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Tagebloggen (2)

Es gibt Shakshuka. Ich schneide Paprika, Zwiebeln, öffne eine Dose Tomaten und brate Harissa an. Der J. kocht Kaffee mit seiner stöhnenden, blubbernden Maschine und Freundin J. 2 sitzt am Küchentisch hinter dem weiß-rosa Strauß, den sie mir mitgebracht hat, und erzählt.

Vermutlich wiegt die sportliche J.2 zehn Kilo weniger als ich, und ich stelle erfreut fest, dass mich das nicht mehr stört. Vor zehn Jahren habe ich ziemlich viel über mein Aussehen nachgedacht, aber heute schiebe ich Paprika und Zwiebeln durch meine Pfanne und es ist mir gleich. Einerseits ist das ziemlich super, andererseits auch ein bisschen unheimlich und hoffentlich nicht der erste Schritt auf der abschüssigen Bahn der verlotterten Leute, die man manchmal in der U-Bahn sieht.

Als die J.2 gegangen ist, gehen wir auf den Markt. Bei uns gibt es einen kleinen Markt, eine Zeile Gemüse und Obst, Fisch und Fleisch, ein paar Stände mit Essen und Wein, immer ein paar Nachbarn mit ihren Kindern, und wir kaufen Zuckerschoten und Radieschen, Melone und Blaubeeren. Abends soll gegrillt werden, beschließen wir und kaufen dafür ein, und dann sitze ich auf dem Balkon, lese, und der F. sitzt neben mir auf dem Sofa und blättert glucksend in ein paar Comics. „Asterix und die Briten“ ist sein Favorit.

Nachmittags treffe ich Freund J.2 auf dem Spielplatz. Eigentlich laufen wir die ganze Zeit hinter seinem Jüngsten zwischen den Spielgeräten hin und her, erzählen uns was über unsere Jobs, über Zukunft und Vergangenheit, beschweren uns, dass wir zu wenig unternehmen und nehmen uns vor, die nächste Spielzeit aber mal so richtig mitzunehmen, auch wenn wir beide wissen, dass wir uns das seit Jahren vornehmen, aber es nie so richtig klappt.

Am Abend liege ich auf dem Sofa. Ich lese Zeitung, ich plane Ausflüge nach Hamburg und Wien, ich schaue mir im Internet die Urlaubsbilder meiner Freunde an und dann lese ich, halb schon im Einschlafen, zwei Gedichte, die ich einmal sehr mochte, und frage mich, ob ich noch einmal so berührbar sein werde, dass mich Lyrik erreicht.

Tagebloggen (1)

Vielleicht fährt unsere Welt gerade zur Hölle, wenn man so ins Internet schaut, aber ich sitze in meinem Büro in meergrün und weiß, schaue auf den Karpfenteich im Hinterhof und trinke eine Schale langsam erkaltenden Genmaicha.

Am alten Kempinski vorbei radele ich den Ku’damm abwärts Richtung Kreuzberg und nehme mir vor, einmal darüber zu schreiben, wie ich mein erstes Steak Tartare als Kind im Kempinski gegessen habe, und wie grandios ich den Messingwagen fand mit den vielen kleinen Schälchen mit den Zutaten und überhaupt, wie toll dieses alte Berlin war. Wie es roch, wie es aussah, und wie schade, dass nicht mehr davon übrig ist.

Höhe KaDeWe fallen ein paar Tropfen, aber schon zwei Kilometer weiter ist die Straße wieder trocken, und selbst meine Haare fühlen sich an, als hätte es nicht geregnet, ach, nie geregnet, seit April nicht mehr geregnet, und als ich am Landwehrkanal mein Rad abschließe, sehe ich zwischen den Gehwegplatten ein paar letzte Büschel vertrocknetes Gras. Die Bäume sind staubig und zittern.

Im Feedback gibt es Kantonküche, und als ich sehr schnell einige Dim Sum, ein Aperol Spritz und ein Bier getrunken habe, fühle ich mich auf einmal sehr schwer. Freund M. erzählt von seinem neuen Job, wir sind glücklich und trinken auf die Liebe, und als ich einige Stunden später von der Oranienstraße aus nach Hause fahre, ist die Nacht noch so warm, so verheißungsvoll, so vielversprechend wie eh und je.

Der vierte Tag (tddl)

Ich bin unfassbar müde. Im Lendhafen ist es erst warm, dann kühler, dann wieder wärmer, und ich trinke sehr schnell drei Kaffee, um nicht wegzudämmern.

Immerhin ärgere ich mich über Jacob Noltes Text ausreichend, um nicht einfach selig wegzuschlummern. Vermutlich sind die schiefen Bilder Absicht, und die Geschichte eines Mädchens, das in Mexiko Urlaub macht und in einem Tagebuchauszug einen Ausflug beschreibt, soll durch komplette Trivialität die Trivialität Gap Year feiernder Studenten geißeln, aber was soll mir das sagen? Dass solche Leute ein bisschen banal sind? Das wusste ich schon. Ein absichtsvoll schlechter Text kann durch seine Fehler eine andere Geschichte erzählen, aber eine solche unerzählte Story ist hier nicht einmal angedeutet.

Beim nächsten Text bin ich wach: Stefan Groetzner liest einen (nur etwas zu langen) grotesken, verspielten Text über eine Misswahl, eine Weltmaschine, ein aus bunten Klischees erfundenes, knallbuntes Österreich, und ich muss tatsächlich lachen. Ich denke an Herzmanovsky-Orlandos Tarockanien, Jandl, an das „Paradies der falschen Vögel“ von Hildesheimer, und an die Illustrationen von Paul Flora. Ach, und überhaupt Maschinen. Ich bin ein Riesenfan von Maschinen.

Dann wird es hart. Frau Özlem Özgül Dündar verleiht vier Müttern eine Stimme, die über einen Brandanschlag sprechen. Der Text ist nicht realistisch, so sprechen weder die Toten noch die Überlebende und auch nicht die Tätermutter. Es ist ein ergreifender Gesang über den Schrecken, das Sterben, die Unmöglichkeit des Weiterlebens, die Unfassbarkeit von Schuld, dabei ästhetisch bis in jede Spitze gefügt. Der bekommt einen Preis, denke ich, und dann gehe ich in die Stadt und kaufe für den J. und den F. auf dem Markt ein Geschenk.

Der letzte Text erinnert mich an ein Comic. Lennard Loß ist jung, sehr jung, so jung, dass man ihm sogar seinen etwas schnöseligen Vorstellungsfilm verzeiht, der sich anhört, als betrachte er Arbeiter wie ganz besonders aufregende Eingeborene in der Südsee. Leider ist der Text trotzdem nichts. Es geht um einen Flugzeugabsturz, die RAF, einen teuren Bleistift, einen Zahntechnikmeister, der in der SS war, ein Heimkind unter falschem Namen: Es ist, kurz gesagt, eine Kreuzung aus Life of Pi und einem Tarantinofilm über Nazis und Terroristen.

Dann gehe ich schlafen. Und schwimmen (2. Stein!). Und Essen, weil man in Klagenfurt großartig essen kann. Und trinken im Lendhafen. Und als ich schlafen gehe, hämmert irgendwo in diesem Hotel jemand dreimal ganz laut gegen die dünnen Wände.

Der erste Abend (tddl)

Dieses Jahr nimmt mich mit. Diese plötzlich aus dem heiteren Himmel des boomenden Landes hereinbrechende Breitschaft, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gegen Härte und böse, gehässige Worte auszutauschen. Sorgfältig seine Worte zu wägen, dass sie bloß nicht zu großzügig daherkommen, weil man den Wähler, den Abonnenten, den Nachbarn bloß nicht verärgern will, den man sich böse, neidisch und engherzig vorstellen muss: Einen dumpfen Kerl, dem es nichts ausmacht, dass jeden Tag im Mittelmeer Menschen ertrinken, die nicht ertrinken müssten.

Ich will weg von dieser brodelnden Bösartigkeit, vier Tage zurück in ein anderes Land. Wisst ihr noch, denke ich, vor fünf Jahren. Ach, vor zwei. Als wir alle dachten, dieser Boden unter unseren Füßen sei fest. Ich will aber über Bücher sprechen, über Innenwelten, über schöne Worte, über Dramen, die unblutig enden. Keine toten Kinder am Strand.

Aber dann geht es doch wieder um die anderen und auf dem Weg zur Theke höre ich fremde Leute über die Barbaren sprechen, die an den Toren rütteln, und als Feridun Zaimoglu gegen die Bösen predigt und der Regen vorm ORF-Theater fällt, wünsche ich mir einen Zauberspruch, der uns alle von diesem Jahr erlöst.

Ich wünschte ich würde mich für Fußball interessieren

Ich sage nur: Neunzig. Neunzig Minuten. Ich kann nicht einmal einen einstündigen Podcast am Stück hören, ohne mehrfach zu unterbrechen, gleichzeitig abzuwaschen, mir eine Haarkur in die Haare zu schmieren, unruhig durch die Wohnung zu tigern, und mir eine vernünftige Software für die Transkribierung zu wünschen. Dabei höre ich natürlich sowieso nur Podcasts über Themen und von Leuten, die mich richtig interessieren. Oder sehr lange Bücher. Konnte ich früher sehr gut, aber heute schaue ich alle hundert Seiten mal nach, ob das Internet noch steht. Dabei interessiert mich alles, was in dem Buch steht, total, sonst hätte ich das Buch ja gar nicht gekauft.

Bei Büchern und Podcasts erwartet aber immerhin niemand gebannte Aufmerksamkeit. Aber haben Sie schon mal an einem öffentlichen Ort, an dem Leute Fußball gucken, alle paar Minuten in ihr Handy geschaut? Und wenn ja: Wieso verwenden eigentlich nur so wenige Leute bei Twitter Hashtags, die man muten kann? Ich erwarte doch auch nicht, dass sich jeder fürs Bachmannlesen interessiert, wieso gilt man schon als Nerd, wenn es einem von Herzen egal ist, ob Deutschland, Togo oder Luxemburg Fußballweltmeister wird? Und warum gibt es eigentlich derzeit keinerlei gesellschaftliches Event, bei dem es keinen Fußball gibt? Wobei: Wenn Leute nicht über Fußball sprechen, sprechen sie über Politik, da muss man auch schrecklich aufpassen, wo man hingerät, Langeweile ist ja immer noch besser als Ärger.

Nun schwimme ich eigentlich nicht so gern gegen den Strom. Es gibt Leute, die haben ein oppositionelles Temperament, die fühlen sich immer nur wohl, wenn sie etwas anderes meinen als jeder sonst. Das trifft auf mich überhaupt nicht zu. Ich mag ziemlich viele Leute nicht, weil ich die laut oder stumpf oder bösartig finde. Oder weil sie schlecht riechen. Aber  generell falle ich nicht gern so total aus dem Rahmen. Um so unangenehmer, wenn der Rahmen auf einmal wochenlang nur so fußballförmig daherkommt. Gestern zum Beispiel war ich Fußballgucken zu viert, es gab Bier in einem Biergarten, alle waren total gespannt, Niedergeschlagenheit, Jubel, in der Luft hingen dichte Schwaden von Emotion, und ich starte abwechselnd auf die Blätter (was für Bäume sind das?), die Fenster (das entspricht nicht dem aktuellen Effizienzstandard!) und bedauerte, dass ich mich nicht mit mehr Bratwurst ablenken konnte, weil ich schon gegessen hatte.

Heute morgen habe ich gelesen, die Deutschen würden vielleicht schon wieder Weltmeister. Ich kann das nicht gutheißen. Die nächsten Wochen soll das immer so weitergehen? Will mich denn niemand einladen und es gibt keinen Fußball? Spricht hier eigentlich noch jemand weder Fußball noch über Politik? Ich bin auch mit Partypatriotismus durch, ich denke bei deutschen Fahnen inzwischen nicht mehr tanzende Fans, sondern an Pegida. Ich will mich nicht so fürchterlich konzentrieren müssen, damit niemand merkt, dass ich nicht richtig zuhöre. Oh mein Gott: Ich wünschte, ich würde mich für Fußball interessieren.

Die Liebe in Gedanken

Waren einmal ein junger Mann und eine Frau, lebten irgendwo in einem kleinen Dorf, und vielleicht wären sie damals zusammengekommen und hätten geheiratet, wenn sie nicht weggegangen wäre als einziges Mädchen aus dem Dorf und Lehrerin geworden wäre, und er blieb und wurde Installateur. Wenn sie in den Semesterferien nach Hause kam, traf sie ihn und sie sangen gemeinsam und er spielte Akkordeon.

War eine junge Lehrerin, die sang im Chor in der Kleinstadt, in der sie das Kultusministerium geschickt hatte, und traf einen Arzt, der Witwer war und drei Kinder hatte und heiratete ihn und bekam noch ein weiteres Kind. Gab ihren Beruf auf, erzog vier Kinder, und als der Arzt starb, war sie 40 und ging wieder unterrichten. Im Urlaub fuhr sie mit den vier Kindern in die Berge zelten oder setzte sie in den Zug in das Dorf, aus dem sie kam. Urlaub bei Oma.

War ein Installateur, der heiratete erst ein Mädchen aus dem Dorf, dann eine Frau aus dem sehr fernen Osten, die ihn beide verließen. Trank ein bisschen zuviel, hörte dann ganz auf zu trinken, wurde ziemlich wohlhabend und spielte abends allein im Garten seines sehr großen Hauses Akkordeon vor einem Brunnen.

Trafen sich der Mann und die Frau Jahr für Jahr in der Weihnachtsmesse, sie mit Eltern und vier Kindern. Er erst mit seiner Mutter. Dann allein. Freute sie sich irgendwann schon auf dem Weg ins Dorf auf den kurzen Schwatz. Trafen sie sich am ersten Weihnachtstag zum Weihnachtsbaumloben. Verabredeten sie sich irgendwann, als ihre vier Kinder schon recht groß waren. Spazierten sie einmal, zweimal, dreimal um das Dorf und fanden kein Ende. Saßen sie zu Silvester in ihrem Elternhaus und sangen gemeinsam zum Akkordeon.

Verkaufte sie das Haus ihrer Eltern. Verkaufte er die Firma und sein Haus. Kaufte er ein Haus am Mittelmeer und eine Wohnung in der Stadt, in der sie auch lebte. Wurde sie pensioniert. Fuhr sie mit ihm ans Meer. Zogen sie in der Stadt zusammen. Heirateten sie kurz vor Weihnachten vor drei Jahren.

Jetzt haben sie sich wieder getrennt. Ihre Mutter, meint meine Freundin, bleibe die letzten Jahre wohl lieber allein.

Tänzer

Ach, denke ich. Mal wieder tanzen. Nicht in irgendeiner fensterlosen Halle mit Leuten, die schrecklich schwitzen. Nicht im Dunklen. Vielleicht am Meer, am Abend auf einer weißen Terrasse über schimmerndem Sand. Vielleicht auf einer Wiese. Ich würde ein langes Kleid tragen, mit Blumen drauf, meine Schuhe ausziehen, damit meine Absätze nicht einsinken, es sollten Männer in Anzügen spielen, und ich würde die Augen schließen und solange tanzen, bis ich mich vergesse, verliere, mich auflöse in Sommer und Nacht, und käme am nächsten Morgen müde und frierend nach Hause, meine Schuhe ramponiert in der linken Hand.

Fürchte dich nicht

Vielleicht hat er’s von mir. Ich bin bis heute außerstande, einen Horrorfilm zu sehen, ohne mich in den Unterarm meines Nachbarn zu krallen, bis der glaubt, ich sei von der Dunklen Seite entsandt, um ihn zu zerfleischen. Oder es liegt an mangelnder Abhärtung, weil wir keinen Fernseher haben und in F.’s Anwesenheit auch keine Filme auf dem iPad sehen. Wie auch immer: Letzte Woche hätte der sechsjährige Sohn fast den Kinofilm „Biene Maja“ verlassen, weil die Aussicht, dass Majas Bienenstock den Sommerhonig herausgeben hätte müssen, fertig gemacht hat. Ungefähr die Hälfte des Films saß der F. stocksteif vor Aufregung auf meinem Schoß.

Im Flugzeug nach Thailand sah der F. dreimal hintereinander „Puh der Bär“, weil die ersten fünf Minuten Lego Ninjago genauso unerträglich spannend erschienen wie die von „101 Dalmatiner“. Und bei den von ihm geliebten Hörspielen kommt nur Wssstwsss gut an, die komplett ohne Spannungsbogen auskommen. Aber auch bei Büchern äußert sich eine gewissermaßen gesteigerte Empfindsamkeit. Die Sache mit den Drei Fragezeichen zum Beispiel ist ebenso wie die Geschichte mit Jesus, Pontius Pilatus und dem Kreuz nicht gut aufgenommen worden.

Letzt Woche dann beschloss ich, dass es so nicht weitergehen könne. Vermutlich ist es F.’s Ansehen nicht förderlich, wenn er im Kindergottesdienst schluchzt, wenn Gott, der Allmächtige und Allwissende, die Städte Sodom und Gomorrha mit Mann und Maus vernichtet. Ich zog also los und erwarb den ersten Band der Kinderbuchreihe „Der kleine Vampir“. Die älteren unter Ihnen kennen das Buch.

Am selben Abend setzte ich mich an des F. Bettrand, zückte das Buch und begann. Nach wenigen Zeilen bat der F. mich um den sofortigen Wechsel zu Bullerbü. Nach einigen Zeilen mehr versteckte er sich unter der Bettdecke. Zwei Stunden später stand er mit seiner Decke über dem Arm vor unserem Bett, kroch in die Mitte und ist bis zum heutigen Tage nicht mehr aus unserer Schlafstatt zu vertreiben.

Und um ganz sicherzugehen, kuschelt der F. seit neuestem mit Knoblauch.

Das Glück

Weil Freundin I. Schwangerschaftsdiabetes hat, habe ich schon am Freitag eine chinesische Tomatensuppe geplant, also so eine angedickte Hühnerbrühe mit Tomaten und verschlagenem Ei und Sesamöl, und danach Rindfleisch mit Paprika und Austernsauce aus dem Wok. Ananas und Zitronensorbet geht nur ganz wenig.

Weil am Samstag nach Leipzig keine Züge fahren, können M. und M. mit den Kindern nicht zum Familiengeburtstag fahren und melden sich kurzerhand auch noch bei uns an. Wir kennen uns alle ganz lange und so gut, dass wir in den Küchen der jeweils anderen bedenkenlos die Kühlschränke aufreißen und wissen, wo was in den Schränken steht, deswegen wundere ich mich überhaupt nicht, sondern kaufe einfach noch Tofu und Rindsgehacktes hinterher. Mit Knoblauch, Ingwer, Miso und Gochujang köchelt mein Mapo Tofu kurz vor vier auf dem Herd. Reis und Suppe stehen fertig in der Loggia.

Neben mir schneidet der F. sehr exakt und konzentriert Lauch in schmale Streifen. Der F. ist jetzt sechs und viel, viel geschickter als ich. Ich glaube, ihm ist noch nie etwas kaputtgegangen, und er hackt Ingwer, deckt Tische und verteilt Servietten durchaus gekonnt und mit beständig guter Laune. Das halbe Internet ist voll von Texten, in denen Eltern mit einem merkwürdigen Stolz auf ihre ungezogene Brut von lauthals plärrenden Gören berichten, die alles zertrümmern, was ihnen zu nahe kommt, bevor sie allnächtlich lautstarke Parties feiern, aber der F. isst und schläft wie eine eins, ist quasi nie krank und hilft bereitwillig im Haushalt. Auf einem Hocker steht er schließlich am Herd, rührt mit Stäbchen in einer Pfanne Rindfleisch und Paprika, damit sie nicht ansetzen, und schüttet mit der linken Hand gekonnt den ganz fein gewiegten Ingwer dazu.

Als ich noch klein war, mussten die Kinder in der Küche essen und die Erwachsenen saßen im Esszimmer. Bei mir sitzt jeder in der Küche, die Kinder lärmen direkt neben uns an einem Campingtisch, und verschlingen unglaubliche Mengen Reis mit Sojasauce und mikroskopisch kleine Portionen aller anderen Speisen. Der ganze Rest geht auf uns.

Urlaubsbedingt haben wir uns wochenlang nicht gesehen. Es geht um Urlaubsziele und Essen, alte Freunde und noch ältere Feinde, große und kleine Politik, Pläne für demnächst und später, und ab und zu rennt – längst sind die Kinder aufgestanden – ein einzelnes Kind in aberwitzigen Verkleidungen durch den Raum. Der M. holt beim Späti noch mehr Bier, ich trinke ein drittes Glas Scheurebe und der F. jagt eigenem Bekunden nach mit den beiden Kindern von M. und M. in seinem Zimmer eine Mücke.

Kurz vor acht ist Schluss. Der Besuch verabschiedet sich, der F. gähnt und während der J. in der Küche die Spülmaschine einräumt, lese ich dem F. vor. Der kleine Vampir, gestern frisch gekauft, wird als „zu spannend“ abgelehnt, Bullerbü soll es sein, und so liegt der F. mit roten, runden Wangen gelöst auf meinem linken Arm, während ich Lisa und Britta auf Oles kleine Schwester aufpassen lasse, und der F. auf meinem Arm langsam schwerer und schwerer wird, bis sein Kopf zur Seite fällt. Leise gehe ich raus.

Schön, schreibe ich meiner Mutter auf WhatsApp, die wissen will, wie mein Wochenende war. Dass ich im Kino war, zweimal, und spazieren, und Freunde gesehen habe und Besuch hatte, und dass es mir sehr, sehr gut geht, und vielleicht ist das schon das Glück.

Wenn Shiva tanzt

Die indische Mythologie ist wahnsinnig verwirrend. Vermutlich stehen Inder ebenso fassungslos vor den Erzählungen eines Wüstestammes, der im Laufe der Jahrhunderte viel Ärger mit seinem ausgesprochen rachsüchtigen Gotte hatte und im Nahen Osten bedingt durch seine rauhbeinigen Nachbarstämme ganz gut rumgekommen ist. Aber bei den alten Indern erinnere ich mich im Wesentlichen nur noch an die vielarmige Göttin der Zerstörung und den tanzenden Shiva. Der stand aus Messing in einem Rad auf einer Fensterbank, die der Mutter des S. gehörte, einer immer leicht theatralischen Dame, Therapeutin, gern gekleidet in sackartige Tuniken mit Mustern wie englische Tapeten.

Diese ständige Präsenz des indischen Gottes der beständigen Wiederkehr muss auf den S. irgendeine hypnotische Wirkung ausgeübt haben.  Ich weiß aus sicherer Quelle, dass sein Mittelinitial „W.“ für Widukind steht und nicht für Wiederholung, aber Shiva scheint das anders zu sehen. Aber urteilen Sie selbst.

*

Der S. ist – wie die meisten von uns – Jurist. Er ist mittelmäßig attraktiv, durchschnittlich intelligent, normal freundlich und von mittlerem Temperament. Anders als andere Juristen, die erst mit Ende 30 allerfrühestens zur Familiengründung schreiten, heiratete der S. völlig überraschend mit 28  und wurde im gleichen Jahr Vater. Seine Frau kenne ich nur von Bildern, aber sie wurde mir als blond, sanft und ein bisschen dumm geschildert. Es handelte sich um eine Krankenschwester.

Der S. promovierte, wurde Anwalt, arbeitete sehr viel und fing eine Affäre mit einer Sekretärin an. Irgendwann wurde die Sekretärin schwanger, der S. musste sich entscheiden, der S. entschied sich für die neue Frau, die mir als blond, sanft und ein bisschen dumm geschildert wurde. Der S. war damals 37.

Der S. blieb Anwalt, wurde Notar, Partner der Kanzlei in der beschaulichen Universitätsstadt, in der er er sich ein Haus renovierte. Grüne Fensterläden, Rosen im Garten, noch ein weiteres Kind. Der S. wurde etwas stark in dieser Zeit, vor allem um die Hüften, aber auch seine Frau wurde wohl etwas mollig und noch behäbiger als zuvor. Es nahm also niemanden wirklich wunder, dass der S. irgendwann den Verlockungen der ihn umgebenden Weiblichkeit nicht mehr widerstand, höchstens, dass es diese Verlockungen überhaupt gab, aber wie auch immer: Der S. fiel in Liebe mit einer Physiotherapeutin, die mir als – ja, ja – blond, sanft und ein bisschen dumm geschildert wurde. Seine Frau zog zurück zu ihrer Mutter und fordert einen Haufen Geld, den sie vermutlich nicht bekommen wird. Die Physiotherapeutin zog bei ihm ein.

Und nun wartet die Welt auf das Kind. Auf die Scheidung. Und auf die nächste blonde, sanfte und ein bisschen dumme Frau an des S. Seite.

*By 23 dingen voor musea from Nederland (Shiva Nataraja) [CC BY-SA 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)], via Wikimedia Commons