Allgemein

Ad Astras

Die Stürme des 20. Jahrhunderts tobten bedauerlicherweise bevorzugt – zumindest mein Großvater sah das so – am Esstisch meiner Großeltern. Hier fochten in den Augen meines Großvaters hartnäckige Faulpelze gegen reine Maulhelden. Pseudomarxistische Krawalltouristen schrieen vorlaute Mannweiber nieder. Geistersehende Esoterikerinnen brachen ab und zu in Tränen aus. Unbewegt wie ein zunehmend tauber Fels in der Brandung saß inmitten seiner Nachkommenschaft mein Großvater am Kopf der Tafel und aß ungerührt jeden Sonntag Suppe, Vorspeise, Braten und Dessert. Nach dem Essen mussten die Großkinder etwas vorsingen, aufsagen oder vorspielen, man ging spazieren, und schließlich durften alle wieder heim. Auf dem Heimweg beruhigten sich die Kontrahenten dann Sonntag für Sonntag wieder soweit, dass am nächsten Sonntag wieder alles von vorne losgehen konnte.

Alltägliche Themen verhandelte man an und für sich nicht. Ich habe nie gehört, dass es mal um Käse ging. Oder um die besten Strände von allen. Ich dagegen habe allein in den letzten Jahren schon stundenlang über Käse gesprochen. Meine Onkel und Tanten aber gaben sich mit so etwas nicht ab. Käse erschien ihnen lächerlich. Unter den Toten von Stammheim, der Gleichstellung der Frau oder der Zentralität von Erwerbsarbeit entwickelte eigentlich keiner der Sonntagsgäste irgendwelches Engagement, und dann begann sofort alles gleichzeitig, wenn auch inhaltlich konträr, zu brüllen. Ich fand die Sonntage der Achtziger deswegen eigentlich insgesamt schon eher doof.

Im Nachhinein betrachtet sah mein Großvater das vermutlich ähnlich. Ob er irgendwann resigniert hatte, oder ob er einfach jeden Sonntag hoffte, es werde bald besser: Mein Großvater lud trotzdem jede Woche ein, oder besser gesagt: Er tat nichts gegen die allgemeine Ansicht, man schulde ihm dieses wöchentliche Erscheinen. Dass er tatsächlich unter dem Krieg an seiner Tafel litt, entnehme ich im Wesentlichen seiner Vision der spezialisierten Sterne.

Mein Großvater erwartete nämlich – als echtes Kind des Fortschrittsglaubens eines liberalen Zeitalters – die Besiedelung fremder Planeten praktisch morgen. In seinen Augen war alles eine Frage des Geldes, und schon der Ehrgeiz der westlichen Welt, nicht hinter den Russen zurückzufallen, würde noch in diesem Jahrzehnt (er meinte die Achtziger) den ersten Menschen auf den Mars bringen. Er sprach auch gern über die Mobilität der Zukunft und überhaupt eine Fortentwicklung des Menschen, der in gründlich optimierter Form in aeternam fortbestehen und sich viele Erden untertan machen werde.

Bei der Gestaltung dieser Welten sah mein Großvater große Möglichkeiten. So hielt er es beispielsweise für denkbar, Welten ohne die Stechmücke zu entwerfen. Oder eine Welt, auf der keine alkoholische Gärung stattfindet. Da würden sich entsprechend auch nur Abstinenzler ansiedeln, die miteinander Pfirsich-Maracuja-Tee trinken. Auf einer anderen Welt dagegen würde Tag für Tag ein Fass angestochen, und immerzu sei Blasmusik zu hören, was dafür im Rest des Universums verpönt sei.

Doch nicht nur Differenzen in Geschmacksfragen, auch solche in politisch-weltanschaulichen Fragen wollte mein Großvater durch diese maximale räumliche Entzerrung lösen. So würden die alten Nazis einen Planeten bewohnen, auf dem es ausschließlich andere Nazis gebe. Die könnten sich dann abwechselnd gegenseitig einsperren und schikanieren. Einen Extraplaneten wollte er der Linken zuweisen, die dann flugs in eine Vielzahl von Flügeln zerfiele, und deren Mitglieder deswegen eigentlich auch keine anderen Leute brauchten. Und einen ganz eigenen Stern, völlig ohne rechte Winkel, hatte er den Anthroposophen zugedacht. Der Planet sollte – natürlich – „Steiner“ heißen. Oder auch Waldorfwelt.

Vorerst wurde aus der Vision meines Großvaters nichts. Sogar auf seiner Beerdigung brach das schiere Chaos aus, als mein Onkel P. und mein Onkel T. sich aus politischen Gründen in die Haare gerieten. Aber manchmal, wenn ich so durch Berlin fahre, und in ganz Neukölln alle gleich aussehen, oder auf mancher Party, auf der alle dasselbe über Vegetarismus, Nahost oder Fernreisen mit Säuglingen denken, oder angesichts einer ganzen Busladung beigefarbener Rentner, dann denke ich doch: Mein Großvater hat es geschafft. So viele Planeten.

Entropie und Weihnachtszeit

Man sagt, und ich habe keinen Grund, dies zu bezweifeln, nichts auf Erden ordne sich selbst. Alles werde nur immer unordentlicher, Strukturen weichen auf, alles versinkt in Duplosteinen und Matsch, und man selbst immer dazwischen, mit Löchern in der Strumpfhose, Flecken auf dem Kleid und abgebrochenen Fingernägeln. Zum Zahnarzt müsste ich auch mal wieder, von Pediküre und so mal ganz zu schweigen.

Nun ist es keineswegs so, dass ich alles einfach laufen lasse. Ich dusche, creme, bürste Zähne, entferne Haare, besuche Friseure, kaufe neue Strumpfhosen, gehe zur Krankengymnastik und beschaffe Kleider. Das alles nicht nur für mich, sondern auch mit dem ungefähren Faktor 0,5 für den F. Die anderen 0,5 entfallen auf den J. der ebenfalls außer unserem Knaben auch noch sich selbst in Schuss halten muss. Ich schätze mal so, pro Tag macht das alles ungefähr anderthalb Stunden aus. Mindestens. Der F. etwa kann schon ziemlich lange im Bad vertrödeln und ist außerdem immer noch nicht trocken.

Neben der unmittelbaren Körperpflege fällt auch noch Haushalt an. Ich koche täglich. Gestern gab es Braten, heute Couscous mit viel Gemüse. Morgens werden Semmeln beschafft, Käse gekauft und geschnitten, Kuchen gebacken, eingekauft, Teller abgeräumt, die Maschine gefüllt, abgewaschen, Wäsche gewaschen und halbwegs versucht, die Katze nicht total verkommen zu lassen. Zum Glück putzt bei uns die gute B., andernfalls fiele auch noch das an. Jeden Tag kommen trotzdem im Wochenmittel so zwei bis drei Stunden zusammen, also eine Stunde morgens, inklusive Brotboxen und Frühstück und Bäcker, eine abends mit Kochen und Einkaufen und eine für Wäsche, Katze und flüchtig über stumpfe Oberflächen wischen. Manchmal mehr, vor allem wegen des Einkaufs.

Leider ist es damit ja noch nicht getan. Neben diesem täglichen Betrieb müssen Reparaturen ausgeführt, Ersatzteile beschafft, Inspektionen absolviert, Ärzte aufgesucht und Anschaffungen getätigt werden. Ich bin beispielsweise mit dem Badezimmer unzufrieden und plane, demnächst eine Badezimmerausstellung zu besuchen. Derzeit verbringe ich schon wegen meines immer noch geschienten Knies zwei Stunden pro Woche bei der Physiotherapie und eine weitere beim Arzt, von Wartezeiten ganz zu schweigen. Verteilt man das so auf die Tage, so tippe ich auf eine Stunde pro Tag.

Obendrauf kommt der F. Der ist an sich nicht besonders betreuungsintensiv, weil er tagsüber in der Kita ist und in aller Regel ansonsten ungefähr das macht, was wir auch machen. Also beim Kochen zuschauen oder Koriander zupfen. Beim Badezimmer fegen, fegt er mit. Wenn ich einkaufe, läuft er an meiner Hand durch die biocompany und kommentiert die ausliegenden Waren nach dem Grad ihrer Attraktivität. Vorlesen, Malen, Memory oder sehr hohe Türme bewundern, macht maximal eine Stunde am Tag aus. Erziehung muss irgendwie nebenbei funktionieren. Aufwendig sind allerdings drittverursachte Sonderveranstaltungen. Kürzlich war in einer Woche sowohl der Martinslauf als auch das Elterncafé mit Kuchenbackpflicht, das war natürlich schrecklich. Oder die Kita schließt wegen einer Fortbildung. Oder ich soll irgendwo hin und mir anhören, wie die Kinder Weihnachtslieder schmettern. Eine weitere Stunde. Plus eine Stunde für Wege, und das ist für Berliner Verhältnisse wenig. Plus zehn bis elf Stunden Arbeit. Und das ist branchenbezogen nicht mal besonders viel. Plus sechs Stunden Schlaf. Macht 25,5 Stunden pro Tag. Und da ist Essen oder ab und zu meine Mutter anrufen noch nicht mal drin.

Rein praktisch spare ich ein. Ich laufe mit halbnassen Haaren los. Minus 20 Minuten. Ich trage Strumpfhosen zwei Tage hintereinander, weil ich es einfach nicht schaffe, neue zu kaufen. Ich bestelle Sushi für alle und war seit Jahren nicht mehr beim Augenarzt. Ich schlafe einfach nur fünf Stunden oder bestelle alles im Internet. Das Chaos in der Wohnung lasse ich die ganze Woche so, bis die B. wieder kommt. Ich habe mich an diesen Zustand der Unvollkommenheit gewöhnt, deswegen beunruhigt mich sowas gar nicht erst. Es gibt Leute, die macht sowas fertig, aber mir ist zumindest in dieser Hinsicht alles egal. Mein Wappentier ist die Wurst.

Spätestens in der Vorweihnachtszeit scheitert aber auch das. Einen Adventskranz dekorieren? Eine Stunde. Und eine weitere, um das Dekozeug zu kaufen. Der F. soll für die Großmütter basteln. Eine Stunde. Eine weitere, um Kekszutaten zu besorgen, die Teigrolle zu finden, den Teig zu kneten, den F. davon abzuhalten, alles umgebacken aufzuessen, na, und so weiter und so fort. Ich schwanke auch noch, ob es eigentlich einfacher ist, das Weihnachtszeug vom letzten Jahr wiederzufinden, oder einfach Neues zu kaufen. Oh, und die Geschenke. Die Karten. Der Adventskalender. Gebastelt wird höchstens rudimentär, aber das dauert ja auch.

Im Ergebnis tippe ich auf lockere 28-Stunden-Tage. Ich muss also vier Stunden einsparen. Alles, was ich in diesen vier Stunden sonst zusammenhalten würde – mich etwa – wird also in sich zusammenfallen. Spätestens am vierten Advent erwarte ich deswegen die komplette Strukturlosigkeit, in der ich mich dann über die Feiertage suhlen werde.

2015 wird aber alles ganz anders.

Der gute Ruf

Natürlich sei er sich so gut wie sicher, dass der X. nicht nachteilig über ihn spreche, meint der Y. auf dem Heimweg von der Tagung im ICE nach Berlin, da sind wir knapp an Wittenberg vorbei. Der X. – ich nicke – sei nämlich nicht ganz von dieser Welt, und wir sind uns alle beide nicht so ganz sicher, ob der X. überhaupt Gedanken hegt, die sich nicht auf sein ziemlich abseitiges Spezialgebiet beziehen. Es sei also gut möglich, dass dem X gar nichts aufgefallen sei. Oder dass er daraus keine Schlüsse gezogen habe. Oder dass er zwar so seine Schlüsse gezogen habe, aber sowieso keine Gespräche führe, in denen es um das Leben anderer Leute geht. Insofern, sagt der Y. und verzieht ein wenig den Mund, sei an sich und bei oberflächlicher Betrachtung alles in Ordnung. Auf den zweiten Blick allerdings sei ihm wegen dieser Sache doch alles in allem ein wenig unwohl.

Beim ersten Zusammentreffen, fährt der Y. fort, habe er natürlich noch nicht im Ansatz an seinen guten Ruf gedacht. Man denke ja überhaupt stets nur an seinen Ruf, wenn dieser einem in irgendeiner Weise gefährdet erscheine. Die damalige Situation war allerdings vielleicht auch objektiv ein klein wenig verfänglich. Er habe nämlich einen Vortrag gehalten, auf einer Fachtagung in einem Berliner Hotel, und sich ganz gegen seine Gewohnheit überreden lassen, zum abendlichen Empfang noch zu bleiben. Die A. sei hieran nicht ganz unschuldig gewesen, die kenne er nämlich sozusagen schon immer, also mindestens seit 1992, als er mit der A. gemeinsam als studentische Hilfskraft im Staub des Instituts für Völkerrecht herumgesessen habe, und so habe er Stunde um Stunde mit der A. an der Bar gestanden und getrunken. Die A. sei eine auch in ihrem 45. Lebensjahre sehr ansehnliche Dame, aber vor allem habe sie einen unschlagbaren, hemmungslosen, unwiderstehlichen Humor, und so bogen sich der Y. und die A. laut kreischend vor Vergnügen an der Theke, und als die A. den Y. zum Tanz aufforderte, war es gegen Mitternacht und beide ziemlich betrunken. Gerade aber, als sie sich mehr des Gleichgewichts als der Zuneigung wegen zu den Klängen von „In The Mood“ eng aneinander festhielten, öffnete sich eine der Türen der Bar, und der X. verließ die auch von ihm besuchte Tagung Richtung Heimat. Er sah im Wesentlichen auf seine Füße, riss aber dann, ungefähr in der Mitte des Raumes doch auf einmal die Augen auf, und dann starrte er den Y. einen Moment lang an, murmelte eine Gruß und entschwand. Zurück blieb der Y., die enthemmt kichernde A. vor der Brust.

Am Samstag drauf traf der X. den Y. im heimischen Kleinmachnow aus Anlass eines Kindergeburtstags. Ein Knabe aus dem weiteren Bekanntenkreise – auch ich kenne die Familie oberflächlich – feierte seinen Geburtstag, und beider Söhne feierten mit.

Man kennt sich in diesen Vororten. Außer den Nachbarn gibt es da ja auch meist wenig Amüsement. Man blieb also beim abendlichen Abholen noch etwas sitzen, trank Sekt und aß Schnittchen, tratschte über Abwesende, und als die B. erschien, wurde der Nachmittag richtig gemütlich. Der Y. und die B. kennen sich, seit die B. vor circa hundert Jahren mit dem damaligen Mitbewohner des Y. zusammen war, und so saßen beide also in einer Sofaecke und sprachen mit einem Glas Sekt in der Hand, und als es schließlich Zeit war zu gehen, ließ die B. ihr Auto stehen und fuhr beim Y. mit. Die beiden waren allein im Auto, denn die eigentlich abzuholenden Söhne hatten sich spontan zur Übernachtung entschlossen.

Vor der Tür der B. dauerte der Abschied. Der Y. schwört, es sei rein gar nichts vorgefallen, man habe eigentlich nur Reiseerfahrungen ausgetauscht, sich zur Illustration Handyfotos gezeigt, und als auf einmal – ausgerechnet – der X. vorbeikam, berührten sich der Y. und die B. an sich auch nicht mehr, als das eben der Fall ist, wenn man sich in einem Auto Bilder zeigt. Er habe, so der Y., im Übrigen auch nicht anders geschaut als eigentlich immer. Höchstens eine Bruchteilssekunde länger, aber das kann sich der Y. auch eingebildet haben.

Letzte Woche allerdings, da habe er dann wirklich etwas irritiert ausgesehen. Da seien sie sich nämlich auf einem Parkplatz begegnet. Der X. und der Y. Ziemlich unverwandt habe der X. ihn angestarrt, sicherlich mindestens eine Minute lang, aber die Frau am Arm des Y., war wirklich seine Schwester. Kurz sei es dem Y. sogar durch den Kopf geschossen, dem X. genau dies zuzurufen, aber vermutlich hätte der ihn dann erst recht sonderbar gefunden, und außerdem habe er sich vor seiner Schwester geniert.

Man müsse das, sagt der Y., schon noch einmal richtigstellen. Man treffe sich halt doch ständig. Die Fachwelt. Die Nachbarschaft. Und bei jeder Begegnung peinige ihn die Vorstellung, was der X. nun über ihn denkt. Er werde ihn bei nächster Gelegenheit einfach einmal ansprechen.

„Da ist er doch!“, winke ich aus dem Abteil heraus auf den Gang des ICE. Abwesend wie immer, starrt mich der X. durch die Scheibe an. Offenbar reist er mit dem selben Zug von der Tagung nach Hause. Dann schaut er den Y. an. Sodann wieder mich. Und dann schaut er auf den Boden und geht schnell weiter.

„Vielleicht rufe ich ihn mal an.“, sagt der Y., und wir beide schweigen.

 

Satansbraten

Verdammt, würde ich gerne brüllen. Kleiner Satansbraten. Bin ich etwa nicht heute morgen ungefähr eine Stunde vor meiner üblichen Arbeitszeit im Büro aufgetaucht? Und habe ich nicht schwer schnaufend durchgearbeitet, auf jede Kaffeepause verzichtet und bin dann ganz, ganz schnell zu dir gefahren? Obwohl ich dafür heute abend bluten und noch viel zu lange arbeiten werde? Und jetzt – ich hole tief Luft und blase beide Backen auf – stehst du einfach da, im Garten der Kita, und haust deinen verdammten Laternenstab gegen den Boden und freust dich am wirbelnden Licht.

Gut, jetzt ist die Laterne also kaputt. Gehen wir also ohne Laterne. Schau, deute ich auf die anderen, mir gerade sehr brav erscheinenden 60 Kinder. Die haben auch alle Laternen. Und ihre Mütter haben zwei richtig gut funktionierenden Beine. Nichts gebrochen. Denen fällt es hier und heute um Einiges leichter, durch den dunklen Volkspark zu laufen. Ich finde, blicke ich den F. scharf an, unter diesen Umständen könntest du auch ein bisschen weniger trödeln. Vielleicht gibst du mir einfach die Hand und läufst brav im Pulk mit.

Schau, jetzt sind die anderen Kinder kaum mehr zu sehen. Die sind nämlich alle da vorn. Nur wir laufen der ganzen restlichen Gruppe hinterher. Das scheint dich aber gar nicht zu stören. Du läufst fröhlich quietschend hinter deinen beiden Freunden her, die ich gerade gar nicht so recht leiden kann. Ist der E. nicht eigentlich nicht …? Und die J. erst! Gibt es eigentlich keine artigeren, freundlichen Kinder, mit denen du spielen und an denen du dir ein Vorbild nehmen kannst? Die C. etwa, die dreijährige Tochter von Freunden: Die spricht das reine Schriftdeutsch inklusive Futur, Passiv und Konjunktiv, kann schon ein wenig lesen und konnte in deinem Alter schon alle Stationen der Berliner U-Bahn aufsagen. Aber gut, jedes Kind hat ja angeblich so seine ganz eigenen Vorzüge. Aber wo sind heute abend eigentlich deine, mein Sohn?

Na gut, jetzt hast du also auch noch die Hosen voll. Andere Kinder sind ja längst trocken. Aber Jungen – sagen jedenfalls die Mädchenmütter immer – brauchen ja für alles länger. Im Kindergarten findet demnächst sogar ein Infoabend zur Jungenpädagogik statt, weil du und deine Spießgesellen, mein Kleiner, nämlich anscheinend auf den Erzieherinnen auch den Sender gehen. Immerhin sind die anderen Jungen offenbar alle am Lagerfeuer angekommen. Alle, Kleiner. Alle, außer dir.

Wir kehren also um. Wir gehen nach Hause. Ich bin richtiggehend wütend. Kurz überlege ich, ob es pädagogisch nicht doch irgendwie vertretbar wäre, jetzt eine Runde zu explodieren, so richtig mit Krach und Funkenschlag, und dann ohne Abendessen ins Bett. Also du. Schließlich verwerfe ich den Gedanken, mache mir statt dessen eine Runde Sorgen, was eigentlich jemand, der mit zwei so wenig fokussiert ist, dass er auf dem Laternenlauf den Laternenlauf einfach vergisst, mit 32 machen soll, und beschließe dann, mir etwas Gutes zu essen zu bestellen. Rotwein wäre auch schön.

Am Ende verziehe ich das Gesicht also zu so einer Art Lächeln. Ich lese vor. Ich atme vor dem Spiegel zehn Mal tief durch. Und dann gebe ich dem F. einen Gute-Nacht-Kuss und beschließe, ins Internet zu fauchen. Der kleine Satansbraten. Die höllische Fressmaschine. Der Tee-Verkipper. Der große Kaputtmacher. Diese schrille Heulboje. Wehleidiger Sadist.

(Mein Herz. Mein kleiner Liebling)

Sommer im Laub

Dann aber, fünf Minuten vielleicht, irgendwo zwischen der Schneeeule und den Pinguinen, gehört das schöne Leben mir ganz, und Freude und Glück schreiten mir eng zu den Seiten. Gelb fallen sanft mir die Blätter entgegen, es dampft der Wald und atmet und riecht nach Pilzen, Sonne und Holz.

In den Bäumen springen Äffchen herum, der Waschbär lächelt mich an, und reich beschenkt schreite ich durch diesen geschenkten, goldenen Sommer und sauge mich voll mit Licht und mit Düften.

Komische Schuhe

Das Geheimnis der Komik, sagte mir mal einer, sei eigentlich simpel: Scheitern, ohne dass etwas Schlimmes passiert. Beides gehöre stets zusammen. Erfolg einerseits sei nämlich nicht lustig. Wenn also einer einen Kuchen backt, den alle mögen, sei das schlechthin nicht komisch. Wenn der Kuchen aber so grotesk missrate, dass jeder, der davon esse, in hohem Bogen gegen die Wand, na, Sie wissen schon, dann sei das in gewissen Kreisen sozusagen abendfüllend. Andererseits sei es natürlich auch nicht lustig, wenn jeder, der vom Kuchen nimmt, tot zusammenbreche.

Gemessen an diesem Maßstab lachen Sie bitte jetzt, denn der J., mein geschätzter Gefährte, der vielgeliebte J., hat sich gestern vormittag in Rosenheim ein paar schwarze Schuhe von Jack Wolfskin gekauft.

Die Schuhe sind natürlich hässlich wie die Nacht. Nirgendwo auf der Welt, stelle ich mir, haben Leute absichtlich so etwas an den Füßen. Es handelt sich um Schnürschuhe aus einem leichten Material aus Kunststoff, nicht unähnlich grau-blauen Turnschuhen, und als der J. gestern Nachmittag das erste Mal mit den Schuhen in den Kuhstall des Bauernhofs gegangen ist, in dem wir gerade Urlaub machen, sah er schon ganz schön belämmert aus.

Belämmerung aber ist noch nicht Scheitern. Scheitern, so sagt man, kann man ja stets nur an den eigenen Erwartungen. Zum Beispiel an den Erwartungen des J. an sich als einen gutgekleideten Mann. Also einem Mann, der auch bei 40 ° C ein weißes Hemd trägt. Und kein T-Shirt auf dem irgendetwas Idiotisches steht. Wir haben solche Leute gesehen. Auf ihren Shirts stand allen Ernstes irgendein erfundener oder auch nicht erfundener Ortsname oder eine Universität, die sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht besucht haben, meistens, weil eine Bildungseinrichtung dieses Namens nicht existiert. Oder Aussagen, die nicht einmal dann Sinn ergeben, wenn sie nicht aufgedruckt, sondern ausgesprochen werden. „Talk To My Paw“, ich bitte Sie. Oder „High Five Mountain“. Oder auch der Hersteller. Der J. und ich sind ja in den Achtzigern sozialisiert und haben ein BOSS-T-Shirt-Trauma. Hemden sind also weiß. Oder blau. Und es steht auch nichts drauf. Hosen sind blau oder beige. Pullover haben einen V-Ausschnitt, und Schuhe sind aus Leder. Plastik sollte es in Zusammenhang mit Bekleidung gar nicht geben. Bei Regen geht ein vernünftiger Mensch einfach nicht raus, und für ganz kurze Strecken gibt es Schirme und die Barbourjacke des J.

Diese nicht allzu ehrgeizig formulierten Erwartungen des J. erfüllte dieser Jahr für Jahr solange ich ihn kannte. Zeitweise besaß er gar keine Kleidungsstücke, die nicht beige, blau oder weiß waren. Wenn er doch einmal etwas anderes kaufte – ein rosa-weiß-kariertes Hemd etwa – dachte der J. lange darüber nach. Dann aber fuhren wir eines Tages ins Krankenhaus Friedrichshain und kamen mit dem F. wieder.

Zu Anfang war er noch ganz klein und störte die Bekleidungsvorstellungen des J. eigentlich gar nicht. Also, wenn man mal von der bespuckten Windel auf der Schulter absieht, aber die kann man ja abnehmen, wenn man vor die Tür geht. Als der F. ein Jahr alt wurde, saßen wir uns also gegenüber, der J. und ich, und versicherten uns, dass die Leute, die alle behaupten, mit Kind werde alles ganz anders, Quatsch erzählt hätten. Urlaube, Kleider, Freizeitverhalten: Wir saßen uns im Cavallino Rosso in Mitte gegenüber, waren angezogen wie immer, im Buggy neben uns schlief der F., und wir hatten gesiegt. Dachten wir. Damals.

Im nächsten Winter froren wir eigentlich schon sehr, als wir bei 4° C auf dem Spielplatz standen. Und meine hochhackigen Schuhe trug ich eigentlich nur noch selten. Dafür hatte der J. verhältnismäßig oft eine hässliche, blaue Jacke an, die er sich eigentlich nur für eine einzige Wanderung gekauft hatte. Aber noch waren wir ganz obenauf. Der Winter war auch ziemlich warm, und besonders schmutzig kann man sich in Berlin ja auch gar nicht machen.

Die Wochen aber schwanden. Die Monate zogen vorbei. Der F. wurde größer und frecher. Der F. plantschte im Meer, der F. begann, ziemlich viel zu sprechen. Inzwischen spricht er eigentlich ununterbrochen, außer, er schläft. Das ist unpraktisch, denn eigentlich ist das schon eher mein Part. Seit er sprechen kann, hat er natürlich auch Interessen. Baumaschinen gehören dazu. Die Zubereitung von Speisen. Und nicht zuletzt: Die Landwirtschaft. Also so eine idealisierte Landwirtschaft, wie sie in Kinderbüchern vorkommt.

Wer kann seinem Erstgeborenen widerstehen. Wir buchten eine Woche Bauernhof. Hier sitzen wir nun, irgendwo in Oberbayern, unweit des Tegernsees. Der Hof liegt einsam wie nur was, es gibt Kühe, Pferde und Katzen, es riecht nach tierischen Exkrementen und Milch, und der Hof ist zwar einerseits so gespenstisch sauber wie ganz Bayern, aber andererseits reicht auch der sehr wenige Schmutz und der gestern einsetzende Regen, um des J. Red Wing Schuhe ganz und gar zu durchnässen.

Einen Tag und eine Nacht dachte der J. nach. Ideale wirft man nämlich nicht so einfach über Bord. Dann setzten wir uns in unseren Mietwagen, fuhren nach Rosenheim und betraten eins dieser Geschäfte, von denen wir gedacht hatten, sie besuchten immer nur die anderen.

Jetzt lachen Sie bitte. Denn das ist Scheitern. Oder lachen Sie auch nicht. Denn komisch, wir erinnern uns, ist etwas nur dann, wenn es nicht schlimm endet. Und Sie haben des J. Schuhe noch nicht gesehen.

Säule

Das christliche Altertum kannte ja die aus heutiger Sicht relativ originelle Institution des Säulenheiligen. Das waren also fromme Männer, die eines Tages auf hohe Säulen stiegen, um dort bei Wind und Wetter auf dem Kapitell herumzusitzen. Irgendetwas Gottgefälliges – außer vielleicht Beten – taten die Styliten eigentlich nicht, aber Gott, der Gewaltige, freute sich offenbar so heftig über die frommen Männer auf den Säulen, dass sich immer wieder einer fand, dem Allmächtigen diese kleine Freude zu bereiten.

Gegenwärtig ist der Stylit sozusagen ausgestorben. Oder das Beten auf Säulen ist so wenig öffentlichkeitswirksam, dass zwar irgendwo noch Männer auf Säulen beten, sich das aber nicht bis zu mir herumspricht. In der Zeitung steht jedenfalls nichts davon, und – seien Sie versichert – wenn es anders wäre, wüsste ich davon. Ich tue nämlich derzeit wenig mehr als Zeitung zu lesen und zu arbeiten. Ich trage meine verdammte Schiene am Knie nämlich noch bis Ende November, und so sitze ich also auf diesem Sofa und lese im Internet nach, was die frommen Männer heutiger Tage so alles anrichten. Ich muss sagen, ich wäre froh, säßen sie einfach so auf Säulen, ohne anderen Leuten mit Flamme und Schwert zu nahe zu rücken und den ganzen Nahen Osten durcheinander zu bringen.

Generell wächst mein Respekt vor diesen Säulenheiligen von Tag zu Tag. Das Wetter ist ja gar nicht das Schlimmste. Die meisten dieser Leute waren irgendwo im Süden ansässig. da war es nicht so kalt. Von Berliner Säulenheiligen hatte die Kirchengeschichte jedenfalls nie etwas zu vermelden. Aber die Bewegungslosigkeit …! Man muss wahrhaft gottesfürchtig sein, um sich nicht so entsetzlich zu mopsen, dass man nach drei bis vier Stunden einfach wieder absteigt. Wenn man das kann. Und keine Schiene am Bein hat.

Was am Säulenheiligen allerdings den lieben Gott dermaßen begeistert hat, dass seine Anhänger die Gottesfreude dieses schier übergroße Opfer wert war, hat sich mir nicht erschlossen. Konnten die denn nicht anderswo beten? Oder ging es dem lieben Gott gar nicht ums Gebet? War es vielleicht nur die Unbequemlichkeit? So ein Behagen am Opferwillen, also die Freude, so sehr verehrt zu werden, dass der Verehrende auch sehr unbequeme, unerfreuliche Erlebnisse auf sich nimmt? Oder so ein generelles Amüsement an skurrilen Aktionen in der Öffentlichkeit? Aber kann man bei einer solch eigennützigen Freude wirklich noch von einem lieben Gott sprechen? Oder ist der Gott der Säulenheiligen möglicherweise – horribile dictu – gar nicht so besonders lieb und freundlich, und erfreut sich heute in Ermangelung der ausgestorbenen Säulenheiligen vielmehr an den kleinen, harmlosen Kalamitäten des Lebens anderswo. Verpassten Bussen, fluchenden Passanten, Leuten, die auf Bananenschalen ausrutschen und – tja – bewegungslosen Frauen auf Sofas.

Ein Engel mit Hosen

Ich war stolz. Mein Engel schwebte sozusagen bildfüllend zwischen Sternen und einem sattgelben Mond. Er hatte ausladende Flügel, er lächelte mild, und er breitete die Arme aus wie der Herr Jesus auf den Bildern, die die Klassenlehrerin Frau S. bisweilen verteilte. Ich bekam leider nie so ein Bild.

Ich hatte dem Engel ein buntes Hemd gemalt, gestreift, mit bunten Knöpfen. Der Engel trug an den Füßen so eine Art Pantoffeln, und zwischen Hemd und Füßen prangte eine blaue Hose. „Frau S.!“, rief ich und schwenkte mein Bild. Das Schuljahr lief seit einem halben Jahr, und ganz hatte ich es noch nicht aufgegeben, Frau S. Wohlwollen zu gewinnen. In der Rückschau war ihr dieses Bemühen vermutlich ganz besonders unangenehm.

Frau S. sah sich das Bild lange an. Dann verzerrte sich ihr Gesicht. Ich duckte mich. Ich hatte etwas falsch gemacht, so viel war klar, aber was, blieb unklar. Dann verschwand Frau S., übertrag der K., ihrer Lieblingsschülerin, die Aufsicht über die Klasse, und blieb sehr lange weg. Als sie wiederkam, musste ich zur Direktorin.

Die Direktorin schimpfte mit mir. Ich hatte den Herrn Jesus verhöhnt, den lieben Gott und seine Englein. Die trugen nämlich keine Hosen, und nur ein rechtes Heidenkind, die der liebe Gott nicht liebt, konnte überhaupt auf so eine Idee kommen. Ich fing an zu weinen. Das sei nur recht, sagte die Direktorin. Der Herr Jesus weine jedesmal, wenn ein Kind ungezogen sei, denn mit diesen Kindern gehe es schlecht aus. Ich bekam irgendeine Strafarbeit auf, und dann stand ich auf dem Flur.

Meine Eltern lachten den ganzen Abend über den Engel und seine Oberbekleidung. Meine Eltern machten sich nicht für fünf Pfennig Gedanken über die Schule, weil ich eine wirklich gute Schülerin war, der Frau S. die guten Noten unwillig auf den Tisch pfefferte. Ich habe Jahre später erst verstanden, dass Frau S. mir meine Leistungen erst recht verübelte, weil sie mir in ihren Augen nicht zugestanden haben, und jedesmal, wenn die Rede auf die Grundschule kommt, die der F. ja auch einmal besuchen muss in ein paar Jahren, gebe ich mir einen Ruck, endlich meinen Frieden mit der Schule zu machen für den F., der  vermutlich spüren wird, dass seine Mutter diesem Institut mit einem gewissen Abstand gegenübersteht, aber bis heute – Jahrzehnte später – reicht ein kurzes Gespräch mit der M. beim Italiener, eine Plauderei in der Kita mit einer anderen Mutter, und ich bin sechs, ich stehe auf dem Flur meiner Schule zwischen Klassenraum und Rektorat und zähle ganz langsam bis hundert, bis ich mich dann doch aufmache, klopfe und eintrete und mich sehr leise, so leise, wie ich kann, auf meinen Platz setze und warte, dass auch dieser Tag endet.

Nicht nett

Hatten Sie schon einmal Krücken? Die meisten Leute waren doch wahnsinnig nett zu Ihnen, oder nicht? Ihre Freunde riefen an, um für Sie einzuholen, das Kind aus der Kita mitzubringen und Sie herumzufahren. Sie wurden besucht. Sie fühlten sich reich beschenkt. Freunde sind toll.

Aber auch die Nachbarn waren sehr nett zu Ihnen. Der Inhaber des Ladens auf der Ecke würde Ihnen den Einkauf auch nach Hause bringen. Die Konditorei aus dem Erdgeschoss bringt Ihnen Gebäck. Nachbarn klingeln und helfen, und wenn Sie sich zum Arzt schleppen, drei Häuser weiter, eilen nette Leute herbei und bieten an, Ihre Tasche zu tragen. Überhaupt sind alle sehr freundlich. Sie wussten gar nicht – oder es war Ihnen nicht bewusst – wie freundlich die Menschen eigentlich sind.

Doch nach einigen Tagen fällt  Ihnen auf, dass nicht alle Leute gleich nett zu Ihnen sind. Die meisten jüngeren Leute, studentisch anmutende Hipster und Prenzlmütter, Mützenträger, Sonnenbrillenträger mit Bart: Die sind alle wahnsinnig lieb und sehr hilfsbereit. Die meisten Kinder – so Schulkinder zwischen sieben und 15 – sind so, so nett. Eigentlich gibt es nur eine einzige Gruppe, die schmallippig, muffig und unfreundlich ist, und bei denen Sie sich immer ein wenig fürchten, rücksichtslos weggeschoben zu werden. Oder zumindest angeraunzt, so von wegen „hier wollen auch andere Leute durch“. Das sind die Rentner.

Ich wohne nun mitten im Prenzlauer Berg. Hier gibt es eigentlich wenig Rentner. Einige sind auch ganz offensichtlich und unüberhörbar zugezogen, meistens handelt es sich um betreuende Großeltern. Die sind eigentlich auch sehr freundlich. Man erkennt sie an den Cordsakkos und den Twinsets. Die unfreundlichen Rentner gehören, meine ich, fast ausnahmslos zur autochthonen Bevölkerung. Ältere Leute mit Kunstlederjacken, schlecht rotgefärbten Haaren, miesen Zähnen und ungepflegten Fingernägeln. Wenn ich solche Leute sehe, weiche ich – so weit es geht – aus. Jedesmal aber frage ich mich: Sind die nur zu mir so unfreundlich? Oder hassen die mich als Zugezogene? Als Gentrifiziererin? Als vermeintlich Nicht-Deutsche? Oder hassen die eigentlich die ganze Welt? Waren die schon immer so? Wenn nein: Wie wird man so, und warum?

(Und ist es eigentlich nicht ganz gut, dass es von dieser Sorte hier nicht mehr allzu viele gibt? Ich glaube, ich bin ganz entschieden pro Gentrifizierung. Zieht doch nach Marzahn, ruppige Rentner!)

… und bleiben Sie gesund.

Montag. Vivantes Friedrichshain

Da sitze ich also, morgens um halb neun, auf der Straße und versuche vergeblich aufzustehen. Es geht nicht. Ich komme nicht hoch. Nachbarn helfen mir auf den Bürgersteig, schleppen meine Taschen hinterher und schließen mein Rad an. Ein Ladenbesitzer kommt mit einem Glas Wasser, mein Sohn steht ratlos und heulend neben mir, und dann packen freundliche Hände zu und bringen mich zum Arzt. „Heute nicht wegen der Schilddrüse, wa?“, schallt es mir von der dicken, fröhlichen Schwester am Empfang entgegen, und dann liege ich auf der Untersuchungsliege, die Hausärztin berührt vorsichtig mein Knie, schickt die Schwester mit meinem Kleinen in die Kita und ruft einen Krankentransport. Eine halbe Stunde später werde ich ins Vivantes Friedrichshain gefahren. Es ist Montag. Kurz vor zehn.

Die Rettungsstelle brummt und summt vor Geschäftigkeit. Rettungssanitäter, Schwestern und ein Arzt laufen hin und her. Ich habe in sieben Stunden niemanden von den Leuten, die da arbeiten, herumsitzen oder auch nur langsam gehen sehen. Es muss höllisch anstrengend sein. Doch so schnell sich auch alle bewegen: Mir bringt das nichts. Es sind nämlich viel zu wenige Leute da, und so warte ich Stunde um Stunde auf einem Bett auf dem Gang darauf, dass etwas passiert. Irgendwann frage ich einen vorbeieilenden Pfleger, ob man mich vergessen hat, aber der schüttelt nur den Kopf und läuft weiter. Einer nach dem anderen. Es geht nach Dringlichkeit, und wer nicht blutet und schreit, ist anscheinend nicht dringlich. Ich warte also weiter.

Ich müsste mal verschwinden, und außerdem habe ich Durst. Ich kann aber nicht aufstehen. Ich frage deswegen jemanden, der aber auch nur weitereilt, und schaue auf die Uhr. Es ist nachmittags, halb zwei. Irgendwann werde ich massiv, etwas lauter. Dann fährt man mich immerhin vom Gang in einen Behandlungsraum. Irgendwann, noch viel später, kommt ein Arzt. Der immerhin ist freundlich, tastet Kopf und Körper ab, fragt nach Übelkeit, leuchtet mir in die Augen, und springt wieder auf. Ich soll geröntgt werden. Ein Pfleger schiebt mein Bett um die Ecke. Das Gerät surrt. Dann liege ich wieder auf dem Gang. Vor mir weint eine Britin mehrere Stunden, es läuft ihr nur so über die Wangen, aber niemand bleibt stehen. Ich spreche sie an, aber sie weint unablässig weiter.

Um kurz nach vier werde ich wieder in einen Behandlungsraum geschoben. Inzwischen ist mein Knie doppelt so dick wie normal, mein Mund ist trocken. Meine Füße eiskalt. Ich hätte mir die Kniescheibe gebrochen, wird mir erzählt. Ich solle mich morgen auf der Station melden, dann würde ich operiert. Man legt mir eine Schiene an, drückt mir zwei Krücken in die Hand und eine Thromboseprophylaxe in den Bauch. Dann werde ich entlassen. Wie mein Arztbrief besagt „zu Fuß“. Eine Schwester hilft mir bis in die Eingangshalle. Es ist 16.45. In der Halle kehre ich noch einmal um. Ich sollte noch eine zweite Thrombosespritze bekommen, aber die wurde offenbar vergessen. Man schiebt mir die Spritze in die Handtasche. Clexane 40. Dann schleppe ich mich vor die Tür inmitten hustender Raucher in Bademänteln und warte auf den J.

Dienstag. Bundeswehrkrankenhaus Mitte

Ich will nicht ins Vivantes Friedrichshain zurück. Ich recherchiere im Internet, ich frage herum, und dann rufe ich im Bundeswehrkrankenhaus in Mitte an. Klar, sagt man mir. Ich solle meine Sachen packen, man sage dem Empfang Bescheid und dann soll ich kommen. Der J. packt, bugsiert den F. und mich ins Auto und wir fahren los.

Ich bin nicht abergläubisch. Aber die Wartemarke 13 ist vielleicht doch kein gutes Omen, denn als ich am Empfang sitze, heißt es, man wisse von nichts. Dann werde ich um die Ecke zur Erstuntersuchung geschickt. Da schickt man mich wieder zurück. Ich solle nun aufgenommen werden.

Ich fülle einen Haufen Unterlagen aus. Dann humpele ich zurück. Es sind schon mehrere Stunden vergangen, aber die anderen Leute sitzen auch brav auf dem Gang und warten, warten, warten. Immerhin geht es nun weiter. Ich bekomme Blut abgezapft, ich werde hochgeschickt auf die Station und dann sitze ich vorm Schwesternzimmer. Der J. schiebt mich und meinen Koffer durchs Krankenhaus, fragt nach, drängelt, holt Wasser und irgendwann – es ist inzwischen ungefähr zwei – verliere ich die Nerven. Ich will nicht mehr. Ich will nach Hause. Ich bin seit morgens um neun hier. Ich habe noch keinen Arzt gesehen, mein Knie ist blau und schmerzt und pocht, und bevor ich in Tränen ausbreche, drückt mir eine Schwester nun doch ein Schmerzmittel in die Hand. Nehmen sie, heißt es. Dann sitze ich wieder da.

Das Krankenhaus sei randvoll, höre ich. Man werde deswegen erst – wann? – eine Voruntersuchung machen, und dann würde ich morgen aufgenommen. Aber die Voruntersuchung für die Narkose findet nicht statt.

Wie ich später höre, ist etwas schiefgelaufen. Ich hätte gleich unten bei der Aufnahme untersucht werden sollen, wurde dann aber gleich hochgeschickt. Man weiß nun nicht recht etwas anzufangen mit mir. Ich werde deswegen irgendwann zum Chefarzt geschoben, der eine Entscheidung treffen soll.

Hier geht nun alles recht fix. Ich werde reingerufen, mein Knie wird untersucht, und dann fragt der Arzt nach den Röntgenbildern. Die habe ich nicht. Die hat das Vivantes Friedrichshain. Ich solle mir die Röntgenbilder besorgen, wird besprochen, und am nächsten Tag wiederkommen. Vielleicht würde gar nicht operiert. Dann fahren wir heim. Auf dem Heimweg holen wir noch die Röntgenbilder – es geht erstaunlich schnell – und sammeln um kurz vor fünf den F. an der Kita wieder ein. „Schon besser, Mama?“, fragt er, und ich muss fast lachen. Eine Behandlung wäre gut. Oder zumindest zu wissen, was jetzt kommt.

Dienstagabend. Hausärztin

Ups, fällt mir ein, als ich zu Hause bin. Ich habe keine Thromboseprophylaxe mehr. Der J. läuft also los zu meiner Hausärztin, kommt mit einem Rezept wieder und hat die Spritzen auch schon bestellt. Clexane 80 steht auf dem Rezept.

War das gestern nicht weniger, frage ich mich, zwei Stunden später mit der Spritze in der Hand. Aber egal. Ich habe keine Ahnung, wie man diese Spritzen richtig setzt, schaue entsetzt bei youtube die Tutorials an und dann haue ich mir die Spritze möglichst schmerzfrei in den Bauch. Es geht, aber irgendetwas mache ich falsch. Am Samstag werde ich – aber das weiß ich noch nicht – aussehen wie ein dicker Leopard mit bemerkenswert unregelmäßigen blauen Flecken.

Mittwoch, Bundeswehrkrankenhaus Mitte

Am nächsten Morgen bringt der J. den F. in die Kita und die Röntgenaufnahmen ins Krankenhaus. Ich solle um 14.00 Uhr kommen, höre ich. Um 13.30 holt mich ein Taxi ab. Ich kenne den Taxifahrer, der mich in der Wohnung abholt, mich ins Taxi setzt, am Krankenhaus einen Rollstuhl holt und dann bis oben bringt.

Ich müsse nicht operiert werden, sagt der Arzt, als er die Bilder sieht. Ich bekomme nur eine bessere Schiene, die nicht bei jeder Bewegung rutscht und scheuert. Ich bekomme eine Verschreibung für die neue Schiene. Die Thromboseprophylaxe von gestern erweist sich in der Tat als total überhöht. Ich könnte, sagt man mir, einfach immer die Hälfte verwenden und den Rest wegschmeißen. Nun gut. Es klappt so mittel.

Donnerstagvormittag, Sanitätshaus Recknagel

Jetzt wird alles ganz einfach. Also abgesehen von dem gut 200 Meter langen Weg von mir bis zum Sanitätshaus. Ich hinke mit meiner rutschenden Schiene die Straße entlang, bekomme eine neue Schiene angepasst und hinke mit einer gut sitzenden Schiene zurück.  Mein Knie pocht und schmerzt, ich werfe weitere Schmerztabletten hinterher. Sechs Wochen soll das dauern, sagt man mir. Zehn Tage muss ich das Knie möglichst ganz flach halten, kann quasi nirgendwohin. Zu Hause sitze ich eine halbe Stunde auf dem Sofa.

Dann fahre ich den Rechner hoch. Ich muss arbeiten.