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Jahresrückblick 2015, 1. Teil

Januar. Um Mitternacht stehe ich auf dem Balkon von M. und M. in Friedrichshain und hebe das Glas. Willkommen 2015. Die nächsten Wochen schleppe ich mich so durch die Tage. Ich wäre gern weggefahren, aber daran ist aus verschiedenen Gründen gerade nicht zu denken, und so halte ich den Januar irgendwie aus und verbrauche eine Großpackung Taschentücher. Damit möglichst viele Menschen etwas von meiner Erkältung haben, und weil ich mich zuhause schrecklich langweile, gehe ich zur Lesung von Judith Hermanns neuem Buch und ins Deutsche Theater zur Dramatisierung von „Jugend ohne Gott“. Das Theaterstück ist gelungen, das Buch wirkt schon beim Vorlesen mitleiderregend öde.

Im Februar lebe ich wieder auf. Der Februar ist in Berlin zwar eigentlich der scheußlichste Monat, weil es feucht, kalt und dunkel ist, aber im Februar macht mir das nichts aus. Ich fahre beruflich ein bisschen durch die Gegend, denn das mache ich inzwischen wieder ganz gern, fahre mit J. und F. drei Tage an die Ostsee und gehe ausführlich weg. Zweimal immerhin schaffe ich es zur Berlinale, einmal in die ausgesprochen originelle Zauberflöte in der Komischen Oper, und streiche mit dem J. und verschiedenen Freunden, die mir lustige Geschichten erzählen, durch die Markthalle neun, die Bars von Mitte, die Restaurants von Kreuzberg und sitze mit dem fast immer fröhlichen F. auf dem Sofa und erzähle ihm und mir lange Geschichten.

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Als es März wird, wird es auf einmal warm. Vor den Eiscafés sitzen die Leute und löffeln mit verklärtem Grinsen Eis in Geschmacksrichtungen wie „Vanille mit Kürbiskernöl“ oder „Karamellierte Anis-Birne mit weißer Schokolade und Pernod“.

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Mitte März trinke ich das erste Biergartenbier des Jahres und schaue nachts vom Neni aus über die leuchtende City West und den tiefschwarzen, nächtlichen Zoo, in dem Tiger brüllen und Affen mit riesigen grünen Augen in den Netzen ihrer Käfige vom Urwald träumen und tanzen.

Im April geht es mir gut. Zum erstmal seit 2012 sind der J. und ich erst eine Woche zu zweit in Berlin, weil der F. meine Eltern besucht und mir zweimal täglich telefonisch Sensationen berichtet. Er habe im Garten Blätter geharkt. Pferde auf der Koppel gesehen. Mit einer Kaffeemühle Kaffee gemahlen, wie auch Kasperles Großmutter sie besitzt und sich vom Räuber Hotzenplotz habe stehlen lassen. Wir gehen in Berlin währenddessen ausführlich essen und sitzen da drei Stunden rum und verzehren sieben Gänge, und ich sehe einen der merkwürdigsten Filme des Jahres: „Tod den Hippies, es lebe der Punk“, und lese, weil mir der Film so gefallen hat, gleich noch Oskar Roehlers Superbuch. Dann feiern wir Ostern im Garten der I. und des S. und fahren in Urlaub.

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Zypern erweist sich als Volltreffer. Wir baden im Pool, essen göttlich und besichtigen ganze antike Städte mit bestens erhaltenen Mosaiken. Von Bild zu Bild führen wir den F. herum und erzählen ihm Geschichten über Theseus und den Minotauros, Orpheus und die tanzenden Tiere und die schöne Helena. Noch ein Jahr später spricht der F. von Zypern. Gern nächstes Jahr wieder versprechen wir ihm und meinen es ernst.

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Der Mai leuchtet in warmen Nächte und Rosen. In der Komischen Oper bewundere ich Schönbergs „Moses und Aron“ und bitte Barrie Kosky im Stillen um Verzeihung, weil ich ihm die Inszenierung einer ernsten Oper nicht zugetraut habe. In der Preussischen Spirituosenmanufaktur lasse ich mir zeigen, wie man Schnaps braut, trinke auf dem Braufest Berlin verschiedene Biere und esse in der Cordobar in Mitte so tolles Essen, dass ich das ganze Jahr versuche, da wieder hin zu gehen. Weil Berlin gerade voll mit spannenden Lokalen ist, schaffe ich das aber erst wieder kurz vor Weihnachten.

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Bei der ersten re:publica, die ich jemals besuche, stelle ich einmal mehr fest, dass mich Vorträge langweilen, außer ich spreche selber, aber dann gehe ich unter zwischen lauter Leuten, die ich wirklich mag, und verliere mich, ein Bier in der Hand, in Gesprächen.

Im Juni stehe ich mit SvenK und seiner Frau auf dem Schiffshebewerk in Niederfinow und schaue über die Uckermark. Ostdeutschland war mir lange nicht so fremd wie 2015 mit seinen brüllenden Aufmärschen und brennenden Notunterkünften, aber das sommerlich warme Land atmet ruhig in der Sonne. Dass dieses Jahr kein Jahr wie andere ist, spüre ich zunehmend im Sommer, und auf dem Kaltblüterfest in Brück mit den neuen Freunden K. und P. schaue ich ab und zu den Leuten an den Ständen und Tribünen zu und überlege, was diese fremden Leute wohl denken und ob sie es sind, die in den Kommentaren im Internet von Mord und Brandstiftung schwadronieren.

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Wir eilen von einem Sommerfest zum anderen. Überall wird gegrillt, getanzt, gefeiert. Wir treffen Freunde, trinken Bier, lassen uns von Kindern, Wohnungen, Beförderungen erzählen und freuen uns über unseren freundlichen, fast ein wenig dörflichen Kiez. Wenn ich das Haus verlasse, treffe ich immer jemanden, den ich kenne, stelle ich spätestens in diesem Jahr fest. Ich habe es gut getroffen mit meinem Berlin.

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Bei Tristan

Weil wir bei der tollen Katia Kelm etwas zu lange geblieben sind, stehen, als wir ankommen, schon ein paar Bewohner vor der Turnhalle, in der jetzt, wie ich dem F. erkläre, Leute wohnen, die vor schlechten Menschen weggelaufen sind, die alles kaputtmachen und den Leuten wehtun wollten. Die Leute haben Kinder und ich google schnell, was auf Arabisch „Mütze“ heißt. Es ist kalt geworden in Berlin, und ich sehe mit ein bisschen Sorge die unbedeckten Kinderköpfe auf dem Weg zur Bahn.

In der M 10 reißt ein kleiner Junge aus der Gruppe immer wieder den Mund auf, um seiner Mutter zu erklären, wie groß das Sauriermaul ist. Der Saurier ist offenbar weltweit das Pony der kleinen Jungen.

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Vorm Naturkundemuseum ist es sauvoll. Ich löse Gruppentickets, rudere mit den Armen, poche auf Uhren, und dann drängelt der F. an mir vorbei in den Innenraum. Mit Riesenschritten marschiert er zweimal um die großen Sauriergerippe herum, erklärt Kindern, die ihn nicht verstehen, wer ein Pflanzenfresser ist und wer Fleisch isst, und dass keiner weiß, ob die Saurier ausgestorben sind, weil ein anderer Stern an unseren Stern gestoßen ist. Dann zieht er mich weiter in einen anderen Raum. Da steht er also: Tristan. Der T-Rex, der Saurier, den alle sehen wollen, und der F. starrt für mindestens 30 Minuten am Stück den Saurier an. Es ist gut, dass er tot ist, sagt der F. mehrmals, und dann verlassen wir Tristan.

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Die Urmenschen, die den F. gerade überaus faszinieren, hat das Museum leider gerade abgeräumt, so dass ich ihm demnächst zuhause zeigen muss, wie wir alle eines Tages aus dem Meer gekrochen sind, unsere Schuppen, unser Fell, unsere Klauen abgeworfen haben, uns hochgezogen haben. Wie aus Knurren und Quieken Worte geformt wurden, und wie wir nun, alle, die wir da sind, durch Berlin laufen. Wer gestern gekommen ist, und wer vor zwanzig Jahren.

Unsichtbarkeit

Katzen, wie man weiß, verfügen über ungeahnte Fähigkeiten. Meine Katze zum Beispiel kann sich unsichtbar machen, wenn sie für ein paar Stunden oder Tage einfach genug hat von dem ganzen Betrieb, oder mir zeigen will, dass ich sie brauche und ohne die Katze nicht einmal für fünf Minuten so ganz ungetrübt glücklich sein könnte.

Heute kam vermutlich beides zusammen: Zunächst war schon gestern Familie B. da. Mit Familie B. sind wir schon sehr, sehr lange zusammen. Wir haben mit dem R. sieben Jahre promoviert. Wir haben mal übereinander gewohnt. Wir haben zusammen ziemlich viele Feste gefeiert, sind in Urlaub gefahren, und nun treffen wir uns also am Sonntag nach Weihnachten, dem 5. Advent sozusagen, und essen Zimtschnecken und trinken Tee.

Familie B. hat eine kleine Tochter, die vierjährige C. Die C. verträgt sich eigentlich gut mit Katzen, denn auch Familie B. hat eine Katze. Katze Lilly jedoch ist eigentlich jeder Besuch zuviel. Ich glaube, Lilly hat uns ganz gern, aber unsere Neigung, ständig Leute einzuladen, kann sie nicht ausstehen. Dass dann gestern Abend auch noch der Mek kam: Eindeutig zuviel. Zudem schwelt zwischen Katze Lilly und mir ein Konflikt. Ich fürchte, ich bekomme von allzu innigem Kontakt mit Lilly einen fiesen Husten, und deswegen darf Lilly nicht mehr ins Schlafzimmer. Seitdem ist Lilly beleidigt, und der F. hat mir ernsthafte Vorhaltungen.

Als heute morgen dann nicht nur unsere Reinigungskraft, sondern auch noch deren Mutter erschien, verschwand Lilly und ward nicht mehr gesehen. Um vier, als ich mit dem F. und seinem Freund A. aus dem Tierpark kam, war sie weg.

Mir fiel das erst gar nicht auf. Der F. und sein Freund lärmten, als hätte ich zehn Kinder zu Besuch, und erst, als der A. abgeholt worden war, und der F. schlief, fiel mir auf, dass ich die Katze seit den früheren Morgenstunden nicht mehr gesehen hatte. Der J. und ich stellten uns also wie die Deppen in jeden Winkel unserer Wohnung und brüllten nach der Katze, schüttelten die Futterdose, säuselten alle Namen der Katze und rissen alle Schranktüren auf. Am Ende war ich sogar im Hof, im Müllraum, vor der Tür und auf allen fünf Stockwerken. Nichts.

Zwei Stunden später war ich zu Tode betrübt. Inzwischen war auch der F. wieder wach, und gemeinsam bejammerten wir das Los unserer Katze. Erfroren, verhungert, jammervoll in einen Keller gesperrt oder von fiesen Katzenfängern weggeholt. Händeringend sitzen wir also auf dem Sofa und lassen die Ohren hängen.

Am Ende kam die Katze natürlich wieder aus irgendeiner Ecke hervor, dehnte und streckte sich und legte sich majestätisch aufs Sofa. Ich könnte schwören, ich habe jeden Winkel der Wohnung durchsucht, und ich weiß: Die Katze war nicht zu finden. Die Katze war unsichtbar, und während wir überall nach der Katze suchten, saß die Katze hier irgendwo und grinste uns aus.

24. Dezember 2015

Am 4. Adventswochenende ist es überall schlimm voll, aber am 24. Dezember ist eigentlich alles wieder im Lot. Wir schlendern also die Friedrichstraße entlang und kaufen im Lafayette alles, was wir essen wollen: Shrimps in Aioli, Foie Gras, Blini mit Lachs, Königinpasteten, Pasteten überhaupt, verschiedene Fischterrinen, Champagner und Desserts. Schwer bepackt fahren wir wieder nach Hause. Auf dem Heimweg kommen wir an den Cafés der Nachbarschaft vorbei, auf deren vollen Terrassen Leute ihr Gesicht in die Sonne halten. Manche trinken Kaffee, andere Bier. Keiner Glühwein.

Der F. ist seit Tagen in einem kaum mehr steigerbaren Weihnachtsrausch und sieht überall Weihnachtsmänner und Weihnachtsbäume. Der Bus von Mitte heim in den Prenzlauer Berg wurde von einem Busfahrer im vollen Weihnachtsbaumornat gesteuert, und der F. weiß nun alles über den Brotjob des Weihnachtsmanns, dem dieser 364,5 Tage im Jahr nachgeht. Heute mittag, teilt er atemlos mit, gehe der Weihnachtsmann heim und ziehe sich um. Dann würden die anderen Busfahrer Busse steuern, und der Weihnachtsmann walte seines eigentlichen Amtes.

An einen Mittagsschlaf ist nicht zu denken. Der F. tanzt wie ein Derwisch um den Weihnachtsbaum herum, der J. flucht, weil eine Kerzenkette nicht funktioniert, und erst, als wir um 14.30 Uhr bei einer befreundeten Familie vor der Tür stehen, um mit Mutter und ältestem Sohn in die benachbarte Kirche St. Bartholomäus zu gehen, umschließt mich das Weihnachtsfest wie eine der goldenen Kugeln am Baum, wie die Knospe einer Amaryllis, und ich entschwinde in einen dreitägigen Raum jenseits von Wochentagen, Arbeitslisten und Dingen, an die ich auf jeden Fall noch denken wollte. Hier bin ich, denke ich inmitten von raschelnden Nachbarn, herumlaufenden Kindern und den ersten Tönen der Orgel: Hier sitze ich, reich an Frieden und Glück, und was ich liebe, ist bei mir.

20. Dezember 2015

Weil der F. zum ersten Mal ganz allein einen Kindergeburtstag besucht, habe ich stundenlang frei und fahre ins Lafayette. Ich hasse eigentlich alle Kaufhäuser, weil ich Oberbekleidung kaufen blöd finde, aber im Lafayette bin ich ganz gern. Ich kaufe da aber eigentlich immer nur Wurst und Süßspeisen und niemals Kleider.

Eine ganze Industrie lebt davon, dass Menschen Kleider kaufen, weil sie irgendwann, vor vielen, vielen Jahren ihr Fell abgeworfen haben und jetzt ohne Kleider frieren, und dass Menschen schöner sein möchten, als es ihnen eigentlich zukommt. Tausende Zeitungen leben davon, dass Menschen Kleider kaufen, und es gibt viele Blogs, die beschäftigen sich nur damit, was Leute anhaben. Selbst ich, die ich in einer Branche arbeite, in der für ausgesprochen individuelle Kleider kein Raum ist, stehe allmorgendlich vor meinem Schrank und frage mich, was ich anziehen soll.

Niemand sollte das tun müssen, finde ich, verfluche die elende Zeitverschwendung und möchte an dieser Stelle daher für eine allgemeine Uniform plädieren, damit ein- für allemal Schluss mit dieser Kleiderkauferei ist. Die Uniformen will ich auch nicht kaufen gehen müssen, sondern man soll mir alle drei Monate einen aktuellen Satz mitsamt Unterwäsche und Socken zuschicken und das Geld dafür abbuchen. Natürlich müsste die Uniform bei 60° C waschbar und trocknergeeignet sein. Man müsste darin auch radfahren können.

Gut, manche Leute würden sich zuerst ein bißchen ärgern. Ganz schnell wäre es mit dem Ärgern aber vorbei. Die ganze Zeit zum Aussuchen, Einkaufen, Anziehen: Was man in diese Zeit alles machen könnte. Die halbe Welt schaut ja gerade immerzu Serien. Die könnten dann noch mehr Serien sehen. Ich würde morgens länger schlafen und müsste mir endlich keine Gedanken mehr machen, ob das, was ich anhabe, eigentlich auch für einen Spielplatz, die Staatsoper oder ein Verwaltungsgericht sozialadäquat aussieht, und wer sich auch nach einer gründlichen Probierphase mit der Uniform nicht abfinden kann, macht dann einfach nicht mehr mit, bedauert und bemitleidet von den entspannten und ausgeschlafenen Uniformträgerinnen.

19. Dezember 2015

Aus irgendeinem Grund existiert der verbreitete Glaube, Spielen mit Holz sei für die kindliche Entwicklung per se wertvoller als Spielen mit Plastik, sogar dann, wenn die Kinder eigentlich das Gleiche spielen. Von diesem Glaubenssatz existieren eigentlich nur anderthalb Ausnahmen: So gut wie jeder, den ich kenne, findet Legosteine total gut, und die allereallermeisten auch Playmobil. Gründe für die Grundannahme und deren Ausnahmen gibt es, soweit ich das beurteilen kann, eigentlich keine, außer dem Umstand, dass es beide Spielzeugsystem schon in den Achtzigern gab, und die Leute, die heute kein Plastik mögen, sich gern an ihr eigenes Spielzeug erinnern.

Weil jeder Lego mag, leuchtet das Lego Discovery Center auch jedem ein. Es ist deswegen voll, sogar sehr voll, aber trotzdem ist die Stimmung gut, kleine Kinder bauen Gebäude, Autos, Väter setzen sehr konzentriert Stein auf Stein, und es gibt auch ein paar Attraktionen wie ein Karussell, eine Art Geisterbahn und ein Kino, in dem ein 3D-Film läuft, und außerdem wird die Handlung durch Wind und Niederschlag unterstrichen. Von den großen Legomodellen, die ich erwartet hatte, gibt es auch einige, aber weniger als ich dachte. Das macht aber nichts, weil der F. sowieso nicht die von anderen Leute gebauten Häuser anschauen will, sondern eigene errichten. IMG_1175

Als der L. mit seiner Mutter erscheint, ist der F. mit den meisten Attraktionen im Center schon durch. Drachenbahn, Miniwelt, alles schön und gut, aber der F. kramt in den Tausenden Legosteinen und will nicht weg. Widerstrebend lässt er sich wegziehen, aber beim nächsten Besuch setze ich mich einfach in das Café und trinke Kaffee und warte auf den F., der dann stundenlang Bauten errichtet. Diesmal geht das nicht, denn um 18.30 wartet draußen des F. Babysitterin und fährt mit ihm nach Hause.

Wir dagegen steigen in den Bus 200 und fahren ins Neni. Unter uns liegt in stumpfer Schwärze der Zoo, auf der anderen Seite blinkt der Kurfürstendamm. Mek und die K. erzählen Geschichten, ich lache, erzähle zurück und werde irgendwann so, so schrecklich müde, dass ich Charlottenburg über bekomme und nach Hause möchte, um mich zusammenzurollen in meinem eigenen Bett und vom Winter und den Sternen träumen.

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18. Dezember 2015

In Neukölln bin ich gern. Ich mag die Studenten, die aus Ontario, Lyon oder Stuttgart kommen könnten, ohne dass man das sieht oder hört. Ich mag die Bars, in denen die Luft noch angefüllt ist mit so einer feinstofflichen Nervosität, Wunsch und Begehren, Bier und manchmal sogar noch Rauch. Ich schaue auch gern Leuten beim Jungsein zu.

Besonders gern in Neukölln bin ich mit Mek. Ich glaube, ich war das ganze Jahr nur mit Mek in Neukölln, weil der J. da nicht so recht zu überzeugen ist, und ich die Frau Engl nur ein einziges Mal besucht habe im ganzen Jahr, das war beim Tomatenessen, und auf einmal tut es mir leid um das Jahr 2015, obwohl es ein schönes Jahr war, weil ich weniger gelebt habe, als ich eigentlich wollte, und nehme mir vor, dass 2016 bunter, saftiger und herzhafter wird.

Für heute Abend aber trinke ich Wein und Bier und laufe durch den falschen Frühling Dezember die Elbestraße abwärts und die Weserstraße empor, der Spree entgegen.

16. Dezember 2015

Alle anderen Leute im Filetstück sind älter als wir, und wir fühlen uns sehr jung, füllenhaft beweglich sozusagen, und bestellen aus lauter Übermut Bier, Wein und Sekt und ganz viel Fleisch. Hell glänzt hinter den Scheiben die Schönhauser Allee, gekrönt von dem grünen Bogen der U 2.

Wir bewundern die Kronleuchter über den Tischen und fragen nach dem Blauen Zweigelt, der hier immer gut war. Ich verstehe eigentlich nichts von Wein, kann mir ein paar Namen merken und ein paar Trauben, und kaufe ansonsten nach Etikett. Da sitze ich also und hebe mein Glas.

In den Spiegeln an der Wand sieht man, dass ich ungeschminkt bin und ein bisschen ungebürstet. Ich habe ein Kleid an, das mir nicht so besonders gut steht, und wenn ich mir selbst in die Augen schaue, weiß ich nicht, ob ich mich mögen würde, wenn ich mich nicht kennte. So aber proste ich mir zu, freue mich auf mein Steak, lobe die guten Vorspeisen und lächele in den Abend.

 

Dienstag, 15.12.2015

Man muss sich das also so vorstellen: Sie kommen aus dem Büro. Sie haben ein rotes Etuikleid an und isabellafarbene Pumps. Sie beeilen sich mächtig, sie laufen auf ihren sieben Zentimetern die Treppe hoch und sacken dann auf der grauen Auslegeware in sich zusammen. Auf der Bühne vor Ihnen wandern 15 Kinder in rudimentären Verkleidungen um eine Trittleiter herum.

Die beiden Erzieherinnen lesen „Peter und der Wolf“ vor. Die Kinder spielen, ab und zu soll ein Kind mal einen Satz sagen, der dann so vernuschelt und leise kommt, dass eigentlich nur derjenige das Stück versteht, der es kennt. Im Raum dürfte das aber eigentlich jeder sein, weil die Kita die Eltern dermaßen handverlesen hat, dass Eltern ohne Bezug zu klassischer Musik von vornherein nicht vorkommen dürften. Die Kita ist städtisch, aber der Kiez so gründlich gentrifiziert, da ist es dann auch schon egal.

Bevor Sie sich so langweilen, dass sie ihr Handy aus der Tasche ziehen, ist das Stück zuende. Sie dürfen aufstehen, in den Gruppenraum gehen und Blechkuchen essen. Den haben angeblich die Kinder gebacken. Weil er eigentlich ganz gut schmeckt, bedanken Sie sich in Gedanken bei den Erzieherinnen und trinken schnell zwei Tassen Kaffee. Während dessen klettert Ihr Dreijähriger auf Ihnen herum und Sie fürchten für Ihre Strumpfhosen.

Die Kinder haben gebastelt, und die gebastelte Seifenschale sieht bei freundlicher Betrachtung aus wie ein etwas extravagantes Schnitzel. Sie bedanken sich überschwänglich. Gleichzeitig erreicht der Lärmpegel das Niveau einer Werkshalle, in der riesige Maschinen abwechselnd gegeneinander donnern, während andere Maschinen schrill pfeifen und quietschen. Ihr Sohn baut mit großer Konzentration einen Gegenstand aus Lego, der der Seifenschale ein wenig ähnelt.

Sie würden sich eigentlich ganz gern mit den anderen Eltern unterhalten, die sind nämlich eigentlich ganz nett. Kurz brüllen Sie mit einer andern Mutter eine Kurzunterhaltung über Brüssel, eine Ausschussanhörung und widerliche Flughäfen, und sprechen mit einer anderen über einen Künstler, den die andere Mutter überschätzt findet, und Sie auch. Mit den meisten Anwesenden könnten Sie durchaus eine ganz nette Unterhaltung führen, aber nicht hier.

Endlich dürfen Sie weg. Sie atmen dreimal ganz tief die feuchte, kalte Winterluft ein, sie schieben ihr Rad durch die Dunkelheit, und dann fahren Sie mit Mann und Sohn zu IKEA, weil es jetzt doch auch schon egal ist. Sie wandeln durch die schwedischen Dekohöllen, sie kaufen Decken, Lampen, Kinderschränke, und Sie sind so göttlich entspannt wie Buddha herself, denn Sie wissen: Sie sind entkommen.

14. Dezember 2015

Die Welt ist schön, denke ich und umschließe meine ersten Kaffee des Tages mit beiden Händen. Es ist kurz nach sieben und ich sitze im Bett.

In Paris gibt es ein Klimaabkommen, das tatsächlich alle Staaten zum Sparen veranlassen will, und der Front National hat nirgendwo gewonnen. In meiner Timeline tauchen die Anfragen der Notunterkünfte in Pankow/Prenzlberg auf und werden binnen weniger Minuten beantwortet. Ein Buggy. Winterschuhe. Zwei Männer, die etwas tragen, und ein paar Nachbarn, die mit den Kindern spielen. Längst nicht alles ist gut, denke ich. Aber Vieles besser, als erwartet.

Auf dem Weg zur Kita singt der F. fröhlich an meiner Hand. Freude, höre ich. Freude, jubelt der F. in der engen Bäckerei und bekommt einen Keks über den Tresen gereicht. Freude, schöner Götterfunke, jauchzt der F. auf dem Weg durch die endlich dezemberhafte Kälte und strahlt mich schräg von unten an.