Vor einigen Jahren – ich habe es selbst nicht gelesen – erschien ein Erziehungsbuch, das eine chinesischstämmige Amerikanerin geschrieben hat, die kommerziell sehr erfolgreich den Wert strenger Disziplin und harter Arbeit pries. Derzeit sprechen sich eigentlich alle anderen publizierenden Pädagogen für ein sanftes Wachsenlassen aus, schon deswegen erschien mir das Buch der Amerikanerin bemerkenswert, auch wenn ich selbst neben allen inhaltlichen Vorbehalten für dermaßen viel Erziehung zu faul wäre und außerdem fest glaube, meinem F. stehen schon wegen der Demographie alle Türen offen.
Dieses Buch beeindruckte nun die Mutter einer Freundin ganz über alle Maßen. Großmütter sind ja eigentlich ausnahmslos sehr am Wohlergehen ihrer Enkel interessiert. Diese Großmutter sah das Wohlergehen ihres Herzblattes jedenfalls in harter Arbeit und frühen Erfolgen, und so kaufte sie das verheißungsvolle Buch und gab es besagter Freundin. Diese reagierte nun so süßsauer wie jeder von uns, wenn unsere Mütter vorsichtig andeuten, ihre Enkel würden nicht optimal aufgezogen, und legte das Buch erst einmal beiseite. Also irgendwo auf den Schrank. Ganz oben hinten rechts oder so. Und als sie mehrere Monate später ihr Bücherregal aufräumte, legte sie das Buch noch ganz woanders hin, wo es erst mal liegen blieb.
Monate vergingen. Staub kam und wurde wieder weggewischt, die Großmutter erschein und reiste wieder ab, als eines Tages vor gar nicht so langer Zeit besagte Freundin eine Whats-App-Nachricht ihrer Mutter erhielt. Mütter lieben nämlich Whats-App, weil es ihrem Sinn für Sparsamkeit und der Neigung zu einer vermeintlichen Intimität optimal entgegenkommt. Auch diese Mutter schrieb den ganzen Tag Whats-Apps, und in einer dieser Whats-Apps stand, sie habe das Buch ihrer lieben Freundin R. geliehen, welche ebenfalls Großmutter geworden sei. Diese Dame sei ohnehin demnächst in Berlin und hole sich das Buch ab.
Meine Freundin suchte überall. Sie suchte auf den Regalen, in den Regalen, unter den Regalen, hinter den Regalen sowieso, und als sie auch unter dem Küchenschrank und in der Kiste mit alten Magazinen nichts fand, verdrängte sie den Gedanken an den Besuch der alten Dame fest, bis diese anrief und sich für Donnerstag morgen ankündigte. Sie bringe auch Semmeln mit.
Als auch die weitere Suche erfolglos blieb, begab die Freundin sich in die nahegelegene Buchhandlung. Das Buch kostete 25 EUR. Die Freundin kehrte um. Den Gegenwert von drei Pizzen einer kaltherzigen und brutalen Erziehungspsychopathin in den Rachen zu werfen, brachte sie nicht über sich. Darob vergingen die Tage.
Am Tag vor dem Besuch der Großmutterfreundin fasste die Freundin einen Entschluss. Sie packte Kind und Handtasche, betrat eins der größeren modernen Antiquariate der Stadt, die jeden Bestseller der letzten 50 Jahre führen, und fragte sich durch, bis sie das betreffende Buch in Händen hielt. Sie zahlte 9 EUR ans Antiquariat und nicht an Frau Chua, nahm das ordentlich zerlesene Buch mit und übergab es unangetastet am nächsten Tag. Um das kosmische Gleichgewicht wieder in Ordnung zu bringen, gab sie für wiederum 9 EUR den Pennern vor Lidl Bier und Chips aus, und nur, als die Großmutter einige Wochen später fragte, wieso sie auf die letzte Seite des Buches „Hundekacke“ geschrieben habe, bedauerte sie ganz kurz, kein neues Buch erworben zu haben.