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Die Großmutter des Erfolgs

Vor einigen Jahren – ich habe es selbst nicht gelesen – erschien ein Erziehungsbuch, das eine chinesischstämmige Amerikanerin geschrieben hat, die kommerziell sehr erfolgreich den Wert strenger Disziplin und harter Arbeit pries. Derzeit sprechen sich eigentlich alle anderen publizierenden Pädagogen für ein sanftes Wachsenlassen aus, schon deswegen erschien mir das Buch der Amerikanerin bemerkenswert, auch wenn ich selbst neben allen inhaltlichen Vorbehalten für dermaßen viel Erziehung zu faul wäre und außerdem fest glaube, meinem F. stehen schon wegen der Demographie alle Türen offen.

Dieses Buch beeindruckte nun die Mutter einer Freundin ganz über alle Maßen. Großmütter sind ja eigentlich ausnahmslos sehr am Wohlergehen ihrer Enkel interessiert. Diese Großmutter sah das Wohlergehen ihres Herzblattes jedenfalls in harter Arbeit und frühen Erfolgen, und so kaufte sie das verheißungsvolle Buch und gab es besagter Freundin. Diese reagierte nun so süßsauer wie jeder von uns, wenn unsere Mütter vorsichtig andeuten, ihre Enkel würden nicht optimal aufgezogen, und legte das Buch erst einmal beiseite. Also irgendwo auf den Schrank. Ganz oben hinten rechts oder so. Und als sie mehrere Monate später ihr Bücherregal aufräumte, legte sie das Buch noch ganz woanders hin, wo es erst mal liegen blieb.

Monate vergingen. Staub kam und wurde wieder weggewischt, die Großmutter erschein und reiste wieder ab, als eines Tages vor gar nicht so langer Zeit besagte Freundin eine Whats-App-Nachricht ihrer Mutter erhielt. Mütter lieben nämlich Whats-App, weil es ihrem Sinn für Sparsamkeit und der Neigung zu einer vermeintlichen Intimität optimal entgegenkommt. Auch diese Mutter schrieb den ganzen Tag Whats-Apps, und in einer dieser Whats-Apps stand, sie habe das Buch ihrer lieben Freundin R. geliehen, welche ebenfalls Großmutter geworden sei. Diese Dame sei ohnehin demnächst in Berlin und hole sich das Buch ab.

Meine Freundin suchte überall. Sie suchte auf den Regalen, in den Regalen, unter den Regalen, hinter den Regalen sowieso, und als sie auch unter dem Küchenschrank und in der Kiste mit alten Magazinen nichts fand, verdrängte sie den Gedanken an den Besuch der alten Dame fest, bis diese anrief und sich für Donnerstag morgen ankündigte. Sie bringe auch Semmeln mit.

Als auch die weitere Suche erfolglos blieb, begab die Freundin sich in die nahegelegene Buchhandlung. Das Buch kostete 25 EUR. Die Freundin kehrte um. Den Gegenwert von drei Pizzen einer kaltherzigen und brutalen Erziehungspsychopathin in den Rachen zu werfen, brachte sie nicht über sich. Darob vergingen die Tage.

Am Tag vor dem Besuch der Großmutterfreundin fasste die Freundin einen Entschluss. Sie packte Kind und Handtasche, betrat eins der größeren modernen Antiquariate der Stadt, die jeden Bestseller der letzten 50 Jahre führen, und fragte sich durch, bis sie das betreffende Buch in Händen hielt. Sie zahlte 9 EUR ans Antiquariat und nicht an Frau Chua, nahm das ordentlich zerlesene Buch mit und übergab es unangetastet am nächsten Tag. Um das kosmische Gleichgewicht wieder in Ordnung zu bringen, gab sie für wiederum 9 EUR den Pennern vor Lidl Bier und Chips aus, und nur, als die Großmutter einige Wochen später fragte, wieso sie auf die letzte Seite des Buches „Hundekacke“ geschrieben habe, bedauerte sie ganz kurz, kein neues Buch erworben zu haben.

Am Nachbartisch

Sie scheint Französin zu sein, klein und leicht und mit ausdrucksvollen Augen. Sie ist unglaublich dünn und für einen Moment beneide ich sie um ihre tolle Jeans und wie gut sie darin aussieht.

Neben ihr sitzt er. Er ist vielleicht 30, wohl ein paar Jahre älter als sie, und blättert in der Karte. Sie sieht gelangweilt aus, schaut weder in die Küche, noch auf die hell erleuchteten Kühlschränke, in denen riesige Steaks auf Esser warten, und sie schaut sich auch nicht um, was an den anderen Tischen passiert. Es ist 23.00 Uhr, letzte Nacht der Berlinale, und der Grill Royal dampft vor hektischer Erregung.

Irgendwann erscheint ihr Kopfsalat, von dem sie drei Blätter isst, um sich dann zurückzulehnen und ihn stumm anzuschauen. Ab und zu nippt sie an ihrem Wein, verschränkt die Hände und schaut ins Leere, irgendwo ganz hinten an die Wand vor den Toiletten.

Auch die Nachbarn haben ein Gemeinschaftssteak bestellt und sind – anders als wir – den Einflüsterungen des Kellners offenbar erlegen, noch ein zweites Filetsteak dazu zu bestellen. Rot und braun glänzt das Fleisch auf dem Tablett, er legt ihr zwei Scheiben auf den Teller und schüttet ein paar Pommes Frites dazu, die sie sofort an die Seite schiebt, als fürchte sie, die Pommes Frites würden durch zu große Nähe in ihren mageren Körper diffundieren. Dann legt sie sich wieder zurück und schaut ihn an.

Er isst, als gebe es kein Morgen. Er schlingt das Fleisch in sich hinein, er schiebt sich immer weitere Stücke in den Mund, stopft Pommes Frites und Bohnen hinterher, und mein geschätzter Gefährte J. schielt gepeinigt zur Seite, weil der Nachbar isst, als habe ihn ein Blinder im Neandertal erzogen.

Vielleicht schaut auch seine Begleitung deswegen so indigniert. Sie hat inzwischen das Besteck ganz beiseite gelegt, schaut ihn an wie einen irritierenden Gegenstand, eine Tasse etwa, die gestern doch noch nicht in der Küche stand, und zieht ein paarmal die Luft so stark ein, dass sich ihre Wangen nach innen verziehen.

Der J. und ich haben unser Steak inzwischen aufgegessen. Nur noch ein paar Bohnen liegen quer über einer schwarzen Schale. Wir trinken immer mehr von dem sizilianischen Rotwein, lästern über An- und Abwesende, betasten unsere neuen Bücher, und freuen uns auf das Wochenende.

Wir sollten mal nach Singapur fahren, sagt der J., weil der Film über Essen in Singapur so gut war, den wir gesehen haben. Aus den Augenwinkeln sehen wir das Paar am Nachbartisch feindlich schweigen.

Die fahren nirgendwo mehr hin, meine ich zum J. Zumindest nicht gemeinsam.

Klotz am Bein

Ein Kindergarten ist eine ernsthafte Sache. Ohne einen Kindergarten kann man nicht arbeiten gehen und verarmt, außerdem wird man ohne eine Kindergarten schon vor dem zweiten Geburtstag eines Kinder verrückt, weil ein Kind zwar die ganze Zeit interagiert, aber leider nur ausnahmsweise so, wie man sich gelungene Interaktionen gemeinhin so vorstellt. Für morgens und abends ein paar Stunden ist das ganz toll, aber ununterbrochen hält das keiner aus, außer er ist heilig oder verrückt.

Vor einigen Jahren gab es mal so eine Mode, Kindergärten total zu überschätzen. Damals glaubten viele Leute, es komme darauf an, schon quasi im Uterus Astronomie und Englisch und die Kunst der Komposition ganzer Symphonien zu lernen, ansonsten werde aus dem Kind maximal ein befristet eingestellter Sachbearbeiter im Amt für Liegenschaftsverwaltung oder ein depressiver Hausmeister. Das ist zum Glück wieder vorbei. Heute meint so gut wie jeder um mich herum zu wissen, dass es ziemlich egal ist, was Kitas machen. Die Kinder erreichen ungefähr den sozioökonomischen Status der Eltern, völlig gleich, was sie im Kopf haben. Diese Annahme beruht, meine ich, auf diesen PISA-Studien, die die OECD immer veröffentlicht, um die Öffentlichkeit aufzurütteln. Viele Eltern haben sich ganz im Gegenteil aber total beruhigt und können endlich wieder entspannen.

Auch die liebe N. sieht Kindergärten eher lässig. Ihr Sohn, der demnächst einjährige L., soll ein bisschen spielen, Freunde finden, im Frühling Ostereier bemalen und im Herbst Kastanienmännchen basteln. Nun ist es allerdings nicht ganz leicht, im Prenzlberg einen Kindergartenplatz zu finden, nicht einmal mit diesen doch eher zurückgenommenen Erwartungen, und erst recht nicht leichter wird die ganze Sache, wenn andere Mütter, konkret N.`s alte Freundin K., die ganze Sache keineswegs so leicht nehmen wie der Zeitgeist.

In dem Kindergarten um die Ecke beispielsweise hat die K. erst kürzlich den Speiseplan extrem kritisch hinterfragt. Dazu muss man wissen, dass in den städtischen Berliner Kitas die ostdeutsche Küche der Sechziger einfach immer weiterlebt. Wer nichts gegen Kartoffelsuppe mit Zwieback, Eierfrikassee mit Blumenkohl und Spirelli mit Wurstgulasch hat, wird bei dieser Ernährung ganz glücklich werden, wer sich etwas Zeitgemäßeres vorstellt, hat leider Pech gehabt und muss sich etwas Privates suchen, wobei die Chance, dass man da signifikant besser isst, als eher klein veranschlagt werden muss. Die K. allerdings sucht noch nicht so verzweifelt, dass sie diese Erkenntnis davon abgehalten hätte, mehr Weltoffenheit einzufordern, Biofleisch und generell mehr Vollkornprodukte.

„Modeste, so wird das nie was!“, jammert die N. und schaut trübsinnig in ihre Kaffeetasse. Völlig klar sei, dass die Kitaleiterinnen sich nicht ausgerechnet eine auf den ersten Blick erkennbare Nachfragerin, Bezirksamtsbriefschreiberin und Überraschungsbesucherin ins Haus holen. Die K. könne sich den Kitaplatz vermutlich von der Backe putzen, und sie, die N., als Freundin und Begleiterin der K. gleich dazu.

In einer anderen Kita hatte die K. bohrende Fragen nach den Methoden der Musikerziehung gestellt, in einem dritten Institut nach den Realisierungschancen einiger Projekte gefragt, von denen sie in der Zeitung gelesen hatte und die sie ganz interessant fand. In einer anderen Kita fragte sie, ob unter den Erzieherinnen native speaker der englischen Sprache seien, und in einer weiteren Kita fand sie den Garten zu klein und die Pflanzen lieblos ausgewählt.

Auf negative Effekte ihrer Strategie angesprochen, zeigt die K. sich unwillig. Gute Kitaleiterinnen würden, so meint sie, sich gern hinterfragen lassen und hätten kein Problem mit kritisch-engagierten Müttern. Bevor sie aber eine schlechte Kita den Werdegang ihres Sohnes ruinieren lasse, erziehe sie ihn lieber selbst.

Versuche, der K. auszuweichen und künftig ohne sie Kitas zu besuchen, haben aber auch nicht gefruchtet. Man kann Kitas nämlich meistens nur an festen Terminen besuchen, weil ansonsten immer Horden fremder Erwachsener durch die Kitas latschen und den Tagesablauf stören. Wenn es irgendwo eine Kita gibt, die gerade Schnuppertag hat, ist die K. aber zwangsläufig immer da. Manche Kita, die ihr besonders gut gefällt, hat sie schon mehrfach besucht.

So langsam wird die N. also nervös. Das Ende ihrer Elternzeit naht, irgendetwas muss nun geschehen, denn andernfalls wird vermutlich die ganze Sache mit der Kita nicht die Zukunft des Sohns der K., auch nicht die des Sohns der N., aber durchaus die der N. selber nachhaltig beschädigen. Vielleicht wechselt die N. aber auch einfach nur den Bezirk.

In Bildern, in Geschichten.

Wir bereisen Bilder. Wir besteigen Flugzeuge und denken an die blau-weiße Kühle der Pan Am und George Clooney Up In The Air. Wir landen in Dubai und trinken Kaffee für neun Dollar und schauen in die flirrende Hitze über dem Rollfeld. Dort, irgendwo zwischen dem gleißenden Himmel und dem stumpfen Sand reitet Lawrence von Arabien.

Wir landen in Indochine. Saigon flackert und blinkt, und irgendwo, weit hinten am Fluß, sitzt die Dienerin Mui und wringt Wäsche. Vom Taxi aus sehe ich Tony Leung, einen Strauß Nelken in der schlaffen Hand, und über den Drachenfruchtfeldern drehen sich die Rotoren der Hubschrauber. Wer die Augen schließt, hört die Schreie. Es ist der Wald, der das Platoon besiegt.

Am nächsten Morgen sitze ich am Meer. Über mir blähen sich die Segel der Kite Surfer, vermummte Obstverkäuferinnen tragen Kokosnüsse und Mangos über den Strand, und ich schaue meinem Sohn zu, der am Strand nach Sauriern gräbt, um Teil der Geschichten zu werden, wie wir.

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Jahresrückblick 2015, 2. Teil

Im Juli fahre ich nach Klagenfurt und werde sofort aufgesogen von Atmosphäre, Sommer und Wörthersee. In den letzten Jahren ging der Bachmannpreis ziemlich an mir vorbei, aber dieses Jahr sitze ich vor dem ORF-Funkhaus, im Lendlhafen oder im Saal, lasse mir vorlesen, lästere, lobe, notiere und freue mich, und komme ganz bestimmt wieder.

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Zurück in Berlin setzt der Sommer erst mal aus. Die Stadt leert sich zusehends, aber ich bleibe, grille auf der Terrasse bei M. und M., esse sehr, sehr gut im Dae-Mon am Monbijouplatz, im Txokoa in Neukölln mit Mek und auf der Thaiwiese in Wilmersdorf. Alle paar Tage picknicke ich alles, was noch im Haus ist, mit dem F. und seinen besten Freunden und deren Eltern im Volkspark Friedrichshain.

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Über mir strahlt wieder ein  tiefblauer Himmel, ich lese Mommsen und Lily King’s Euphorie und schlenkere mit den Beinen, während der F. mit seinen Freunden über die grüne Wiese läuft und ganz laut jubelt.

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Der August plätschert warm und gemächlich in der leeren Stadt an mir vorbei. Wir feiern Sommergeburtstage in Gärten, weil lauter Leute 40 oder drei werden, treffen nach der Kita Freunde und sitzen mit denen vor den Cafés von Prenzlberg herum und essen aus lauter Bequemlichkeit ständig bei den drei gleichen Restaurants um die Ecke. Ab und zu fahre ich abends nach Kreuzberg oder Neukölln, esse Tomaten bei Frau Engl oder treffe mich in irgendwelchen Bars und schaue Leuten dabei zu, erwachsen zu werden. Im nächsten Monat werde ich 40 und denke in den Wochen zuvor viel darüber nach, ob mein Leben zu mir passt, und was ich noch machen möchte in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren.

Vor dem Geburtstag aber fahre ich noch drei Tage an die Ostsee nach Dänemark. Meine Eltern sind dabei, mit denen ich als kleines Kind jedes Jahr in Dänemark war in ganz ähnlichen Häusern aus Holz am Meer, und ich sehe ihnen zu, wie sie mit dem F. spielen wie vor mehr als 35 Jahren mit mir.

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Im September werde ich dann wirklich vierzig und stehe in meinem geschmückten Büro und fühle mich komisch. Dabei habe ich mir eigentlich keine großen Auslassungen vorzuwerfen, ich will auch keinesfalls noch einmal 20 sein, und wenn ich in den Spiegel sehe, finde ich die Frau, die mich anschaut, nicht schön, aber freundlich und ganz zufrieden. Ich einige mich mit mir deswegen auf eine Art Phantomunbehagen, das nicht weiter hinterfragt werden sollte, und fahre umgehend mit drei Paaren und vier Kindern in den Urlaub.

In der Provence geht es mir gut. Ich bin mit beiden Paaren sehr lange befreundet, das allseitige Selbstdarstellungsbedürfnis tendiert deswegen gegen null. Wir liegen also am Pool, essen und fahren zwischen Küste, Städten, Klöstern und Supermärkten ambitionslos und gut gelaunt herum. Nur der F. wirkt etwas angespannt, der sich ausgerechnet mit der Tochter enger Freunde nicht so gut versteht. Als wir ihn nach unserer Rückkehr fragen, ob denn sein Teddybär wieder mit diesen Kindern verreisen möchte, verneint er. Er selbst, behauptet er, sei natürlich jederzeit wieder dabei.

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Im Oktober feiere ich erst meinen Geburtstag und arbeite dann, bis die Schwarte kracht. Überhaupt ist es ein arbeitsreiches Jahr, temproreich, auch reich an Erfolgen, aber anstrengender für mich als noch vor einigen Jahren. In meiner Erinnerung arbeite ich gerade im Frühling und im Herbst sozusagen immer, schlimmer als in den Zeiten vor der Geburt des F., als ich mich abends ewig nicht aufraffen konnte, nach Hause zu gehen, aber gleichwohl war ich in der Komischen Oper, es gab „Ball im Savoy“, und ich habe mich bestens amüsiert, und mit dem W. im Deutschen Theater in einem Stück über Selbstmordattentäter.

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Wie kann man nicht am Leben hängen, frage ich mich nach diesem Abend nach einem letzten Glas Wein auf dem Heimweg und freue mich über den unruhigen Himmel, die Wolken, den Geruch nach Abgasen, Staub und Fett auf der Torstraße und frage mich immer wieder, ob andere Leute eigentlich so anders eingerichtet sind als ich selbst, und es nicht auf Erden so schön haben möchten, wie es nur irgend geht.

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Weil im November sonst so wenig los ist, richten wir für den F. eine Halloweenparty aus. Wie zu seinem Geburtstag kommen sechs oder sieben andere Kinder mit ihren Eltern, es wird gut gegessen, getrunken, gelärmt und erzählt, und ich freue mich, dass der F. nette Kinder mit netten Eltern kennt und nicht Leute, die einzuladen mir keine Freude machen würde.

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Ich fahre wieder kreuz und quer durch die Republik, staune im Schwarzwald über die geradezu unwahrscheinliche Sauberkeit, plaudere mit Fremden in ICEs, verbrenne mir die Unterlippe mit Kaffee im Rheinland, beobachte fremde Leute an Flughäfen und schicke jeden Abend dem J. und dem F. Bilder, wo ich gerade bin. Abends gehe ich lange spazieren und genieße den langen, warmen Herbst.

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Am ersten Advent schließlich treffen sich beide Großelternpaare und wir an der Ostsee und feiern drei Jahre Ehe und freuen uns, wie der F. die Zeit mit seinen Großeltern genießt.

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Im Dezember bin ich wieder erkältet und krächze auf unglaublichen sechs Weihnachtsfeiern und einem Weihnachtsliedersingen in der Komischen Oper stimmlos vor mich hin. Der F. befindet sich in einem wahren Weihnachtstaumel, spricht quasi stündlich vom Weihnachtsmann und spekuliert über seine Geschenke.

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Am Nikolaustag führen wir ihn das erste Mal in eine richtige Opernaufführung und sind mit ihm glücklich, dass es auf Erden so etwas Großartiges gibt. Er ist groß geworden. Wenn er verabredet ist, soll ich ihn nur bringen und nicht mehr bleiben. Er bastelt, malt und erzählt den ganzen Tag und führt ein bewegtes Leben inmitten einer imaginären, aber sehr lebhaften Menagerie, die in unserem Keller lebt.

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Heiligabend sitzt er überwältigt inmitten von viel zu vielen Geschenken, und am letzten Tag des Jahres sitzt er spielend inmitten der anderen Gäste bei SvenK und seiner wunderbaren Frau, als der Himmel hell und bunt wird, es auf den Straßen von Berlin kracht und ich mein Glas darauf hebe, dass es auch in den nächsten Jahren nur Böller sein mögen, und die Tage fröhlich und leicht und der Himmel aus hellerem Licht.

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Jahresrückblick 2015, 1. Teil

Januar. Um Mitternacht stehe ich auf dem Balkon von M. und M. in Friedrichshain und hebe das Glas. Willkommen 2015. Die nächsten Wochen schleppe ich mich so durch die Tage. Ich wäre gern weggefahren, aber daran ist aus verschiedenen Gründen gerade nicht zu denken, und so halte ich den Januar irgendwie aus und verbrauche eine Großpackung Taschentücher. Damit möglichst viele Menschen etwas von meiner Erkältung haben, und weil ich mich zuhause schrecklich langweile, gehe ich zur Lesung von Judith Hermanns neuem Buch und ins Deutsche Theater zur Dramatisierung von „Jugend ohne Gott“. Das Theaterstück ist gelungen, das Buch wirkt schon beim Vorlesen mitleiderregend öde.

Im Februar lebe ich wieder auf. Der Februar ist in Berlin zwar eigentlich der scheußlichste Monat, weil es feucht, kalt und dunkel ist, aber im Februar macht mir das nichts aus. Ich fahre beruflich ein bisschen durch die Gegend, denn das mache ich inzwischen wieder ganz gern, fahre mit J. und F. drei Tage an die Ostsee und gehe ausführlich weg. Zweimal immerhin schaffe ich es zur Berlinale, einmal in die ausgesprochen originelle Zauberflöte in der Komischen Oper, und streiche mit dem J. und verschiedenen Freunden, die mir lustige Geschichten erzählen, durch die Markthalle neun, die Bars von Mitte, die Restaurants von Kreuzberg und sitze mit dem fast immer fröhlichen F. auf dem Sofa und erzähle ihm und mir lange Geschichten.

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Als es März wird, wird es auf einmal warm. Vor den Eiscafés sitzen die Leute und löffeln mit verklärtem Grinsen Eis in Geschmacksrichtungen wie „Vanille mit Kürbiskernöl“ oder „Karamellierte Anis-Birne mit weißer Schokolade und Pernod“.

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Mitte März trinke ich das erste Biergartenbier des Jahres und schaue nachts vom Neni aus über die leuchtende City West und den tiefschwarzen, nächtlichen Zoo, in dem Tiger brüllen und Affen mit riesigen grünen Augen in den Netzen ihrer Käfige vom Urwald träumen und tanzen.

Im April geht es mir gut. Zum erstmal seit 2012 sind der J. und ich erst eine Woche zu zweit in Berlin, weil der F. meine Eltern besucht und mir zweimal täglich telefonisch Sensationen berichtet. Er habe im Garten Blätter geharkt. Pferde auf der Koppel gesehen. Mit einer Kaffeemühle Kaffee gemahlen, wie auch Kasperles Großmutter sie besitzt und sich vom Räuber Hotzenplotz habe stehlen lassen. Wir gehen in Berlin währenddessen ausführlich essen und sitzen da drei Stunden rum und verzehren sieben Gänge, und ich sehe einen der merkwürdigsten Filme des Jahres: „Tod den Hippies, es lebe der Punk“, und lese, weil mir der Film so gefallen hat, gleich noch Oskar Roehlers Superbuch. Dann feiern wir Ostern im Garten der I. und des S. und fahren in Urlaub.

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Zypern erweist sich als Volltreffer. Wir baden im Pool, essen göttlich und besichtigen ganze antike Städte mit bestens erhaltenen Mosaiken. Von Bild zu Bild führen wir den F. herum und erzählen ihm Geschichten über Theseus und den Minotauros, Orpheus und die tanzenden Tiere und die schöne Helena. Noch ein Jahr später spricht der F. von Zypern. Gern nächstes Jahr wieder versprechen wir ihm und meinen es ernst.

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Der Mai leuchtet in warmen Nächte und Rosen. In der Komischen Oper bewundere ich Schönbergs „Moses und Aron“ und bitte Barrie Kosky im Stillen um Verzeihung, weil ich ihm die Inszenierung einer ernsten Oper nicht zugetraut habe. In der Preussischen Spirituosenmanufaktur lasse ich mir zeigen, wie man Schnaps braut, trinke auf dem Braufest Berlin verschiedene Biere und esse in der Cordobar in Mitte so tolles Essen, dass ich das ganze Jahr versuche, da wieder hin zu gehen. Weil Berlin gerade voll mit spannenden Lokalen ist, schaffe ich das aber erst wieder kurz vor Weihnachten.

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Bei der ersten re:publica, die ich jemals besuche, stelle ich einmal mehr fest, dass mich Vorträge langweilen, außer ich spreche selber, aber dann gehe ich unter zwischen lauter Leuten, die ich wirklich mag, und verliere mich, ein Bier in der Hand, in Gesprächen.

Im Juni stehe ich mit SvenK und seiner Frau auf dem Schiffshebewerk in Niederfinow und schaue über die Uckermark. Ostdeutschland war mir lange nicht so fremd wie 2015 mit seinen brüllenden Aufmärschen und brennenden Notunterkünften, aber das sommerlich warme Land atmet ruhig in der Sonne. Dass dieses Jahr kein Jahr wie andere ist, spüre ich zunehmend im Sommer, und auf dem Kaltblüterfest in Brück mit den neuen Freunden K. und P. schaue ich ab und zu den Leuten an den Ständen und Tribünen zu und überlege, was diese fremden Leute wohl denken und ob sie es sind, die in den Kommentaren im Internet von Mord und Brandstiftung schwadronieren.

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Wir eilen von einem Sommerfest zum anderen. Überall wird gegrillt, getanzt, gefeiert. Wir treffen Freunde, trinken Bier, lassen uns von Kindern, Wohnungen, Beförderungen erzählen und freuen uns über unseren freundlichen, fast ein wenig dörflichen Kiez. Wenn ich das Haus verlasse, treffe ich immer jemanden, den ich kenne, stelle ich spätestens in diesem Jahr fest. Ich habe es gut getroffen mit meinem Berlin.

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Bei Tristan

Weil wir bei der tollen Katia Kelm etwas zu lange geblieben sind, stehen, als wir ankommen, schon ein paar Bewohner vor der Turnhalle, in der jetzt, wie ich dem F. erkläre, Leute wohnen, die vor schlechten Menschen weggelaufen sind, die alles kaputtmachen und den Leuten wehtun wollten. Die Leute haben Kinder und ich google schnell, was auf Arabisch „Mütze“ heißt. Es ist kalt geworden in Berlin, und ich sehe mit ein bisschen Sorge die unbedeckten Kinderköpfe auf dem Weg zur Bahn.

In der M 10 reißt ein kleiner Junge aus der Gruppe immer wieder den Mund auf, um seiner Mutter zu erklären, wie groß das Sauriermaul ist. Der Saurier ist offenbar weltweit das Pony der kleinen Jungen.

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Vorm Naturkundemuseum ist es sauvoll. Ich löse Gruppentickets, rudere mit den Armen, poche auf Uhren, und dann drängelt der F. an mir vorbei in den Innenraum. Mit Riesenschritten marschiert er zweimal um die großen Sauriergerippe herum, erklärt Kindern, die ihn nicht verstehen, wer ein Pflanzenfresser ist und wer Fleisch isst, und dass keiner weiß, ob die Saurier ausgestorben sind, weil ein anderer Stern an unseren Stern gestoßen ist. Dann zieht er mich weiter in einen anderen Raum. Da steht er also: Tristan. Der T-Rex, der Saurier, den alle sehen wollen, und der F. starrt für mindestens 30 Minuten am Stück den Saurier an. Es ist gut, dass er tot ist, sagt der F. mehrmals, und dann verlassen wir Tristan.

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Die Urmenschen, die den F. gerade überaus faszinieren, hat das Museum leider gerade abgeräumt, so dass ich ihm demnächst zuhause zeigen muss, wie wir alle eines Tages aus dem Meer gekrochen sind, unsere Schuppen, unser Fell, unsere Klauen abgeworfen haben, uns hochgezogen haben. Wie aus Knurren und Quieken Worte geformt wurden, und wie wir nun, alle, die wir da sind, durch Berlin laufen. Wer gestern gekommen ist, und wer vor zwanzig Jahren.

Unsichtbarkeit

Katzen, wie man weiß, verfügen über ungeahnte Fähigkeiten. Meine Katze zum Beispiel kann sich unsichtbar machen, wenn sie für ein paar Stunden oder Tage einfach genug hat von dem ganzen Betrieb, oder mir zeigen will, dass ich sie brauche und ohne die Katze nicht einmal für fünf Minuten so ganz ungetrübt glücklich sein könnte.

Heute kam vermutlich beides zusammen: Zunächst war schon gestern Familie B. da. Mit Familie B. sind wir schon sehr, sehr lange zusammen. Wir haben mit dem R. sieben Jahre promoviert. Wir haben mal übereinander gewohnt. Wir haben zusammen ziemlich viele Feste gefeiert, sind in Urlaub gefahren, und nun treffen wir uns also am Sonntag nach Weihnachten, dem 5. Advent sozusagen, und essen Zimtschnecken und trinken Tee.

Familie B. hat eine kleine Tochter, die vierjährige C. Die C. verträgt sich eigentlich gut mit Katzen, denn auch Familie B. hat eine Katze. Katze Lilly jedoch ist eigentlich jeder Besuch zuviel. Ich glaube, Lilly hat uns ganz gern, aber unsere Neigung, ständig Leute einzuladen, kann sie nicht ausstehen. Dass dann gestern Abend auch noch der Mek kam: Eindeutig zuviel. Zudem schwelt zwischen Katze Lilly und mir ein Konflikt. Ich fürchte, ich bekomme von allzu innigem Kontakt mit Lilly einen fiesen Husten, und deswegen darf Lilly nicht mehr ins Schlafzimmer. Seitdem ist Lilly beleidigt, und der F. hat mir ernsthafte Vorhaltungen.

Als heute morgen dann nicht nur unsere Reinigungskraft, sondern auch noch deren Mutter erschien, verschwand Lilly und ward nicht mehr gesehen. Um vier, als ich mit dem F. und seinem Freund A. aus dem Tierpark kam, war sie weg.

Mir fiel das erst gar nicht auf. Der F. und sein Freund lärmten, als hätte ich zehn Kinder zu Besuch, und erst, als der A. abgeholt worden war, und der F. schlief, fiel mir auf, dass ich die Katze seit den früheren Morgenstunden nicht mehr gesehen hatte. Der J. und ich stellten uns also wie die Deppen in jeden Winkel unserer Wohnung und brüllten nach der Katze, schüttelten die Futterdose, säuselten alle Namen der Katze und rissen alle Schranktüren auf. Am Ende war ich sogar im Hof, im Müllraum, vor der Tür und auf allen fünf Stockwerken. Nichts.

Zwei Stunden später war ich zu Tode betrübt. Inzwischen war auch der F. wieder wach, und gemeinsam bejammerten wir das Los unserer Katze. Erfroren, verhungert, jammervoll in einen Keller gesperrt oder von fiesen Katzenfängern weggeholt. Händeringend sitzen wir also auf dem Sofa und lassen die Ohren hängen.

Am Ende kam die Katze natürlich wieder aus irgendeiner Ecke hervor, dehnte und streckte sich und legte sich majestätisch aufs Sofa. Ich könnte schwören, ich habe jeden Winkel der Wohnung durchsucht, und ich weiß: Die Katze war nicht zu finden. Die Katze war unsichtbar, und während wir überall nach der Katze suchten, saß die Katze hier irgendwo und grinste uns aus.

24. Dezember 2015

Am 4. Adventswochenende ist es überall schlimm voll, aber am 24. Dezember ist eigentlich alles wieder im Lot. Wir schlendern also die Friedrichstraße entlang und kaufen im Lafayette alles, was wir essen wollen: Shrimps in Aioli, Foie Gras, Blini mit Lachs, Königinpasteten, Pasteten überhaupt, verschiedene Fischterrinen, Champagner und Desserts. Schwer bepackt fahren wir wieder nach Hause. Auf dem Heimweg kommen wir an den Cafés der Nachbarschaft vorbei, auf deren vollen Terrassen Leute ihr Gesicht in die Sonne halten. Manche trinken Kaffee, andere Bier. Keiner Glühwein.

Der F. ist seit Tagen in einem kaum mehr steigerbaren Weihnachtsrausch und sieht überall Weihnachtsmänner und Weihnachtsbäume. Der Bus von Mitte heim in den Prenzlauer Berg wurde von einem Busfahrer im vollen Weihnachtsbaumornat gesteuert, und der F. weiß nun alles über den Brotjob des Weihnachtsmanns, dem dieser 364,5 Tage im Jahr nachgeht. Heute mittag, teilt er atemlos mit, gehe der Weihnachtsmann heim und ziehe sich um. Dann würden die anderen Busfahrer Busse steuern, und der Weihnachtsmann walte seines eigentlichen Amtes.

An einen Mittagsschlaf ist nicht zu denken. Der F. tanzt wie ein Derwisch um den Weihnachtsbaum herum, der J. flucht, weil eine Kerzenkette nicht funktioniert, und erst, als wir um 14.30 Uhr bei einer befreundeten Familie vor der Tür stehen, um mit Mutter und ältestem Sohn in die benachbarte Kirche St. Bartholomäus zu gehen, umschließt mich das Weihnachtsfest wie eine der goldenen Kugeln am Baum, wie die Knospe einer Amaryllis, und ich entschwinde in einen dreitägigen Raum jenseits von Wochentagen, Arbeitslisten und Dingen, an die ich auf jeden Fall noch denken wollte. Hier bin ich, denke ich inmitten von raschelnden Nachbarn, herumlaufenden Kindern und den ersten Tönen der Orgel: Hier sitze ich, reich an Frieden und Glück, und was ich liebe, ist bei mir.

20. Dezember 2015

Weil der F. zum ersten Mal ganz allein einen Kindergeburtstag besucht, habe ich stundenlang frei und fahre ins Lafayette. Ich hasse eigentlich alle Kaufhäuser, weil ich Oberbekleidung kaufen blöd finde, aber im Lafayette bin ich ganz gern. Ich kaufe da aber eigentlich immer nur Wurst und Süßspeisen und niemals Kleider.

Eine ganze Industrie lebt davon, dass Menschen Kleider kaufen, weil sie irgendwann, vor vielen, vielen Jahren ihr Fell abgeworfen haben und jetzt ohne Kleider frieren, und dass Menschen schöner sein möchten, als es ihnen eigentlich zukommt. Tausende Zeitungen leben davon, dass Menschen Kleider kaufen, und es gibt viele Blogs, die beschäftigen sich nur damit, was Leute anhaben. Selbst ich, die ich in einer Branche arbeite, in der für ausgesprochen individuelle Kleider kein Raum ist, stehe allmorgendlich vor meinem Schrank und frage mich, was ich anziehen soll.

Niemand sollte das tun müssen, finde ich, verfluche die elende Zeitverschwendung und möchte an dieser Stelle daher für eine allgemeine Uniform plädieren, damit ein- für allemal Schluss mit dieser Kleiderkauferei ist. Die Uniformen will ich auch nicht kaufen gehen müssen, sondern man soll mir alle drei Monate einen aktuellen Satz mitsamt Unterwäsche und Socken zuschicken und das Geld dafür abbuchen. Natürlich müsste die Uniform bei 60° C waschbar und trocknergeeignet sein. Man müsste darin auch radfahren können.

Gut, manche Leute würden sich zuerst ein bißchen ärgern. Ganz schnell wäre es mit dem Ärgern aber vorbei. Die ganze Zeit zum Aussuchen, Einkaufen, Anziehen: Was man in diese Zeit alles machen könnte. Die halbe Welt schaut ja gerade immerzu Serien. Die könnten dann noch mehr Serien sehen. Ich würde morgens länger schlafen und müsste mir endlich keine Gedanken mehr machen, ob das, was ich anhabe, eigentlich auch für einen Spielplatz, die Staatsoper oder ein Verwaltungsgericht sozialadäquat aussieht, und wer sich auch nach einer gründlichen Probierphase mit der Uniform nicht abfinden kann, macht dann einfach nicht mehr mit, bedauert und bemitleidet von den entspannten und ausgeschlafenen Uniformträgerinnen.