die Großmutter einige Wochen später fragte, wieso sie auf die letzte Seite des Buches „Hundekacke“ geschrieben habe, bedauerte sie ganz kurz, kein neues Buch erworben zu haben.

Am Nachbartisch

Sie scheint Französin zu sein, klein und leicht und mit ausdrucksvollen Augen. Sie ist unglaublich dünn und für einen Moment beneide ich sie um ihre tolle Jeans und wie gut sie darin aussieht.

Neben ihr sitzt er. Er ist vielleicht 30, wohl ein paar Jahre älter als sie, und blättert in der Karte. Sie sieht gelangweilt aus, schaut weder in die Küche, noch auf die hell erleuchteten Kühlschränke, in denen riesige Steaks auf Esser warten, und sie schaut sich auch nicht um, was an den anderen Tischen passiert. Es ist 23.00 Uhr, letzte Nacht der Berlinale, und der Grill Royal dampft vor hektischer Erregung.

Irgendwann erscheint ihr Kopfsalat, von dem sie drei Blätter isst, um sich dann zurückzulehnen und ihn stumm anzuschauen. Ab und zu nippt sie an ihrem Wein, verschränkt die Hände und schaut ins Leere, irgendwo ganz hinten an die Wand vor den Toiletten.

Auch die Nachbarn haben ein Gemeinschaftssteak bestellt und sind – anders als wir – den Einflüsterungen des Kellners offenbar erlegen, noch ein zweites Filetsteak dazu zu bestellen. Rot und braun glänzt das Fleisch auf dem Tablett, er legt ihr zwei Scheiben auf den Teller und schüttet ein paar Pommes Frites dazu, die sie sofort an die Seite schiebt, als fürchte sie, die Pommes Frites würden durch zu große Nähe in ihren mageren Körper diffundieren. Dann legt sie sich wieder zurück und schaut ihn an.

Er isst, als gebe es kein Morgen. Er schlingt das Fleisch in sich hinein, er schiebt sich immer weitere Stücke in den Mund, stopft Pommes Frites und Bohnen hinterher, und mein geschätzter Gefährte J. schielt gepeinigt zur Seite, weil der Nachbar isst, als habe ihn ein Blinder im Neandertal erzogen.

Vielleicht schaut auch seine Begleitung deswegen so indigniert. Sie hat inzwischen das Besteck ganz beiseite gelegt, schaut ihn an wie einen irritierenden Gegenstand, eine Tasse etwa, die gestern doch noch nicht in der Küche stand, und zieht ein paarmal die Luft so stark ein, dass sich ihre Wangen nach innen verziehen.

Der J. und ich haben unser Steak inzwischen aufgegessen. Nur noch ein paar Bohnen liegen quer über einer schwarzen Schale. Wir trinken immer mehr von dem sizilianischen Rotwein, lästern über An- und Abwesende, betasten unsere neuen Bücher, und freuen uns auf das Wochenende.

Wir sollten mal nach Singapur fahren, sagt der J., weil der Film über Essen in Singapur so gut war, den wir gesehen haben. Aus den Augenwinkeln sehen wir das Paar am Nachbartisch feindlich schweigen.

Die fahren nirgendwo mehr hin, meine ich zum J. Zumindest nicht gemeinsam.

Klotz am Bein

Ein Kindergarten ist eine ernsthafte Sache. Ohne einen Kindergarten kann man nicht arbeiten gehen und verarmt, außerdem wird man ohne eine Kindergarten schon vor dem zweiten Geburtstag eines Kinder verrückt, weil ein Kind zwar die ganze Zeit interagiert, aber leider nur ausnahmsweise so, wie man sich gelungene Interaktionen gemeinhin so vorstellt. Für morgens und abends ein paar Stunden ist das ganz toll, aber ununterbrochen hält das keiner aus, außer er ist heilig oder verrückt.

Vor einigen Jahren gab es mal so eine Mode, Kindergärten total zu überschätzen. Damals glaubten viele Leute, es komme darauf an, schon quasi im Uterus Astronomie und Englisch und die Kunst der Komposition ganzer Symphonien zu lernen, ansonsten werde aus dem Kind maximal ein befristet eingestellter Sachbearbeiter im Amt für Liegenschaftsverwaltung oder ein depressiver Hausmeister. Das ist zum Glück wieder vorbei. Heute meint so gut wie jeder um mich herum zu wissen, dass es ziemlich egal ist, was Kitas machen. Die Kinder erreichen ungefähr den sozioökonomischen Status der Eltern, völlig gleich, was sie im Kopf haben. Diese Annahme beruht, meine ich, auf diesen PISA-Studien, die die OECD immer veröffentlicht, um die Öffentlichkeit aufzurütteln. Viele Eltern haben sich ganz im Gegenteil aber total beruhigt und können endlich wieder entspannen.

Auch die liebe N. sieht Kindergärten eher lässig. Ihr Sohn, der demnächst einjährige L., soll ein bisschen spielen, Freunde finden, im Frühling Ostereier bemalen und im Herbst Kastanienmännchen basteln. Nun ist es allerdings nicht ganz leicht, im Prenzlberg einen Kindergartenplatz zu finden, nicht einmal mit diesen doch eher zurückgenommenen Erwartungen, und erst recht nicht leichter wird die ganze Sache, wenn andere Mütter, konkret N.`s alte Freundin K., die ganze Sache keineswegs so leicht nehmen wie der Zeitgeist.

In dem Kindergarten um die Ecke beispielsweise hat die K. erst kürzlich den Speiseplan extrem kritisch hinterfragt. Dazu muss man wissen, dass in den städtischen Berliner Kitas die ostdeutsche Küche der Sechziger einfach immer weiterlebt. Wer nichts gegen Kartoffelsuppe mit Zwieback, Eierfrikassee mit Blumenkohl und Spirelli mit Wurstgulasch hat, wird bei dieser Ernährung ganz glücklich werden, wer sich etwas Zeitgemäßeres vorstellt, hat leider Pech gehabt und muss sich etwas Privates suchen, wobei die Chance, dass man da signifikant besser isst, als eher klein veranschlagt werden muss. Die K. allerdings sucht noch nicht so verzweifelt, dass sie diese Erkenntnis davon abgehalten hätte, mehr Weltoffenheit einzufordern, Biofleisch und generell mehr Vollkornprodukte.

„Modeste, so wird das nie was!“, jammert die N. und schaut trübsinnig in ihre Kaffeetasse. Völlig klar sei, dass die Kitaleiterinnen sich nicht ausgerechnet eine auf den ersten Blick erkennbare Nachfragerin, Bezirksamtsbriefschreiberin und Überraschungsbesucherin ins Haus holen. Die K. könne sich den Kitaplatz vermutlich von der Backe putzen, und sie, die N., als Freundin und Begleiterin der K. gleich dazu.

In einer anderen Kita hatte die K. bohrende Fragen nach den Methoden der Musikerziehung gestellt, in einem dritten Institut nach den Realisierungschancen einiger Projekte gefragt, von denen sie in der Zeitung gelesen hatte und die sie ganz interessant fand. In einer anderen Kita fragte sie, ob unter den Erzieherinnen native speaker der englischen Sprache seien, und in einer weiteren Kita fand sie den Garten zu klein und die Pflanzen lieblos ausgewählt.

Auf negative Effekte ihrer Strategie angesprochen, zeigt die K. sich unwillig. Gute Kitaleiterinnen würden, so meint sie, sich gern hinterfragen lassen und hätten kein Problem mit kritisch-engagierten Müttern. Bevor sie aber eine schlechte Kita den Werdegang ihres Sohnes ruinieren lasse, erziehe sie ihn lieber selbst.

Versuche, der K. auszuweichen und künftig ohne sie Kitas zu besuchen, haben aber auch nicht gefruchtet. Man kann Kitas nämlich meistens nur an festen Terminen besuchen, weil ansonsten immer Horden fremder Erwachsener durch die Kitas latschen und den Tagesablauf stören. Wenn es irgendwo eine Kita gibt, die gerade Schnuppertag hat, ist die K. aber zwangsläufig immer da. Manche Kita, die ihr besonders gut gefällt, hat sie schon mehrfach besucht.

So langsam wird die N. also nervös. Das Ende ihrer Elternzeit naht, irgendetwas muss nun geschehen, denn andernfalls wird vermutlich die ganze Sache mit der Kita nicht die Zukunft des Sohns der K., auch nicht die des Sohns der N., aber durchaus die der N. selber nachhaltig beschädigen. Vielleicht wechselt die N. aber auch einfach nur den Bezirk.

In Bildern, in Geschichten.

Wir bereisen Bilder. Wir besteigen Flugzeuge und denken an die blau-weiße Kühle der Pan Am und George Clooney Up In The Air. Wir landen in Dubai und trinken Kaffee für neun Dollar und schauen in die flirrende Hitze über dem Rollfeld. Dort, irgendwo zwischen dem gleißenden Himmel und dem stumpfen Sand reitet Lawrence von Arabien.

Wir landen in Indochine. Saigon flackert und blinkt, und irgendwo, weit hinten am Fluß, sitzt die Dienerin Mui und wringt Wäsche. Vom Taxi aus sehe ich Tony Leung, einen Strauß Nelken in der schlaffen Hand, und über den Drachenfruchtfeldern drehen sich die Rotoren der Hubschrauber. Wer die Augen schließt, hört die Schreie. Es ist der Wald, der das Platoon besiegt.

Am nächsten Morgen sitze ich am Meer. Über mir blähen sich die Segel der Kite Surfer, vermummte Obstverkäuferinnen tragen Kokosnüsse und Mangos über den Strand, und ich schaue meinem Sohn zu, der am Strand nach Sauriern gräbt, um Teil der Geschichten zu werden, wie wir.

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Jahresrückblick 2015, 2. Teil

Im Juli fahre ich nach Klagenfurt und werde sofort aufgesogen von Atmosphäre, Sommer und Wörthersee. In den letzten Jahren ging der Bachmannpreis ziemlich an mir vorbei, aber dieses Jahr sitze ich vor dem ORF-Funkhaus, im Lendlhafen oder im Saal, lasse mir vorlesen, lästere, lobe, notiere und freue mich, und komme ganz bestimmt wieder.

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Zurück in Berlin setzt der Sommer erst mal aus. Die Stadt leert sich zusehends, aber ich bleibe, grille auf der Terrasse bei M. und M., esse sehr, sehr gut im Dae-Mon am Monbijouplatz, im Txokoa in Neukölln mit Mek und auf der Thaiwiese in Wilmersdorf. Alle paar Tage picknicke ich alles, was noch im Haus ist, mit dem F. und seinen besten Freunden und deren Eltern im Volkspark Friedrichshain.

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Über mir strahlt wieder ein  tiefblauer Himmel, ich lese Mommsen und Lily King’s Euphorie und schlenkere mit den Beinen, während der F. mit seinen Freunden über die grüne Wiese läuft und ganz laut jubelt.

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Der August plätschert warm und gemächlich in der leeren Stadt an mir vorbei. Wir feiern Sommergeburtstage in Gärten, weil lauter Leute 40 oder drei werden, treffen nach der Kita Freunde und sitzen mit denen vor den Cafés von Prenzlberg herum und essen aus lauter Bequemlichkeit ständig bei den drei gleichen Restaurants um die Ecke. Ab und zu fahre ich abends nach Kreuzberg oder Neukölln, esse Tomaten bei Frau Engl oder treffe mich in irgendwelchen Bars und schaue Leuten dabei zu, erwachsen zu werden. Im nächsten Monat werde ich 40 und denke in den Wochen zuvor viel darüber nach, ob mein Leben zu mir passt, und was ich noch machen möchte in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren.

Vor dem Geburtstag aber fahre ich noch drei Tage an die Ostsee nach Dänemark. Meine Eltern sind dabei, mit denen ich als kleines Kind jedes Jahr in Dänemark war in ganz ähnlichen Häusern aus Holz am Meer, und ich sehe ihnen zu, wie sie mit dem F. spielen wie vor mehr als 35 Jahren mit mir.

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Im September werde ich dann wirklich vierzig und stehe in meinem geschmückten Büro und fühle mich komisch. Dabei habe ich mir eigentlich keine großen Auslassungen vorzuwerfen, ich will auch keinesfalls noch einmal 20 sein, und wenn ich in den Spiegel sehe, finde ich die Frau, die mich anschaut, nicht schön, aber freundlich und ganz zufrieden. Ich einige mich mit mir deswegen auf eine Art Phantomunbehagen, das nicht weiter hinterfragt werden sollte, und fahre umgehend mit drei Paaren und vier Kindern in den Urlaub.

In der Provence geht es mir gut. Ich bin mit beiden Paaren sehr lange befreundet, das allseitige Selbstdarstellungsbedürfnis tendiert deswegen gegen null. Wir liegen also am Pool, essen und fahren zwischen Küste, Städten, Klöstern und Supermärkten ambitionslos und gut gelaunt herum. Nur der F. wirkt etwas angespannt, der sich ausgerechnet mit der Tochter enger Freunde nicht so gut versteht. Als wir ihn nach unserer Rückkehr fragen, ob denn sein Teddybär wieder mit diesen Kindern verreisen möchte, verneint er. Er selbst, behauptet er, sei natürlich jederzeit wieder dabei.

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Im Oktober feiere ich erst meinen Geburtstag und arbeite dann, bis die Schwarte kracht. Überhaupt ist es ein arbeitsreiches Jahr, temproreich, auch reich an Erfolgen, aber anstrengender für mich als noch vor einigen Jahren. In meiner Erinnerung arbeite ich gerade im Frühling und im Herbst sozusagen immer, schlimmer als in den Zeiten vor der Geburt des F., als ich mich abends ewig nicht aufraffen konnte, nach Hause zu gehen, aber gleichwohl war ich in der Komischen Oper, es gab „Ball im Savoy“, und ich habe mich bestens amüsiert, und mit dem W. im Deutschen Theater in einem Stück über Selbstmordattentäter.

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Wie kann man nicht am Leben hängen, frage ich mich nach diesem Abend nach einem letzten Glas Wein auf dem Heimweg und freue mich über den unruhigen Himmel, die Wolken, den Geruch nach Abgasen, Staub und Fett auf der Torstraße und frage mich immer wieder, ob andere Leute eigentlich so anders eingerichtet sind als ich selbst, und es nicht auf Erden so schön haben möchten, wie es nur irgend geht.

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Weil im November sonst so wenig los ist, richten wir für den F. eine Halloweenparty aus. Wie zu seinem Geburtstag kommen sechs oder sieben andere Kinder mit ihren Eltern, es wird gut gegessen, getrunken, gelärmt und erzählt, und ich freue mich, dass der F. nette Kinder mit netten Eltern kennt und nicht Leute, die einzuladen mir keine Freude machen würde.

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Ich fahre wieder kreuz und quer durch die Republik, staune im Schwarzwald über die geradezu unwahrscheinliche Sauberkeit, plaudere mit Fremden in ICEs, verbrenne mir die Unterlippe mit Kaffee im Rheinland, beobachte fremde Leute an Flughäfen und schicke jeden Abend dem J. und dem F. Bilder, wo ich gerade bin. Abends gehe ich lange spazieren und genieße den langen, warmen Herbst.

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Am ersten Advent schließlich treffen sich beide Großelternpaare und wir an der Ostsee und feiern drei Jahre Ehe und freuen uns, wie der F. die Zeit mit seinen Großeltern genießt.

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Im Dezember bin ich wieder erkältet und krächze auf unglaublichen sechs Weihnachtsfeiern und einem Weihnachtsliedersingen in der Komischen Oper stimmlos vor mich hin. Der F. befindet sich in einem wahren Weihnachtstaumel, spricht quasi stündlich vom Weihnachtsmann und spekuliert über seine Geschenke.

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Am Nikolaustag führen wir ihn das erste Mal in eine richtige Opernaufführung und sind mit ihm glücklich, dass es auf Erden so etwas Großartiges gibt. Er ist groß geworden. Wenn er verabredet ist, soll ich ihn nur bringen und nicht mehr bleiben. Er bastelt, malt und erzählt den ganzen Tag und führt ein bewegtes Leben inmitten einer imaginären, aber sehr lebhaften Menagerie, die in unserem Keller lebt.

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Heiligabend sitzt er überwältigt inmitten von viel zu vielen Geschenken, und am letzten Tag des Jahres sitzt er spielend inmitten der anderen Gäste bei SvenK und seiner wunderbaren Frau, als der Himmel hell und bunt wird, es auf den Straßen von Berlin kracht und ich mein Glas darauf hebe, dass es auch in den nächsten Jahren nur Böller sein mögen, und die Tage fröhlich und leicht und der Himmel aus hellerem Licht.

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