Leben

Mit Ärger infiziert

Der F. ist ein Sonnenschein. Normalerweise. Von 16 Wachstunden pro Tag strahlt der F. ungefähr 10, und während der restlichen Zeit hat er meistens etwas im Mund. Er interessiert sich für eigentlich alles und spricht übergangslos euphorisch über das Schmerzempfinden von Robotern, die Kleidung von Superhelden und das Innere von Kamelhöckern. Ansonsten ist er seit kurzem fünf, normal groß, normal schwer, normal begabt und normal sensibel, was das Zusammenleben mit ihm sehr erleichtert. Infolge einer seltsamen Spontanmutation ist er sehr ordentlich und räumt regelmäßig auf.

Am letzten Sonntag aber war alles anders. Wir sitzen also, es ist kurz nach eins, im NENI am  Ku’damm und essen wirklich, wirklich viel. Es soll Leute geben, die das Essen im NENI langweilig finden, aber ich bin kaum irgendwo in Berlin so gut gelaunt wie hier. Es gibt israelisches Essen im obersten Stockwerk des 25HourHotels, vorm Hotel ist der Ku’damm, hinter dem Hotel kann man in den Zoo und weit über die ganze Stadt bis zur Siegessäule schauen. Es ist kein feines Restaurant, geradezu das Gegenteil von Hochküche, deswegen vermutlich laufen unsagbar viele Kinder herum.

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Der F. jedoch mault. Er isst auch kaum etwas, obwohl wir die unter dem Namen Balagan verkaufte bunte Mischung von allem Möglichen bestellt haben und er eigentlich immer zumindest Fisch, Gurken, Falafel und Hummus liebt. Heute ist ihm nichts recht. Es ist zu hell, der Hummus sieht zu gelb aus, und irgendwann fängt er an zu meutern. Die Gedächtniskirche. Immerzu müsse er an den Krieg denken, der blöde Krieg. Die Kirche hätten sie abreißen müssen. Beim nächsten Mal will er woanders sitzen, denn so schmeckt ihm das hier nicht. Schließlich rückt er den Stuhl herum. Er nervt ein bisschen, aber immerhin: Das Denkmal funktioniert.

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Beim F. allerdings funktioniert gerade nicht so viel. Im Aquarium hält er zwar gut durch. Zuhause allerdings wird wieder genörgelt. Der J. und ich schauen uns erstaunt an: Dass der F. nicht in die Kita will, kommt so gut wie nie vor. Er proklamiert auch sonst nicht, dass er genug davon habe, dass immer die Erzieherinnen bestimmen. Dass in der Vorschule ein bestimmtes Kind nerve, weil es bei der Unterweisung in die Kunst des Uhrenablesens nicht zuhören und keine vollen und halben Stunden sagen würde, so dass die Erzieherinnen immer dasselbe wochenlang wiederholen. Dass die Kinder einer anderen Gruppe, die mit seiner Gruppe gemeinsam vorgelesen bekommen, Kackwürste seien, weil sie seine liebevoll aufgebaute Megacity zerstört hätten, und dass der kleine N. nicht mehr sein Freund sei, weil er beim gemeinsamen Bauen mit Legosteinen regelwidrig rote und blaue Steine mische. Außerdem beklagt er sich über Kinder, die schreien, und den Umstand, dass in der in der Kita gern servierten Eiersauce zu wenige Eierstücke schwimmen, die auch nicht gleich groß seien.

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Am Montag schnappt der F. dann endgültig über. Der von mir gemalte Drache hat einen zu dicken Schwanz. Die Aufkleber auf den Stühlen in der Kita sind nicht parallel angebracht. Es ist – der F. betritt gerade das Reich der zweistelligen Zahlen – eine Schweinerei, dass es zwar drei-und-drei-ßig, aber nicht ein-und-zwei-zig heißt. Eine solche irreführende Inkonsequenz ist nämlich omfair zu Kindern. Am Dienstag schließlich eskaliert der F. beim von ihm an sich sehr geschätzten Klavierspiel und will auf keinen Fall das Schmetterlingslied zur mitgelieferten CD spielen. Als er beim Essen nur trockenen Reis isst und seine Creme Caramel mir schenken will, werde ich hellhörig.

Und tatsächlich: 38,7° C.

Ich atme auf. Die Wesensveränderung ist nur temporär. Ich koche ein Huhn aus, bereite Pfefferminztee zu und bin zuversichtlich: Am Wochenende allerspätestens ist der F. hoffentlich wieder ganz der Alte.

Der beste Spam der Welt

Tag für Tag klicke ich die Spamkommentare weg, mit der hier erkennbar unseriöse Geschäftsleute um Kunden werben, um Sie, meine sehr geehrten Leserinnen und Leser, vor schlechten Geschäften und schlechten Empfindungen gleichermaßen zu bewahren, doch heute, heute nachmittag sozusagen, hat dann doch ein Spammer den Vogel abgeschossen. Einen riesengroßen Vogel. Den Vogel überhaupt. Es ist ein Brustvogel:

„Natürlich umging ich mich mit allen Mädchen nicht, die diese Creme benutzten. Bis sich unter meinen Bekannten von keiner befunden hat, wer sich über das Mittel Bust Size schlecht geäußert hätte. Es ist wichtig, zu verstehen, dass diese Creme für die Frauen vorbestimmt ist, die träumen, das Äußere zu ändern, aber wollen sich auf die plastische Operation nicht legen. Jede versteht, dass die Implantation der Brust es, aufwendig krank ist, und es ist nicht bekannt, wie sich die Implantate in der Zukunft führen werden. 

Alle Mädchen wollen die Mütter werden und ohne Probleme füttert das Kind von der Brust. Es ist ganz offenbar, dass man nach der Plastik der Brust die natürliche Ernährung des Kindes von der Milch vergessen kann. Die Creme Bust Size für die Titten hat solchen verderblichen Einfluss auf milch dem Eisen, wie die Operation nicht. Er ist überhaupt unschädlich, da die Zonen der Größe der Brust, nicht außerdem fördert.“

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Mit dem Pfeil, dem Bogen

„Ich gehe zum Fasching als Indianer. Mit Pfeil und Bogen.“

„Geht es auch ohne Pfeil und Bogen? Das finden deine Erzieherinnen bestimmt nicht so toll.“

„Die Erzieherinnen sind meine Feinde.“

„Auch R. und M.? Das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Nein. Nur I. Das ist meine Feindin. Die sperre ich ein und schieße sie mit Pfeil und Bogen. Nur wegen der musste ich auf der Bank sitzen.“

Die Bank, auf die jugendliche Missetäter gesetzt werden, um nachzudenken, ist das Hauptdisziplinierungsmittel in F.’s Kita.

„Was hast du denn angestellt?“

„Ich habe J. geärgert. Alle meine Freunde haben gelacht.“

„Dann hast du zu recht auf der Bank gesessen.“

„Nein. I. ist meine Feindin. Ich habe mir auf der Bank ausgedacht, dass ich sie mit Pfeil und Bogen abschieße. Zum Fasching. Weil man da Kostüme anhaben kann. Mit echten Waffen.“

„Wieso hast du denn J. geärgert? Wart ihr heute im Garten?“

„Nein. Nicht heute. Mama! LETZTES JAHR!.“

Oha. Erstens scheint die Verbannung auf die Bank in zumindest einigen Fällen ihren Sinn zu verfehlen. Zweitens ist der F. noch deutlich nachtragender, als mir so klar war. Ich hoffe, ich habe beim F. keine geheimen Schulden.

No Fashion. No Style

Schönheit, sagt man, liege immer im Auge des Betrachters, aber das ist natürlich Quatsch. Bisher sind alle Bemühungen, das Schönfinden einfach aller Leute durch öffentliche Proklamationen irgendwie zu fördern, ziemlich folgenlos verhallt. Auf der Fashion Week laufen jedenfalls immer noch sehr dünne, sehr junge Osteuropäerinnen über die Laufstege, und der einzige Trost als mittelalte, mitteldicke Frau ist es eigentlich, dass man die feilgebotenen Sachen auch gar nicht haben will, weil man die weder in Gegenwart seiner Kollegen noch in der kleiner Kinder tragen kann. Kleidung für andere Gelegenheiten brauche ich quasi nicht.

Leider enthebt einen dies nicht der Notwendigkeit, überhaupt Kleidung zu kaufen. Zum einen ist hierzulande ziemlich kalt. Zum anderen ist es unüblich, nichts oder immer nur dasselbe zu tragen. Ich habe ernsthaft darüber nachgedacht, beruflich einfach immer ein blaues Kleid mit blauem Blazer und privat Jeans und Streifenshirts zu tragen, aber die Leute würden mich für exzentrisch halten, und das wäre mir nun auch wieder nicht recht.

Nun kann man nicht einmal sagen, dass ich es nicht schaffen würde, mir etwas zu kaufen. Im Onlineshoppingzeitalter ist das ja alles nicht so schwer, da reichen 20 Minuten an einem Sonntagabend. Oder ich raffe mich auf und gehe ins Lafayette. Ich habe jetzt auch keine so komplizierte Figur. Ich kann mich nur nicht überwinden, denn ich interessiere mich für kaum etwas weniger als für Mode. Ich kann mich auch nicht anziehen, bei mir hat alles irgendwelche komische Flecken, mein Strumpfhosen haben Laufmaschen, und wenn sonst nichts ist, platzt eine Naht.

Sehr beneidet habe ich schon vor geraume Zeit Männer um die Möglichkeit, bei so einem Onlineshop mit Sitz in der Berliner Torstraße ganze Outfits zu beziehen, die die aussuchen und einem schicken. So etwas möchte ich auch. Ich habe also am Wochenende bei Zalon den Fragebogen ausgefüllt und warte auf die Lösung aller meiner Kleidungsprobleme.

Falsche Pferde

Ganz früher muss es traumhaft gewesen sein. Zumindest, wenn man der F. glaubt. Ganz früher gab es ein großes, weißes Haus am Stadtrand von Frankfurt. Einen Pool. Einen Vater, der von einem Wagen mit Fahrer abgeholt wurde, wenn er ins Büro fuhr, und eine Mutter, die viel lachte und sehr schön war. Zumindest für einen der Elternteile war es aber offenbar weniger traumhaft, denn 1984 trennten sich die Eltern. Die Mutter der F. behielt das Haus noch zwei Jahre. Dann wurde es verkauft. Sie kaufte sich eine kleinere Wohnung in Wiesbaden, denn in der kleinen Stadtrandgemeinde fiel man als geschiedene Frau aus allen Freundschaften heraus und wurde nicht mehr eingeladen. Die F. und ihr Bruder verbrachten jedes zweite Wochenende beim Vater und fuhren zweimal im Jahr mit ihm in Urlaub. Als die F auszog, begann die Mutter, ehrenamtlich behinderte Kinder zu unterstützen.

Nie hat sich die F. gefragt, wovon ihre Mutter eigentlich all die Jahre gelebt hat. Inzwischen weiß sie, dass die Mutter aus dem Hausverkauf genug Geld für ihre neue Wohnung bekommen hat, eine ganz ordentliche Rente, die ihrem Exmann von seiner Rente abgezogen wird, und laufenden Unterhalt über Jahrzehnte. Außerdem hat sie irgendwann noch einmal geerbt.

Als die F. vor ein paar Jahren geheiratet hat, gab es kein weißes Haus. Aber eine große Wohnung in Mitte, die allerdings nur gemietet war. Zwar keinen Pool, auch keinen Fahrer, aber ihr Mann gehört zu den wenigen Leuten, die in seinem Unternehmen auch heute noch Business fliegen dürfen, wenn sie irgendwohin fahren. Zwei Kinder.

Leider ging es auch mit der F. und ihrem Mann nicht ewig gut. Inzwischen hat er eine neue, große Wohnung, diesmal gekauft. Da lebt er mit seiner neuen Freundin. Irgendwann, als alle auf einem 40. Geburtstag ziemlich betrunken waren, hat die F. zumindest ein paar Freundinnen verraten, dass ihr Mann ihr vorgeworfen hatte, sie sei eigentlich tot und nur noch eine Funktion ihrer Kinder.

Sie lebt aber noch, deswegen braucht sie Geld. Leider verdient sie als freie Journalistin mit sehr gelegentlichen Aufträgen zu wenig für eine Wohnung in ihrem alten Kiez. Sie ist nach Moabit gezogen und wohnt dort auf 60 Quadratmetern. Unterhalt gab es einige Jahre für die Kinder. Jetzt ist ihr Sohn aber zu ihrem Exmann gezogen. Man darf die F. nicht nach Hintergründen fragen, denn sie fühlt sich von ihrem Sohn quasi verlassen und betrogen, obwohl sie weiß, dass das nicht so ist und man so etwas auch nicht denken sollte. Manchmal hat die F. Angst davor, dass auch ihre Tochter zu ihrem Exmann zieht.

Unterhalt für sich hat die F. nie bezogen. Wenn jetzt auch noch der Unterhalt für die Tochter wegfiele, würde es gar nicht mehr reichen. Vielleicht geht die F. dann zum Amt. Vielleicht zieht sie zu ihrer Mutter. Wahrscheinlich sieht sie ihre Kinder dann nur noch sehr selten, weil die Kinder ohnehin in ein Alter kommen, in dem sie weniger Kontakt suchen, als den Eltern lieb ist. Vermutlich lockern sich die freundschaftlichen Beziehungen zu ihren Berliner Freundinnen, wenn sie erst mal in Wiesbaden sitzt. Ich nehme an, sie erbt irgendwann die Wohnung ihrer Mutter. Dann wird sie dort alt werden. Spätestens, wenn sie Rentnerin wird und nicht mehr schreiben kann, wird sie auf Sozialleistungen angewiesen sein, oder ihre Kinder müssen für sie aufkommen. Ich weiß, dass sie sich davor fürchtet.

Schau dich nicht um

Schau dich nicht um, sagt der Engel zu Lots Weib, denn wer sich umschaut, ist verdammt dazu, den Rest aller Tage seine Trümmer anzuschauen, und darauf zu warten, dass die Säulen sich erneut aus dem Staub erheben und aus den Splittern Dächer wachsen. Jeden Tag wartest du vergebens.

Ich habe im letzten Jahr so viele Gewissheiten verloren. Ich dachte immer, am Ende gehe doch alles gut aus, aber inzwischen habe ich morgens Angst, Spiegel Online zu öffnen und fürchte mich vor Wahlen. Inzwischen halte ich alles für möglich. Die Atempause, das Goldene Zeitalter, unsere Pax Augusta, geht ihrem Ende zu.

Ich habe im letzten Jahr an drei Gräbern gestanden. Tote Sänger interessieren mich nicht, aber ich habe Angst vor den Verlusten, die in den nächsten Jahren anstehen. Ich bin 40, die Elterngeneration wird alt und die Gleichaltrigen sind nicht mehr so gesund wie früher. Gebe Gott, dass es nie eins der Kinder trifft, aber vor mir liegen wahrscheinlich mehr Beerdigungen als Hochzeiten. Mein Leben und das meiner Freunde hat in den allermeisten Fällen vermutlich seine Endausbaustufe erreicht. Für romantische Komödien sind wir zu alt. Unsere Erfolge sind eingetreten oder kommen nicht mehr. Die meisten Überraschungen werden unangenehm ausfallen.

Ich erwarte in den nächsten zwölf Monaten wenig. Ich hoffe, Europa bekommt die Kurve. Ich hoffe, die, die ich liebe, bleiben gesund bei mir. Ich hoffe, ich gehe morgens gern zur Arbeit. Ich wünsche mir Wärme, Freundschaft. Liebe. Gutes Essen. Musik. Ich will nicht nach hinten schauen. Ich will nicht erstarren.

Kleine Selbstbefragung zu Weihnachten

Dann sitzen Sie also so da, circa vier bis fünf Kinder toben durch die Wohnung, die Gastgeberin verteilt Tee und Kekse, und irgendwann kommt die Rede auf Geschenke, also Spielzeug, und die Mütter und Väter zählen auf, was der Weihnachtsmann (wir sind im heidnischen und deswegen christkindlosen Berlin) nächste Woche den guten Kindern alles bringt. Ein Schminkkopf wird genannt. Eine Kinderkaffeemaschine. Ganz viel Lego. Viel Playmobil. Eine Babypuppe. Auf einmal fällt Ihnen auf, dass das Mädchenspielzeug fast ausnahmslos für das Nachspielen privater Situationen bestimmt ist. Wie das Puppenhaus. Oder der Ministaubsauger. Das Spielzeug für die Jungen bildet dagegen berufliche Situationen ab. Die Feuerwehr, die Müllabfuhr. Sogar der Superheld rettet ja sozusagen beruflich. Zuhause schauen Sie sich den Legokatalog an, den der F. kürzlich mit nach Hause gebracht hat. Tatsächlich sieht man in den Spielwelten für kleine Jungen Männchen, die arbeiten. Sie sind Zugführer oder galaktischer Soldat. Und Frauenfiguren, die als Fee, Prinzessin oder einfach als Hausfrau in bisweilen palastartigen Wohnhäusern leben. Müssen Kinder nicht annehmen, das sei so richtig? Und am Ende wäscht er nur auf Aufforderung ab. Und sie arbeitet ab Kind 1 nur noch halbtags?

(Bildet das Spielzeug für den F. eigentlich gleichermaßen private wie berufliche Situationen ab?)

Etwas später spricht man über Geschlechtsstereotypen. Superhelden und Anna und Elsa werden genannt. Überraschung: Die meisten Anwesenden sind davon überzeugt, dass sie total geschlechtsneutral erziehen. Nur die lieben Kleinen – Schulten werden gezuckt – sortieren sich leider exakt anhand der Rosa-hellblau-Grenze. Anschließend an diese Äußerung sagt dann irgendeine Mutter, die nette K., dass sie als Kind auch ihre Barbiepuppen heiß geliebt habe, und ersichtlich geschadet habe ihr das ja nun nicht.

Ich sehe die K. an. Sie ist Anfang 40, glaube ich, hat irgendwann mal etwas mit Design im Namen studiert und in den letzten Jahren als freie Mitarbeiterin ihrer früheren Firma einzelnen Projekten zugearbeitet. Ich glaube, sie verdient damit so um die 15.000 Euro im Jahr. Ob die frühere Firma sie später wieder nimmt, wenn die beiden Kinder größer sind? Ihr Mann ist jedenfalls beruflich so viel unterwegs, dass er nur selten mal abholt und ganz bestimmt nicht derjenige ist, der mit den Kindern Plätzchen backt, bastelt oder Blockflöte übt. Die Mädchen in ihrem Umkreis lernen also aus der Beobachtung der K. und vieler anderer Frauen, dass Frauen Kinder abholen, Perlenarmbänder auffädeln und zum Kinderarzt gehen. Männer arbeiten in Büros, weil ihre Jobs wichtiger als Perlenarmbänder sind.image

(Erlebt der F. eigentlich die Arbeitsteilung zwischen dem J. und mir auch beim Kochen, Basteln, Kinderarzt als halbwegs hälftig?)

Die K. erzählt mir, dass der kleine B. die Kita verlassen hat. Seine Eltern haben sich im Sommer 2015 getrennt. Die Mutter des B. hatte zuletzt einen Dawanda-Shop mit Patchworkkissen und -kuscheltieren betrieben, aber damit kaum das Material verdient. Weil sie bei ihrer früheren Agentur nie fest angestellt war, konnte sie in diesen Job nicht mehr zurück. Sie hat sich dann fast ein Jahr beworben und schließlich in Düsseldorf etwas gefunden. Es ist wieder eine Werbeagentur, aber an ihren früheren beruflichen Status hat sie nicht wieder anknüpfen können. Sie ist nun Assistenz, das gehe auch besser mit den Kindern. Die betreut nun hauptsächlich ihre Mutter. Alle zwei Wochen lässt der Vater die Kinder einfliegen, dann geht alles, was im Alltag der Kinder nun finanziell nicht mehr möglich ist.

Alle am Tisch bedauern die arme Mutter des B. Niemand stellt ihre Entscheidung in Frage, jahrelang auf selbstgenähte Kissen zu setzen. Alle tun so, als sei quasi jede Tätigkeit gleich zu bewerten, egal, ob man damit genug verdient für ein komfortables Leben. Sicherlich hat das auch etwas damit zu tun, dass man einer Frau am Boden nicht auch noch Vorwürfe machen soll. Aber es gibt einen unsinnigen Glaubenssatz unter Frauen, dass Geld nicht wichtig sei, nichts, über das sich zu sprechen lohne. Das rächt sich oft schon innerhalb einer Beziehung, weil es die Kräfteverhältnisse zuungunsten der Frau verschiebt. Richtig dicke kommt es aber nach einer Scheidung, wenn aus Mittelschichtmüttern plötzlich Alleinerziehende mit Hartz IV werden, weil entgegen einer offenbar immer noch weit verbreiteten Ansicht Frauen mit Kindern über drei keinen Betreuungsunterhalt mehr bekommen und des Kindesunterhalt (wenn er denn fließt) nicht reicht.

(Reden wir mit dem F. überhaupt über Geld?)

Auf dem Heimweg bin ich mit mir so mittelmäßig zufrieden. Unsere Verteilung von Aufgaben ist ungefähr paritätisch. Das Spielzeug des F. ist aber insgesamt schon eher typisches Jungenspielzeug. Viel Playmobil, viel Lego. Männchen, die arbeiten und eher keine Blumenfeste feiern. Schön wäre es, seine Männchen würden ebenso Feuer löschen wie Rosen pflücken. Beim Basteln und Kochen gibt es eine kleine quantitative Differenz, ungefähr 70 : 30. Bei der Erziehung rund um Geld, Wirtschaft und Wirtschaften stehen wir noch ziemlich am Anfang.

Kleiner Abschied

Auf einmal hat der Erziehungsaufwand des F. deutlich angezogen. Bis vor einigen Monaten reichte es, dass er satt und sauber war und immer dabei. Sprechen, laufen und wie ein Mensch essen lernen Kinder nämlich praktisch von selbst. Gut, das Radfahren hat ihm der J. im Park beigebracht, aber eigentlich lief der F. so verhältnismäßig beiläufig neben uns her und quatschte von morgens bis abends, denn der F. kann sehr, sehr gut und vor allem viel sprechen. Dafür klettert er nicht wesentlich geschickter als ein Sack Zement seine Mutter.

Dann fuhren wir in Urlaub, und als wir zurückkamen, lag ein laminierter Zettel im Fach des F. in der Kita. Es soll Theater gespielt werden, und auf dem Zettel stand seine Rolle. Seitdem sitzen wir also in allen möglichen Situationen, wenn wir also gerade dran denken, und lassen ihn seine Rolle aufsagen. Zwischendurch hatte die Erzieherin ihm wohl mal erzählt, es liefe noch nicht so dolle, da war er sehr traurig, und ich schämte mich sehr, weil wir doch schuld waren mit unserer Faulheit. Inzwischen wurde er gelobt, jetzt ist er wieder obenauf und benörgelt seinerseits die Leistungen Dritter.

Dann schickte seine Klavierlehrerin eine E-Mail. Alle Mails, die Kinder betreffen, erhalten Mütter. Sie schickte also mir eine E-Mail. Im Anhang befand sich das Klavierstück, das der F. auf dem Weihnachtskonzert spielen soll. Stück ist etwas übertrieben, es handelt sich um  ein Stück, das zum größten Teil die Klavierlehrerin spielt, und der F. spielt auch einige Sequenzen.

Seither hat unser Familienleben ein wenig gelitten. Täglich fragen wir ab, ich kann den Part der Klavierlehrerin jetzt auch schon auswendig, ab und zu bauen wir den F. auf, weil er in Tränen ausbricht, wenn irgendetwas nicht auf Anhieb hinhaut, und eines Nachts habe ich ihn vorm Klavier beim Üben erwischt. Dafür strahlt er, wenn es gut läuft, und wächst, wird er gelobt, um einige Zentimeter auf ungefähr 1,15.

Auf der einen Seite freue ich mich über meinen großen, klugen Kerl. Ab und zu schaue ich ihn an und finde ich hinreissend in seiner flinken, gewitzten Fröhlichkeit. Wie er sich über Bewunderung freut, wenn er im Museum seiner besten Freundin von Julius Caesar erzählt, den die Römer umgebracht haben, weil sie keinen Kaiser wollten. Wie er strahlt, wenn er beim Italiener seine drei, vier Worte Italienisch aus dem Urlaub herauskramt und alle sich freuen. Wenn er sich über Bücher, kleine Bürogeschichten, Politik unterhält, ganz genau nachfragt, sich vorsichtig an Meinungen herantastet und dann ganz sicher wird und sehr überzeugt von einer Seite, auch wenn es zwei oder mehr davon gibt. Dann aber schaue ich ihn an, wenn er auf dem Sofa sitzt und singt und nehme jeden Abend ein kleines bisschen Abschied von dem rundlichen Baby auf der blauen Decke mit dem Wal, von dem wackeligen Kleinkind, das sich am Tisch festhielt, von dem kleinen Kerl mit dem Löffel voll Kartoffelbrei und will jeden Moment festhalten und gleichzeitig mit ihm weiterstürmen, ins Grenzenlose und darüber hinaus.

Der kinderlose Donnerstag

Man denkt ja immer, es trifft nur die anderen. Man selbst würde, ist das Kind erst mal da, natürlich niemals seine kinderlosen Freunde vernachlässigen, keine Konzerte mehr besuchen oder zunehmen. Dann aber ist das Kind da, man trinkt nicht mehr, man ist dauernd müde, und auf einmal vergehen zwei Jahre und man hat die kinderlosen Freunde nicht einmal gesehen. Es vergehen drei Jahre und man lädt sich nicht mehr zum Geburtstag ein, weil das ja auch etwas komisch wäre, wenn man sich sonst nie sieht, und wenn vier Jahre vorbei sind, das Kind kann allein essen, sich allein anziehen, allein auf Toilette gehen und allein spielen, bemerkt man, dass man seine alten Freunde vermisst.

Nach vier Jahren einfach wieder um die Ecke zu kommen, sieht natürlich auch komisch aus. Ich googele deswegen abends auf dem Sofa den alten, kinderlosen Freunden erst einmal hinterher. Wer was macht. Berufe. Wohnorte. Konzerte, auf denen sie waren, Bärte, die sie sich haben wachsen lassen, all das, und dann überlege ich mir, mit wem ich gern einmal wieder ein Glas Wein oder auch drei oder vier trinken würde, und wer sich freut, wenn ich mal wieder anrufe, und nehme mir vor, mich noch dieses Jahr wieder zu melden. Na gut: Noch diesen Winter.

Der kinderlose Mittwoch

Am Morgen wartet das Taxi vor der Tür und fährt mich nach Tegel. Es ist früh, sehr früh, und ich bin noch nicht ganz wach. Als Berlin unter mir kleiner wird, immer kleiner und schließlich unter Wolken verschwindet, fallen mir für einen Moment die Augen zu. Ich habe heute nach von einem weißen Haus geträumt, in das ich einziehen wollte, obwohl ich im Wachzustand kaum etwas so abschreckend finde wie ein eigenes Haus. Es gab aber Schwäne dort, einen riesigen Nussbaum und die Zweige einer Weide hingen in spiegelndes Wasser.

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Neun Stunden später bin ich wieder in Berlin. Ich bin inzwischen sehr solide übermüdet, am Rande dieses Stadiums der Müdigkeit, in dem die ganze Welt sonderbar illuminiert wirkt, so ein wenig zu sehr gesättigte Farben, dafür alle Töne und Stimmen leicht verrauscht. Wenn ich die Augen schließe, drifte ich weg, deswegen halte ich mich wach und höre dem Taxifahrer zu, der schimpft, dass in Berlin nur noch Ausländer genug Geld dafür hätten, Taxi zu fahren. Überhaupt würde alles immer schlimmer, deswegen würden auch immer mehr Leute die AfD wählen. Mit den Flüchtlingen hätte das gar nichts zu tun, behauptet der Taxifahrer, nur mit Angela Merkel, die endlich zurücktreten sollte, damit alles wieder besser wird und auch der kleine Mann wieder so viel Geld in der Tasche hätte, dass er es sich leisten könnte, abends mal einen drauf zu machen und mit dem Taxi heimzufahren.

Ich bin zu müde, um zu widersprechen, heute und überhaupt. Ich schweige angeekelt und starre aus dem Fenster und überlege, wann die selbstfahrenden Autos wohl endlich so weit sind, dass sie mich schweigend durch Berlin fahren, aber vermutlich vermieten die Taxiunternehmen die Fahrzeit dann für Werbung, und ich muss mir die ganze Zeit Werbung anhören, die natürlich personalisiert sein wird und auf allem fußt, was ich jemals im Internet nachgeschaut habe.

Zu den beworbenen Waren und Dienstleistungen wird dann in vielen Jahren sicherlich auch das natürlich großartige künftige Spätwerk Christian Krachts gehören. Der ist dann vielleicht siebzig. Und ich bin eine ältere Dame, die im selbstfahrenden Taxi sitzt und Christian Krachts toller Stimme zuhört, der einen kurzen Auszug aus einem Roman vorlesen wird. Das Taxi wird mich zur Kracht-Lesung fahren, die ganz so wie heute im Deutschen Theater stattfinden kann und grandios sein wird. Nur bessere Plätze hätte ich dann gern und nicht in Reihe 15 direkt an der Säule.

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