Wir saßen im Studentenwohnheim auf dem Boden im Appartement der C.2, ich war gerade 19 geworden, und wir tranken eine Bowle aus dem Rotwein von plus, Zucker und klein geschnittenem Dosenpfirsich, und die M.3 sang und spielte Gitarre. Ich lackierte mir die Fußnägel mit einem knallroten Nagellack, den die C.2 bei Douglas in der Fußgängerzone gekauft hatte, und die C.2 las uns eine Postkarte vor, die ihr jemand geschrieben hatte, den sie ganz gut fand. Dabei lehnte sie sich weit zurück, und als sie den Kopf so weit zurückbog, dass ihr Haar in einem Winkel von fast 45° auf den Boden hing, sah ich ihr erstes, graues Haar. Die C.2 war gerade 20. Ich öffnete erst den Mund, und schloss ihn dann wieder und sprach nie, nie, nie von dem einen, ersten grauen Haar, um die C.2 nicht zu deprimieren, die es ohnehin nicht so ganz leicht hatte in jenen Jahren. Es blieb auch ein verirrter Einzelgänger.
Solche ersten grauen Haare sehe ich heute oft: In den Augenwinkeln einer Freundin, die Lachfältchen, die sich irgendwann nicht wieder glätten. Die hohe Stirn eines Freundes. Die tiefe Nasolabialfalte einer Bekannten. Eine lange nicht gesehene frühere Kollegin, deren Unterlippe irgendwie langsam verschwindet. Manchmal hängen diese ersten grauen Haare Leuten, die man lange kennt, auch quasi aus dem Mund. Wenn ein alter Freund ab und zu so richtig grämliche Sachen sagt, die klingen, als sei die Welt seit der Reformation eigentlich täglich schlechter geworden. Wenn eine Freundin behauptet, zu ihrer Zeit hätten weder sie, noch ihre Freunde … worum es genau ging, habe ich schockiert vergessen. Derzeit ärgert sich ungefähr die Hälfte aller Leute, die ich kenne, ständig über die Generation Y, und erst gestern habe ich eine Frau in so circa meinem Alter auf einem Straßenfest sagen hören, vor zwanzig Jahren wären die jungen Mädchen nicht so schlampert herumgelaufen wie heute.
So etwa, da bin ich mir sicher, würde ich niemals sagen. Zum einen erinnere ich mich sehr genau an 1995 und darf hiermit versichern, dass die Welt nicht so gar anders aussah als heute. Zum anderen, und das ist mir wichtig, will ich nicht an Leib und Seele so grauhaarig werden, und fürchte doch – mal mehr und mal weniger – dass meine eigenen grauen Haare nur anderswo angebracht sind. Wie es so zu gehen pflegt: Da, wo ich sie am wenigsten sehe.
Hach, sage ich. Wenn das so weitergeht, muss ich mein Blog noch schließen. Mein gesamtes Sozialleben dreht sich um die Kinder, entweder, weil meine Freunde und ich mit allen unseren Kindern irgendwo sind, oder weil wir irgendwo sitzen und über die Kinder sprechen. Ins Kino schaffen wir es alle zusammen nur alle paar Monate mal, zuletzt in Birdman, und da können Sie sich ja schon denken, dass das nicht gestern war. Mit dem Theater oder Tanzengehen sieht es ähnlich aus, und wenn ich es irgendwohin schaffe, um da was zu essen, kann man sicher sein, dass die ganze Stadt schon da war. Vorgestern zum Beispiel, da war ich in der Cordobar in der Großen Hamburger Straße. Das ist toll da, aber das haben Sie natürlich schon gewusst.
Irgendetwas, über das zu schreiben sich lohnt, passiert mir daher eigentlich nie. Auch meine Freunde erleben nämlich nichts, was interessanter wäre als die Frage, wann der Sohn der lieben C. aufsteht und läuft, wann der kleine F. endlich Fahrrad fährt, und ob die Tochter der I. noch diesen Sommer Seepferdchen macht. Oder sie erleben es doch, aber kommen wegen der ununterbrochen plappernden Kinder nie dazu, es mir zu erzählen. Wenn wir alle uns nicht um unsere Kinder kümmern, arbeiten wir, und das wollen Sie doch gleich gar nicht wissen. Da blieben eigentlich nur die kinderlosen Freunde, aber die erzählen mir nichts, vermutlich, um nicht meinen Neid zu erregen. Höchstens vielleicht diese Sache mit der D. … aber urteilen Sie selbst.
Stellen Sie sich also – wir schreiben das Jahr 2003 – eine junge D. von damals 25 vor, die als Praktikantin im Bundestag die Zeit bis zu ihrem Referendariat überbrückte, des Nachts feiern ging und mit ihrem Mitbewohner sehr friedlich und rein gar nicht amourös in der Schliemannstraße vor sich hin lebte. Die Schliemannstraße, Sie werden sich erinnern, war damals noch verhältnismäßig studentisch-verstrubbelt, und auch die junge Frau war noch in einem Stadium ihres Lebens, in dem sie erstens alles aß, zweitens auch völlig egal, wann, und drittens eines Morgens von einer Wurstbude in Mitte einen schönen Fremden einfach mit nach Hause nahm.
Sie hätte dem Fremden ebenso gut ihren richtigen Namen sagen können. Dass sie stattdessen behauptete, „Sandra“ zu heißen, lag einfach daran, dass auch er ihr seinen Namen nicht verraten wollte, sondern behauptete, er heiße „Andreas“, was Mitte der Siebziger auch eher so eine Art eine Gattungsbezeichnung war. So beschloss man beiderseits, Namen seien Schall und Rauch, und als man – das war einige Stunden später – rauchend auf dem Dach des Hauses in der Schliemannstraße lag und in den Sommermorgen sah, war ihr sowieso egal, ob er nun Hinz oder Kunz oder Rumpelstilzchen hieß. Es blieb dann auch bei Sandra und Andreas, als man sich noch ein paarmal wiedersah, aber dann ging sie für ein paar Monate nach Rio de Janeiro, und als sie wiederkam, zog sie mit ihrem Freund zusammen, arbeitete drei Jahre für eine Kanzlei und dann für einen Verband, und als sie zwei Kinder bekam, verließ sie den Prenzlberg und wohnt heute in Wannsee.
Abendtermine übernimmt sie eigentlich ziemlich ungern. Da muss schon ziemlich was kommen, damit sich der Babysitter lohnt, aber manche Einladungen kann selbst eine Frau, die seit ihrer ersten Geburt vor acht Jahren nach eigenem Bekunden nie wieder nach Mitternacht im Bett war, nicht ausschlagen. Da stand sie dann also gähnend auf dem Fest eines großen Industrieverbandes, der … ach, eigentlich egal, aß Miniblutwurst auf Minikartoffelschnee auf Löffeln, Krabben auf Wasabicrackern, trank Riesling und plauderte mit Leuten, die sie teilweise kannte, teilweise wenigstens so tat und simulierte sich so durch den Abend. Nach drei Glas Riesling ging es im Übrigen auch wieder ganz gut.
Ganz nüchtern hätte sie möglicherweise allerdings etwas schneller reagiert, als sie so von vage seitlich angesprochen wurde. Sie sah auf. Es war Andreas. Also sozusagen Andreas. Und ganz offensichtlich ging es ihm prächtig, und peinlich war ihm die alte Angelegenheit auch nicht. Man stieß also an auf die alten Zeiten, Andreas holte Wein und Bier und dann wieder Wein, und als gegen Ende alle eingeladenen Gäste verschwunden waren und nur noch die Praktikanten an der Bar standen und tranken, tranken sie in der bar tausend weiter. Was sie zuhause erzählte, als sie morgens um fünf auftauchte, entzieht sich leider meiner Kenntnis.
Eine gute Woche rang die D. mit sich und speicherte die Nummer von Andreas ein halbes Dutzend mal ab, um sie dann ganz schnell wieder zu löschen. Sie rief jemanden an, von dem sie dachte, er müsste ihn kennen, und sprach dann doch lieber über etwas anderes. Dann stritt sie sich mit ihrem Mann über die Frage, wie viele Gäste ein Fünfjähriger zum Geburtstag einladen darf und ärgerte sich so, dass sie Andreas eine SMS schrieb, und am letzten Mittwoch saß sie dann doch in der Lounge des Esplanade Hotel, bestellte schnell hintereinander zwei Tom Collins und war gerade noch so pünktlich zuhause, dass der Babysitter den letzten Bus ganz knapp noch bekam.
Ein schlechtes Gewissen, behauptet die D., habe sie gar nicht. Es sei ja auch quasi nicht sie selber, die nächsten Monat schon wieder, diesmal in einem anderen Hotel, verabredet sei. Sandra sei, das sei mehr als eine faule Ausrede, ganz klar jemand anders, und alles, was Sandra so anstelle habe mit ihr, der D., deswegen sozusagen annähernd rein gar nichts zu tun.
Ich habe jetzt einen Heimtrainer. Der Heimtrainer ist fesch gelb, er ist nicht von Kettler, und er steht im Schlafzimmer vor der Wäschetruhe. Jeden Abend sitze ich auf dem Heimtrainer und trete in die Pedale, fahre mindestens eine halbe Stunde lang nach nirgendwo und warte darauf, dass mein linkes Bein irgendwann mal wieder so gut ist wie das rechte. Das habe ich mir nämlich letztes Jahr gebrochen, und seitdem ist es mit dem linken Bein irgendwie nichts Rechtes mehr, trotz Radweg ins Büro und Spaziergängen.
Weil es so unsagbar fad ist, in seinem Schlafzimmer ins Nichts zu fahren, habe ich auf der Wäschetruhe einen Bücherberg aufgestellt. Auf dem Bücherberg steht, wenn ich fahre, mein Rechner, und auf dem Rechner schaue ich Filme. Jeden Abend ein bisschen. Selten einen ganzen Film, meistens so circa einen halben Film, aber dafür Tag für Tag.
Ich habe noch nie in meinem ganzen Leben so viel Filme gesehen. Ich war früher ziemlich oft im Kino, aber natürlich nicht jeden Tag. Ich wollte damals in der Stillzeit viele Filme sehen, aber dann war ich doch nicht so oft zuhause, wie man mir das angekündigt hatte. Ich habe einen Haufen Filme, viele noch in Folie eingepackt, und die schaue ich mir jetzt alle an. „African Queen“ habe ich letzte Woche gesehen. Und „Inception“. „Tod auf dem Nil“ will ich noch sehen, „Ein Amerikaner in Paris“ würde ich gern mal wieder sehen, und vielleicht gucke ich nächste Woche einmal mal wieder „Eat Drink Man Woman“. Oder „Shining“.
Fürs Arthouse reicht es dagegen irgendwie nicht. Ich habe es wirklich versucht. Tarkowski. „Stalker“. Und ich wollte „Die Ehe der Maria Braun“ sehen, die finde ich nämlich eigentlich super. Irgendwas hat der Heimtrainer aber an sich, dass sich jeder Film, der eine Ernsthaftigkeitsschwelle von circa 3 von 10 überschreitet, auf dem Heimtrainer irgendwie falsch anfühlt. Vielleicht ist es das ja doch nie so ganz verschwindende Gefühl leiser Lächerlichkeit, also so stämmige Frau in mittleren Jahren, die in ihrem Schlafzimmer vor sich hin strampelt. Oder das Surren des Fahrwerks ist zu ablenkend.
Vorerst aber fühle ich mich prächtig in den seichten Gewässern der Filmgeschichte. Ich checke Listen im Internet. Die besten Filme der Neunziger. Der Siebziger. Vielleicht schaue ich mir mal wieder Hans Albers an. Oder Rock Hudson und Doris Day. Vielleicht schaue ich mir ein paar Opern an oder diese pastelligen Jane-Austen-Verfilmungen mit Emma Thompson. Vielleicht erkunde ich mal Filmwelten, die ich noch nicht kenne. Schaue mir Festivalprogramme an, sehe Filme aus Afrika oder dem Orient, singe ein bisschen mit Musicals in Technicolor und fahre, fahre, fahre gleichzeitig schwitzend auf der Stelle wie bestens unterhalten durch die ganze Welt.
„Ich möchte gerne wissen, ob man sich nicht überhaupt genieren wird, alt zu sein? – Vor den anderen vielleicht nicht, sie sind ja daran gewöhnt, daß es alte Leute gibt, und finden nichts Auffälliges daran. Aber vor sich selbst – denken Sie nur, als alte Dame aufzustehen und sich im Spiegel zu sehen: guten Morgen – o Gott, aber du bist ja alt – was willst du denn noch? – ja, besonders in der Früh muß es deprimierend sein, im Laufe des Tages wird man sich wohl irgendwie in seine Rolle hineinleben.„
Franziska zu Reventlow, Von Paul zu Pedro
Bisweilen stehe ich vor dem Spiegel und reibe mir die Augen und schaue mich ganz genau an. Manchmal ist es dann morgens um sieben, nicht ganz so eilig wie sonst, und dann hebe ich mit zwei Fingern die Haut so ein bisschen an. Da, jetzt ist die Delle etwas stehengeblieben. Und legt sich die Haut nicht hier neben den Augen in ganz, ganz feine Fältchen, nicht unähnlich den Flügeln einer Libelle?
Doch Falten hin oder her. Wenn ich auf die Straße gehe, dann ist es meistens so gegen halb neun, würde mich niemand für 25 halten, vermutlich nicht einmal für 30. Das ist mir allermeistens auch ganz und gar egal. Nur manchmal, so auf dem Heimweg nachts durch die Stadt, durch die frühlingshafte Kühle der Mainächte, wenn man ganz optimistisch immer schon Kleider ohne Strumpfhosen trägt und nach Einbruch der Dunkelheit friert. Wenn ich nach Hause fahre und mir an der Warschauer Straße Studenten entgegenkommen, halb so alt wie ich. Wenn ich ein ganz, ganz junges Mädchen in Chucks zum Tüllrock auf einer Mauer balancieren sehe: Dann tut es mir leid, das mit dem Alter. Nicht lange, nicht sehr, nur ganz kurz und ohne dahin zu wollen, wo ich mal war, und ich spüre für einen Moment, einen Atemhauch nur, die Grenzenlosigkeit, all die Akkorde des Aufbruchs, die Freude, die Gier, den Jubel und die Erwartung an all das, was ich vergessen habe, wenn ich zu Hause bin, und was nie wiederkommen wird. In all den noch kommenden Jahren.
Warum, frage ich mich und schaue den beiden Kindern hinterher, die freudig um drei dicke Ziegen herumtanzen: Warum schließen die Berliner Kitas eigentlich einfach so. Warum muss ich, deren Kernkompetenzen ganz eindeutig mehr im Verwaltungsrecht als in der Kinderbetreuung liegen, eigentlich an diesem ganzen verdammten Freitag hinter dem F. herrennen, und meine Freundin I., die gerade einen ziemlich wichtigen Rahmenvertrag verhandelt und den ganzen Tag mailt und telefoniert, gleich mit? Wieso meinen die Verantwortlichen für städtische Berliner Kitas, dass es zumutbar sei, für rund drei Wochen im Jahr einfach so zu schließen? Weil irgendwo jemand sitzt, der glaubt, mindestens ein Elternteil pro Familie sei im Grunde nur so halbernst berufstätig? Oder reichen die finanziellen Mittel nicht für eine Abdeckung rund ums Jahr, weil Berlin sich aus schierem Populismus für drei beitragsfreie Kitajahre entschieden hat, statt für gebührenpflichtige, aber dafür ganzjährig verfügbare Kitas?
Wieso, frage ich mich weiter, regt das eigentlich in den ansonsten so empörungswilligen Kreisen der feministischen Blogs niemanden auf? Ich lese da selten, weil ich die meisten Probleme, um die es da geht, für eher skurril als relevant halte. Wenn man wirklich und ernsthaft arbeiten geht, ist die beständige Verfügbarkeit von Kinderbetreuung nämlich um Einiges wichtiger als die Frage, ob gesetzliche Krankenkassen Hausgeburten bezahlen oder die offenbar unerschöpfliche Frage, wie man Leute bezeichnen soll, die sich weder für männlich noch für weiblich halten.
„Würdest du mehr für die Kita ausgeben, wenn sie immer offen wäre?“, frage ich die I., die emphatisch nickt. Na klar, hebt sie zu längeren Gegenrechnungen von Kitagebühren, Mehreinnahmen und Babysitter an, als ihr Telefon erneut klingelt.
Im Grunde, überlege ich mir am Rande der Sandkiste, fehlt der I. und mir und all den anderen Eltern wie uns eine ordentliche Lobby. Ein Verband oder eine Partei, die sich für Kinderbetreuung nicht nur unter dem Aspekt gesteigerter Chancengerechtigkeit interessiert, sondern schlicht für eine Serviceleistung für Kinder und Eltern. Für eine volle Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten. Für eine Abschaffung des Ehegattensplittings zugunsten einer Anhebung der Kinderfreibeträge auf dasselbe Maß wie bei Erwachsenen. Eine Partei, die das Leben mit Kindern nicht in erster Linie als eine Angelegenheit der Sozialpolitik betrachtet, sondern die Frage stellt, wie man praktische Schwierigkeiten wie Kitaschließzeiten, überlange Schulferien, Stundenausfälle und so weiter, ideologiefrei aus dem Weg räumt.
Wahrscheinlich müsste man das selber machen. Aber in der Zeit, die man dafür bräuchte, sitzt man ja auf dem Spielplatz herum.
Mir ist kalt. Sogar die Saurierfiguren in diesem Freizeitpark sehen aus, als ob sie frieren, und ich vergrabe meine Hände tief in den Taschen und stelle mir vor, ich hätte so einen kleinen Dachschaden, der mich zwingen würde, ganzjährig Handschuhe dabeizuhaben. Sogar Himmelfahrt. Dann wäre ich jetzt fein raus.
Vor, neben und hinter und laufen alle vier Kinder hin und her. Ab und zu kreischt einer der Buben laut und schrill, dann drehen sich sieben Erwachsene um. Immerhin hat die Kälte einen Vorteil: Beim Picknick vorhin habe ich so gefroren, dass ich nur halb so viel gegessen habe wie sonst. Ich esse eigentlich immer zu viel, vermutlich ist die kältebedingt drastisch reduzierte Menge genau richtig, und ich sollte in Zukunft immer in einer zehn Grad kalten Kammer bei milchig-trüber Beleuchtung essen.
Ein Pelz wäre gut, denke ich mir, und außerdem hätte ich gern einen Glühwein. Die anderen sehen auch so aus, als ob sie frieren, und für einen Moment stelle ich mir vor, wir würden jetzt alle unsere Kinder zusammenpacken und heimfahren nach Berlin und da irgendwo in einer gutgeheizten Wohnung sitzen, Tee trinken und Spekulatius essen.
Man wird gar nicht von Kälte krank, schärfe ich mir einen in diesem Moment ziemlich unglaubwürdigen Fakt ein, den ich irgendwo gelesen habe, und dann hauche ich mir in die klammen Hände, plaudere entschlossen weiter, als sei es gar nicht kalt, und überschlage, was es kosten würde, ganz Brandenburg mit einer Fußbodenheizung zu unterlegen.
Was es auch kosten mag, beschließe ich für mich: Ich bin dafür.
Manchmal – nicht allzu oft – sitze ich einfach so da und mache gar nichts. Weil sich jemand verspätet, wie neulich in dem neuen Restaurant von Tim Raue im Wedding. Oder weil ich auf den Check In warte oder auf einen Zug. Oder weil es sich auf einmal zwischen zwei Terminen nicht lohnt, nach Hause zu fahren, und ich mich für eine halbe Stunde in ein Straßencafé setze. Da sitze ich dann und bestelle mir Tee. Lehne mich zurück, und im besten Fall malt mir die Sonne durch lauter junge, flirrende Blätter helle Sprenkel ins Gesicht. Dann beobachte ich die Passanten.
Sehr junge und sehr alte Leute sind oft nicht so spannend. Wer zwei ist oder 95 sieht oft nicht so besonders eigen aus. Bei Kindern und Greisen überdeckt das Altersspezifische meist das Individuelle, und weil bei solchen Passanten selbst die Kleidung, die Frisur oder das Gepäck vermutlich von anderen Leuten ausgesucht worden ist, schaue ich meistens nur flüchtig. Ganz selten fällt mir ein schöner, ganz durchgebildeter, filigraner Kopf auf bei einer alten Frau oder ein vollkommen schönes Kind. Sonderbar, denke ich bisweilen, ist es allerdings, wie die Geschlechter am Beginn und am Ende des Lebens ineinanderfließen, ununterscheidbar werden, und ich frage mich manchmal, ob die steinalten Frauen von 90 es manchmal traurig finden, dass das Weibliche sich in den letzten Jahrzehnten irgendwie verflüchtigt.
Langsam, Jahr für Jahr ein wenig mehr, entfremden sich mir Schulkinder und nach und nach auch Studenten. Die glatte Pausbackigkeit wird mir fremd. Die starken Farben, die ganz und gar ungegerbte Haut, die Fleckenlosigkeit und die jungen Stimmen. Manchmal zucke ich zusammen, wenn so ein ganz und gar hübscher Mensch dann grobe, dumme Dinge sagt oder laut und polternd lacht. Gelegentlich tut mir so ein Mädchen leid, das sich sichtbar für ein wenig hässlich hält, und dabei sieht man schon die feinen Knochen, das gleichmäßige, feine Gesicht und die langen, weißen Hände. Hoffentlich, denke ich gelegentlich, gibt es jemanden, der ihr sagt, was sie tragen sollte, und dass sie schön ist, egal, was die anderen sagen.
Gern denke ich mir Namen für die Passanten aus. Nenne einen jungen, rothaarigen, sehr englischen Epheben erst Alfred, nein, besser Edward, Theodore vielleicht, und bin für eine Sekunde fast verblüfft, wenn seine Freunde ihn dann Albin rufen. Albin, mit Ruth an der Hand, eine feenhafte Erscheinung in weiß und gold, der ich Belle zugedacht hatte. Ein älterer Mann, beulige Hose und ein schlaffer Rucksack auf dem Rücken, soll Werner heißen. Die Frau in der indischen Tunika mit flachen Sandalen und Lapislazulischmuck zu wallendem, grauen Haar nenne ich Helga. Oder Marianne.
Ob Marianne wohl einen Mann hat? Ist er ganz der bürgerliche Ernährer, der seine späthippieske Frau als Zahnarzt in Steglitz ernährt? Oder betreibt das Paar ein Reformhaus in Lichterfelde West und schreibt nebenbei Bücher über die Kunst der Meditation? Gibt es Kinder? Einen fröhlichen, starken Kindergärtner vielleicht, eine Tochter, die einen Fahrradladen in Portland betreibt, oder rächt sich der Sohn trotz bester Anlagen vielleicht als Unternehmensberater in Frankfurt an seinen Eltern?
Nur sehr selten möchte ich mich mit den Fremden unterhalten. Was würden mir die fremden Leute auch schon erzählen, was ich nicht selbst viel besser, farbiger, origineller und ohne die lästigen Schranken von Diskretion wüsste. Ich allein weiß doch am besten, dass Katja mit dem brauen Pagenkopf aus Mannheim kommt und gerade beim Burgerladen am Schlesischen Tor vergeblich auf ihren Liebhaber wartet, der just heute erfahren hat, dass er Vater wird und nun zwei Jahre versuchen wird, den braven Familienvater zu simulieren. Und dass dort drüben in der Schlange beim Bäcker Emine mit dem langen Trenchcoat und dem blauen Kopftuch in diesem Moment beschließt, ihre Ausbildung zur MTA abzubrechen, und statt dessen auf einem Bauernhof in der Uckermark Puten zu züchten. Ich sehe den hübschen Kellner des Nachts seiner Freundin in Friedrichshain auflauern und ihr sehr, sehr hässliche Dinge sagen, und weiß, dass Margot, dort hinten drei Tische weiter mit der schwarzen Prada Clutch vor einigen Jahren ihre Schwiegermutter mit reinem Koffein getötet hat. Das Perlenhalsband um Margots faltigen Hals gehört zum Erbe.
Manchmal bemerkt ein Fremder den Blick und wendet den Kopf ab. Oder schaut mich herausfordernd an. Sehr selten lächelt jemand, missverstehend, ich wünschte Kontakt. Noch seltener bemerke ich selbst, wie jemand mich auf ähnliche Weise betrachtet, und frage mich, was er mir gerade zudenkt. Welche Namen, welchen Beruf, welche Männer, welches Leben, und welches Ende dazu.
Die erste Inszenierung von „Moses und Aron“ 1957 soll erboste Zuschauer dazu bewogen haben, dass Auto des Dirigenten zu demolieren. „Diri, wir wissen, wo dein Auto steht.“, scheint auch der J. in seinen Bart zu murmeln, als Moses auf der Bühne der Komischen Oper auftaucht und beginnt, zu singen. „Du weisst doch, dass ich Schönberg hasse.“, zischt er mir zu. Selber schuld, denke ich und sage etwas, in dem die Worte „doch darüber gesprochen“, und „hörst mir wirklich niemals zu“ auftauchen. Dazu funkeln wir beide böse mit den Augen, weil wir zwar wissen, dass man niemals ad personam kritisieren soll, Streitigkeiten unter Einhaltung dieses Grundsatzes aber langweilig finden.
In den nächsten zwei Stunden höre ich den J. gedämpft stöhnen und ächzen. Auf der Bühne wogt ein riesiger Chor hin und her und füllt mit seinem Gesang den Innenraum der Oper, in dem ich sitze wie in einem großen, tonumbrausten, weiß und goldverschnörkelten Ei. Klar und gläsern zeichnet das Orchester Schönbergs Opus Magnum nach, und die Inszenierung Barrie Koskys schafft es dieses eine Mal, jede Albernheit zu vermeiden und mich mitzunehmen, als das Volk Israel sich von Moses Gesetzestreue abwendet und im Budenzauber Arons erst lüstern schwelgt, um sich dann in Gewalt, Pogrom und einem Berg von Leichen zu verlieren. „Das sind die schlimmsten Stunden meines Lebens.“, motzt der J. von Zeit zu Zeit gut hörbar neben mir, und eine Frau mit strenger Brille, tiefen Furchen auf der Stirn und Blumenbluse schaut ihn verächtlich an. Sehnsuchtsvoll schielt der J. die verschlossenen Türen an, aber angesichts unserer Mittelplätze ist an ein vorzeitiges Entweichen nicht zu denken, und als am Ende der nicht einmal zwei Stunden ein Beifallssturm anhebt, bleibt der J. mit zusammengekniffenen Lippen einfach unbeweglich neben mir sitzen und verschränkt die Arme.
„Sei jetzt einfach still.“, herrscht er mich auf der Behrensstraße an, und dann laufen wir die Friedrichstraße entlang, stehen kurz vor den dunklen Fenstern der verblichenen King Size Bar und wandern dann langsam die Auguststraße Richtung Rosenthaler Platz. Inzwischen ist der J. schon wieder etwas besser gelaunt, nur alle paar Minuten unterbricht er das Gespräch über Bars, die es entlang unseres Fußwegs früher einmal gab, um wütende Invektiven über den Erfinder der Zwölftonmusik auszustoßen. Dann läuft er einfach weiter.
Gegenüber von Clärchens Ballhaus hat der J. sich halbwegs beruhigt. Dann sitzen wir also da. Durchs Fenster der Tapas Bar schauen wir auf das verschlossene Fenster von Eigen + Art, trinken Java und Rosato, sprechen über ganz besonders tolle Nächte in Mitte, als solche Nächte noch in Mitte und noch mit uns stattfanden. Gespräche über Schönberg vermeiden wir. Dann fahren wir nach Hause.
Vor der Tür bricht der J. noch einmal aus. Auf ein allerletztes Bier im allerletzten offenen Laden. Ich war schon gestern aus, ich mag lieber heim. Zwei Stunden später erst wird er nach Hause kommen, in keinem guten Zustand, wenn man das mal zu sagen darf, und nach dem vergeblichen Versuch, der Dodekaphonie mit alkoholischen Mitteln beizukommen. „Daran ist nur der verdammte Schönberg schuld.“, ächzt der J. am nächsten Morgen, zieht sich die Decke über den Kopf und wehrt alle Versuche ab, ihn aus dem Bett zu ziehen.
„Ich spiel dir was vor! Dann stehst du auf.“, trumpft gegen zehn der F. auf und schwenkt seine Kindergitarre. Sotto voce und überaus laut brüllt er los. Es könnte sich um „Alle meine Entchen“ handeln. Oder um die „Ode an die Freude“, oder das Lied, mit dem seine Petterson und Findus-CDs beginnen.
„Schönberg.“, stöhnt der J. und rutscht im Bett noch etwas tiefer.
Heute also keine Ausgrabungen. Zum Baden ist es aber auch zu windig. Für Ikonen, von denen sie hier in Paphos einige haben, interessieren sich aber weder der J., noch ich; überhaupt stehen wir beide mittelalterlicher Sakralkunst eher distanziert gegenüber. Das ist auch so ein Ding mit zunehmendem Alter: Früher, schon auf dem Hinweg leicht gelangweilt, aus Pflichtgefühl in jede Kirche gerannt, wissend genickt, Heilige erkannt oder auch nicht, irgendwas über den Altar erzählt, dann dreimal gegähnt und wieder ab. Heute gleich morgens beim Blick in den Reiseführer abgewinkt. Wenn es stimmt, dass Kinder aus schierer Lust an der Revolte immer das Gegenteil von Mama und Papa machen wollen, wird der F. seine Tage damit füllen, über gotische Kathedralen nachzudenken.
Stattdessen also in die Altstadt von Paphos. Cafés stellen wir uns vor, kleine, hoffentlich hübsche Lädchen, im besseren Fall mit schönen Kleidern, Schuhen, Wein und Käse, im schlechterem mit abscheulichem, knallbunten Kunsthandwerk. Ich finde ja nicht nur Kirchen öde, ich mag auch weder Glasobjekte noch Töpferwaren. Holzschnitzereien, Lederwaren und Schmuck sind okay.
Also ein Taxi bestellt, taxifahrerliches Begehren abgewehrt, gleich die Rückfahrt mitzuverabreden. Acht Euro bis zur Markthalle, in der es allerdings ausschließlich Souvenirs und diesen Trödel, den man weltweit Touristen andreht, zu kaufen gibt. Teilweise gibt es sogar dieselben Gegenstände wie in Thailand, nur mit Olivenzweigen statt mit Elefanten. Teilweise haben die Anbieter aber selbst diese Modifikationen gespart und verkaufen auch auf Zypern Minielefanten mit Räucherstäbchen im Rüssel und die gleichen falschen Portemonnaies wie in Asien. Der lokale Gemüsehandel findet wegen des offenkundigen Primats des Andenkenhandels vor der Markthalle statt.
Wir wollen keine Elefanten kaufen. Wir halten Ausschau nach der Innenstadt. Rechts sehen wir eine Moschee, links eine Kirche. Kurz werden wir bei diesem Anblick müde, gähnen beide herzlich, dann wenden wir uns nach rechts und laufen die Straße entlang. Irgendwo muss hier die paphische Innenstadt sein, stattdessen finden wir aber nur ein halbes Dutzend Schuhgeschäfte, die irgendwie unbehaust wirken, so, als würde hier nicht nur jetzt gerade keiner einkaufen, sondern überhaupt nie wieder jemand das Geschäft betreten. Als wir die Schuhgeschäfte passiert haben, kommen wir zu Optikern, die aus irgendeinem unnennbaren Grunde genauso wirken. Gerechterweise muss man zugeben: An den Auslagen liegt es nicht, die sind in Ordnung.
Die Hälfte aller Läden ist leer. Ich denke nach. War da nicht was, Rettungsschirm, Rettungsauflagen, und ist vielleicht sozusagen und zugegeben umstrittenerweise Angela Merkel schuld an wirtschaftlichem Niedergang und Verfall? Oder ist hier etwa gar nicht die Innenstadt, und an einem andernorts gelegenen Platz befinden sich die belebten Boutiquen, angefüllt von einem geschäftigen Rascheln aus Seidenpapier und dem zufriedenen Klacken von Absätzen auf gut gepflegtem Marmor? Wir kehren also um.
An der nächsten Kreuzung bleiben wir stehen. Geradeaus stehen ein paar amtlich wirkende Gebäude. Schräg links sehen wir eine Tankstelle und ein paar Schilder, denen zufolge man hier die Stadt verlassen kann. Auf der Ecke befindet sich eine hübsche Weinbar, Tische vor der Tür unter einer Markise, die steuern wir an. Da sitzen wir also und der Verkehr donnert links an uns vorbei.
Der F. und der J. teilen sich ein Clubsandwich. Der F. trinkt Apfelsaft, der J. ein tröstendes Bier, und ich sauge durch einen mattschwarzen Strohhalm einen Orangensaft ein. Um die Ecke, nur fünf Minuten entfernt, befinde sich der Zoo, behauptet die freundliche Kellnerin auf Anfrage, und wir lassen aufatmend den Plan fallen, die Innenstadt zu suchen. Die gebe es vielleicht auch gar nicht, behauptet der J., der bei der Googlebildersuche nichts gefunden haben will. Ach so, sage ich und schaue im Internet nach, was es im Zoo für Tiere gibt.
Als wir uns etwas später noch einmal mit der Kellnerin unterhalten, nimmt die freundliche Kellnerin alles zurück. Der Zoo sei nicht hier, sondern ganz woanders. 25 Minuten sei das weg mit dem Auto. Ein Auto haben wir aber nicht gemietet, wegen des Linksverkehrs, vor dem wir uns fürchten, und deswegen geben wir auch dieses Vorhaben auf. Kurz spähen wir in die letzte noch nicht begangene Richtung und schauen in leere Friseursalons und unbelebte Bars. Dann fahren wir ins Hotel zurück.
„Aber gar nicht!“, wehrt meine Mutter letzten Mittwoch entrüstet ab. Der F. gehe jeden Abend um acht schlafen, sage immerzu „Guten Tag!“, „bitte“ und „dankeschön“, sei sogar zu den Nachbarn nett und gehe zuverlässig auf die Toilette. Jetzt aber müsse sie das Telefonat beenden. Der F. wolle nämlich unbedingt noch abtrocknen, bevor das Sandmännchen beginnt. Ganz kurz spricht mein Dreijähriger auch noch mit mir. Er habe im Garten Unkraut gezupft und die Vögel gefüttert, wird mir berichtet. Dann ist das Gespräch zuende. Der einwöchige Aufenthalt bei meinen Eltern erweist sich als voller Erfolg.
Mir schwirrt der Kopf. Was hat sie – denke ich angestrengt nach – was ich nicht habe? Warum geht mein Sohn bei meiner Mutter pünktlich ins Bett und turnt nicht bis 22.00 Uhr putzmunter und unaufhörlich plappernd durch alle Räume? Wieso ist er, wie man mir berichtet, bei den Großeltern zuverlässig trocken, räumt allabendlich auf und isst seinen Teller leer, inklusive Blumenkohl und Tomatensalat mit roten Zwiebeln? Versprechen ihm die Großeltern Schokolade? Drohen sie ihm mit einem kinderfressenden Monster? Beide Methoden halte ich in Anbetracht meiner jahrzehntelangen Vertrautheit mit ihrem Instrumentarium der Kindererziehung für eher unwahrscheinlich, aber gutes Zureden allein hilft zuhause doch auch nicht. Oder – dies allerdings würde mich schon sehr bekümmern – allein die natürliche Autorität meiner Mutter reicht aus, die Wunder zu vollbringen, an denen ich zuhause regelmäßige scheitere.
„Raus mit der Sprache!“, fordere ich meine Mutter deswegen am Samstag auf, als ich den F. abhole. Meine Mutter mauert. Oder sie weiß es wirklich nicht, und auch der F. weiß über das Geheimnis des perfekten Kinderschlafs nicht mehr zu berichten, als dass er bei der Oma immer abends so müde gewesen sei. Vielleicht war es der ganztägige Aufenthalt im großmütterlichen Garten. Oder sie hat ihm doch etwas in den Kakao getan.
„Du hast bei der Oma auch immer das Musterkind gegeben.“, kommentiert meine Mutter mein Erstaunen. Es sei quasi so eine Art Naturgesetz: Großmütter lieben Enkel, unbelastet von Alltagsbeschwernissen, eiligen Morgenstunden und verlegten Brotdosen. Enkel revanchieren sich für diesen Sack voll Zuneigung durch Wohlverhalten, beiderseits erleichtert durch den Umstand, dass man sich ja nicht ständig, sondern nur ab und zu sieht. Nützlich sind die guten Tipps der Großmutter deswegen für die Mutter des daheim so schlecht schlafenden, tageweise nur nudelessenden Knaben, der niemals aufräumt, eigentlich nicht. Es sei denn: Für ihr späteres Leben. Als Großmutter nämlich.
Diese Website verwendet Cookies und das Tool Counterize, über das ich einige Daten, wenn auch keine IP-Adresse, erhebe und verwende. Wenn Sie auf meiner Seite bleiben, gehe ich davon aus, dass Sie damit einverstanden sind.OKNeinWeiterlesen