Der Sommer ist zurückgekehrt und ich fahre wegen Terminen den ganzen Tag mit dem Rad durch Berlin. Ich liebe das, in der Wärme quer durch die Stadt zu fahren. Irgendwo einen Matcha Latte zu trinken, den Leuten dabei zuzusehen, wie sie sich noch einmal richtig mit Wärme vollsaugen, weil der Winter hart werden wird, spitzknochig und böse.
Am Maybachufer kaufe ich auf dem Wochenmarkt Avocados, Weintrauben und Spitzpaprika. Heute Abend, beschließe ich, gibt es Shakshuka. Dann fahre ich heim und gehe mit dem geschätzten Gefährten Eis essen.
Im Nachbarkiez hat vor kurzem ein japanisches Eiscafé aufgemacht. Tenzan Lab heißt es und ist sehr schick und elegant, also schiefergrau und Messing, sehr schöne, große Eisraspeln, Kellner in weißen Kitteln, und dann lassen wir uns jeder aus einem Rieseneiswürfel ein Kakigori hobeln, mit Mochi und Matchasauce und roten Bohnen.
Vielleicht fahren wir nächstes Jahr wieder nach Japan.
Viel gearbeitet. Ich wünschte manchmal, ich wäre jemand, dem es gegeben ist, zart und elegisch in einem schilfgrünen Morgenmantel auf einem Sofa zu liegen, verträumt seine Blicke über das Meer schweifen zu lassen, und ab und zu elegante, kleine Törtchen zu verzehren. Flugs – das ist bei solchen Damen immer so – stellte sich jemand ein, der mich anbeten und mir die Törtchen kaufen würde. Vielleicht würde er mir mit einem Riesenfächer auch noch so ein bisschen Luft zuwedeln. Neben meinem Sofa läge ein Riesenstapel sehr guter Bücher. Freundliche Menschen läsen mir vor.
Tatsächlich esse ich mehrfach täglich Mengen, die einem Waldarbeiter angemessen wären, lese selbst, liege selten und arbeite eigentlich richtig gern. Man stelle sich mich also als so eine Art kräftiges Arbeitstier mit wilden, schwarzen Zotteln vor, in der einen Hand einen Telefonhörer, in der anderen eine überschwappende Kaffeetasse mit saurem Filterkaffee, und ungefähr zehn offene Fenster auf dem Bildschirm vor mir. Ich trage aus Phantasielosigkeit täglich blaue Kleider, gern mit Kaffeeflecken drauf. Kein Wunder, dass es so mit Anbetung und Törtchen und Fächer nicht funktioniert hat.
Was soll man machen. Man macht das Beste daraus. Radelt ins Büro, telefoniert gut gelaunt mehrere Stunden, brüllt freudig in Diktiergeräte, verschlingt mittags drei Semmeln mit Rinderschinken und Gorgonzola und Mayonnaise mit Ei, krümelt mit den restlichen Besprechungskeksen von vorgestern die Tastatur voll und radelt wieder nach Hause. Tröstet den kleinen Sohn, der am Boden zerstört ist, weil zwei Mädchen aus seiner Klasse schönere Zahlen malen, brät große Klumpen aus Lamm mit Pellkartoffeln und Mais aus der Dose, weil das mein Lieblingsgemüse ist. Schreibt einer lieben Freundin einen Geburtstagsbrief und malt sich wohlig aus, wie in dem sehr poshen Fitnessclub, in das man demnächst eintreten will, alle glauben, man sei als abschreckendes Beispiel engagiert
Als es klingelt stehe ich noch unter der Dusche. Ich hatte den Besuch um 11:30 Uhr erwartet, obwohl ich die befreundete Familie um 10:30 Uhr eingeladen habe. Unsere Söhne sind befreundet, auch wir haben uns angefreundet, aber wir sind noch nicht so eng wie mit unseren anderen Freunden, die seit Jahrzehnten bei uns ein- und ausgehen. Terminkonfusionen sind also noch ein bisschen peinlich.
Ich befülle also etwas hastig Platten mit Käse und Wurst, schneide Brot, der J. füllt Sektgläser und kocht Kaffee und außerdem backe ich Waffeln. Im Wohnzimmer demonstriert Sohn F. seinem Freund seinen Roboter. Der ältere Sohn des Besuchs liegt auf dem Sofa und liest Comics.
Wir essen zu viel und trinken ein bisschen Sekt, die Stunden schwappen hin- und her. Wir sind uns sympathisch, aber noch nicht über den Punkt hinweg, an dem man weitere Selbstdarstellungen nicht mehr nötig hat. Wir zeigen uns also allseitig als Party Animals a. D., als Kinder aus durchweg westdeutsch gutem Hause mit vernünftiger Schulbildung, geistreich und gut im Geschäft mit exakt dem Maß an liebenswürdigen Schwächen, das man aufweisen sollte, damit Leute einen nicht für arrogant halten. Unsere Kinder berechtigen zu den schönsten Hoffnungen. Ob die – wirklich nette – andere Familie das eigentlich auch anstrengend findet? Wann fing das eigentlich an, dass man Jahre braucht, um sich anzufreunden?
Nachmittags geht der J. mit Sohn F. und einem neuen Schulfreund ins Kino. Der neue Freund wohnt im Nachbarhaus, das sich mit unserem den Hinterhof teilt. Sohn F. sieht in Ermangelung eines solchen Geräts kaum fern, deswegen sind Filme für ihn immer sensationell. Entsprechend euphorisch kehrt er wieder.
Kurze Zeit später taucht der Vater des neuen Freundes mit dem jüngsten Sohn im Babyalter und Kuchen bei uns auf. Die Kinder lärmen im Wohnzimmer, wir essen viel zu viel Zucker, tauschen mit dem noch neueren, reizenden Bekannten Eckdaten aus (Schwabe! Irgendwas mit Medien!), trinken zu viel Kaffee, um früh schlafen zu gehen, und erst gegen Abend sind wir zum ersten Mal am heutigen Tage allein zu dritt zu Haus, essen Suppe und sitzen schließlich auf dem Sofa und ich lese vor. Kalle Blomquist, Kapitel elf.
Ich friere und mein Sattel ist nass. Ob diese Stadt eigentlich keinen Herbst kann, habe ich mich aufgehört zu fragen nach all den Jahren, aber als ich an der Schule ankomme, habe ich diese Stadt verflucht und ungefähr die Hälfte ihrer Bewohner und ihre Verkehrsbetriebe dazu. Ich hasse heute alle. Ich will nach Hause, eine warme Decke, Champagner und die Godiva-Pralinen ohne alkoholische Füllung. Leider ist nichts davon verfügbar.
Mein Sohn ist dafür um so aufgeräumter. Er ist meistens glänzender Laune, heute aber ganz besonders, weil er seinen besten Freund aus dem Kindergarten trifft. Leider geht er nicht zur selben Schule, wie es überhaupt die ganzen Kindergartenkinder in verschiedene Richtungen verstreut hat. Um so herzlicher wird er umarmt, als die beiden sich in der Schule des Freundes sehen. Einige Meter vor mir laufen sie zu zweit zu uns nach Hause und erzählen sich etwas über Lehrerinnen, Essen, Schließfachsysteme, Banknachbarn und AGs.
An der Ampel werde ich hellhörig. Gerade ging es um die Sieben Weltwunder. Jetzt berichtet der F. vom offenbar achten Weltwunder: Dem Schokoladenbrunnen in einem All-Inclusive-Hotel auf Malta. Ja, genau. Da waren wir nämlich, der F. und ich, als ich im Frühling viel Zeit hatte und spontan einem Angebot im Internet gefolgt war. Die Reise war spottbillig, auf Malta waren wir noch nicht. Der geschätzte Gefährte, der ein solches Etablissement niemals betreten würde, hatte eh keine Zeit, und ich schwöre, es war nicht so erschreckend, wie man denkt, wenn man an All Inclusive Hotels denkt.
Tatsächlich war unser Zimmer groß, die Pools sehr okay, ich mochte das Essen und wir waren jeden Tag unterwegs. Allerdings kam es zu einer unvorhergesehenen Panne: Der F. fand das Hotel toll. Er fieberte jeden Tag auf die Shows am Abend hin, die ich mir mit jeweils zwei Gin Tonic schöntrank. Er liebte die Buffets und es tat ihm um jede Mahlzeit leid, die wir wegen Besichtigungen verpassten. Und am Sonntag, einen Tag vor Abreise, wurde er eines veritablen Wunders teilhaftig: Auf dem Buffet stand ein Schokoladenbrunnen und rundherum lagen Spieße mit Marshmallows und der F. durfte sich nehmen, so viel er wollte. Ich glaube, er stieß sogar kleine, entzückte Freudenschreie aus. Weil er weiß, dass Leute ungern Kinder freudenschreien hören, ging er zu diesem Zweck kurz vor die Tür.
Wir waren mit dem F. wirklich überall. Er kennt Bauernhöfe und Luxushotels, Ryokans und dänische Holzhäuser, er war in Kyoto ebenso wie am Tegernsee, an der Côte d’Azur und in der Toskana, in Split und Heiligendamm, auf Kreta und in Florenz, in San Francisco wie in Verona: Aber wenn Sie ihn heute fragen, was ihn auf Erden am meisten beeindruckt hat, dann ist es nicht ausgeschlossen, dass er Ihnen den Schokoladenbrunnen nennt. In dem Supersonderangebotshotel auf Malta. Seinem besten Freund hat er Hotel wie Schokoladenbrunnen jedenfalls angepriesen wie der Baedeker den Petersdom.
So viele Briefe habe ich geschrieben. So wenige abgeschickt. Und die schönsten, die habe ich nicht mal behalten. So viele Stunden habe ich telefoniert. Auf dem Boden gelegen, unter dem Esstisch, das rissige, gräuliche Holz und von einem Thema zum anderen mäandert: Flüsse waren wir. Flüsse, Rinnsale manchmal und manchmal ein Strom.
So kurz sind meine E-Mails heute geworden. Drei, vier Sätze, Verabredungen, Kurznachrichten. 12.20 Uhr bei Tuan. 20.00 Uhr im Holmes Place. Mittwoch gern. Ja, ich hole ihn auch ab. Ja, ich auch.
Kein Raum bleibt mir mehr für das Ungefähre, keine Stunde für alles, was fließt. Nie zum Telefon greifen und nicht wissen, was ich wissen werde, wenn ich auflege. Ich bin ein gut gepflegter Garten, wusstest du das? Ich bin das reine Barock mit seinen schnurgeraden Alleen.
Ich bin das Aufstehen um 7:30. Ich bin der direkte Weg ins Büro. Ich bin der schattenlose Mittag, die Telefonliste, die Fristenzettel und die Wiedervorlagen. Ich bin der Anruf vom Alex bei Mami Camilla wegen dreier Pizzen. Ich werde nie wieder der Wind in den Haaren sein, die schmelzende Unschärfe, die Hitze im Schatten, und manchmal macht mich das traurig.
In Neukölln bin ich gern. Ich mag die Studenten, die aus Ontario, Lyon oder Stuttgart kommen könnten, ohne dass man das sieht oder hört. Ich mag die Bars, in denen die Luft noch angefüllt ist mit so einer feinstofflichen Nervosität, Wunsch und Begehren, Bier und manchmal sogar noch Rauch. Ich schaue auch gern Leuten beim Jungsein zu.
Besonders gern in Neukölln bin ich mit Mek. Ich glaube, ich war das ganze Jahr nur mit Mek in Neukölln, weil der J. da nicht so recht zu überzeugen ist, und ich die Frau Engl nur ein einziges Mal besucht habe im ganzen Jahr, das war beim Tomatenessen, und auf einmal tut es mir leid um das Jahr 2015, obwohl es ein schönes Jahr war, weil ich weniger gelebt habe, als ich eigentlich wollte, und nehme mir vor, dass 2016 bunter, saftiger und herzhafter wird.
Für heute Abend aber trinke ich Wein und Bier und laufe durch den falschen Frühling Dezember die Elbestraße abwärts und die Weserstraße empor, der Spree entgegen.
Man muss sich das also so vorstellen: Sie kommen aus dem Büro. Sie haben ein rotes Etuikleid an und isabellafarbene Pumps. Sie beeilen sich mächtig, sie laufen auf ihren sieben Zentimetern die Treppe hoch und sacken dann auf der grauen Auslegeware in sich zusammen. Auf der Bühne vor Ihnen wandern 15 Kinder in rudimentären Verkleidungen um eine Trittleiter herum.
Die beiden Erzieherinnen lesen „Peter und der Wolf“ vor. Die Kinder spielen, ab und zu soll ein Kind mal einen Satz sagen, der dann so vernuschelt und leise kommt, dass eigentlich nur derjenige das Stück versteht, der es kennt. Im Raum dürfte das aber eigentlich jeder sein, weil die Kita die Eltern dermaßen handverlesen hat, dass Eltern ohne Bezug zu klassischer Musik von vornherein nicht vorkommen dürften. Die Kita ist städtisch, aber der Kiez so gründlich gentrifiziert, da ist es dann auch schon egal.
Bevor Sie sich so langweilen, dass sie ihr Handy aus der Tasche ziehen, ist das Stück zuende. Sie dürfen aufstehen, in den Gruppenraum gehen und Blechkuchen essen. Den haben angeblich die Kinder gebacken. Weil er eigentlich ganz gut schmeckt, bedanken Sie sich in Gedanken bei den Erzieherinnen und trinken schnell zwei Tassen Kaffee. Während dessen klettert Ihr Dreijähriger auf Ihnen herum und Sie fürchten für Ihre Strumpfhosen.
Die Kinder haben gebastelt, und die gebastelte Seifenschale sieht bei freundlicher Betrachtung aus wie ein etwas extravagantes Schnitzel. Sie bedanken sich überschwänglich. Gleichzeitig erreicht der Lärmpegel das Niveau einer Werkshalle, in der riesige Maschinen abwechselnd gegeneinander donnern, während andere Maschinen schrill pfeifen und quietschen. Ihr Sohn baut mit großer Konzentration einen Gegenstand aus Lego, der der Seifenschale ein wenig ähnelt.
Sie würden sich eigentlich ganz gern mit den anderen Eltern unterhalten, die sind nämlich eigentlich ganz nett. Kurz brüllen Sie mit einer andern Mutter eine Kurzunterhaltung über Brüssel, eine Ausschussanhörung und widerliche Flughäfen, und sprechen mit einer anderen über einen Künstler, den die andere Mutter überschätzt findet, und Sie auch. Mit den meisten Anwesenden könnten Sie durchaus eine ganz nette Unterhaltung führen, aber nicht hier.
Endlich dürfen Sie weg. Sie atmen dreimal ganz tief die feuchte, kalte Winterluft ein, sie schieben ihr Rad durch die Dunkelheit, und dann fahren Sie mit Mann und Sohn zu IKEA, weil es jetzt doch auch schon egal ist. Sie wandeln durch die schwedischen Dekohöllen, sie kaufen Decken, Lampen, Kinderschränke, und Sie sind so göttlich entspannt wie Buddha herself, denn Sie wissen: Sie sind entkommen.
Es ist stockdunkel, aber der F. ist schon wach und singt. Oh Tannenbaum. Ja, denke ich. Du mich auch.
Weil meine Stimme immer noch irgendwo anders Urlaub macht, würde ich die Karten zum Weihnachtsliedersingen in der Komischen Oper ganz gern zurückgeben. Weil alle anderen auch erkältet sind oder schon was vorhaben, wird aber nichts draus. Ich dusche also so schnell ich kann, der J. zieht den F. an, und dann laufen wir los. Im Bus erzählt der F. sehr laut jedem, der es hören will, dass er einen Drachen besitzt, der im Keller wohnt und einen eigenen Adventskranz besitzt. Der Drache singt auch sehr schön, er kann Feuer spucken, und er liebt die Musik so sehr wie der F.
In der Oper ist es rappelvoll. Die Eltern singen laut und schief, einige Kinder rutschen stumm auf ihren Sitzen, andere brüllen die Weihnachtslieder mit, bis ich besorgt nach oben schaue, ob der Kronleuchter schon schwankt. Neben mir gibt der F. sozusagen alles.
Von der Oper aus laufen wir bis zum Alex. Der F. wird, meine ich, gerade ob der Last von Schokoladennikoläusen und gebrannten Mandeln etwas rundlich, deswegen lassen wir die Busse fahren, und als Lohn der Mühen verspreche ich dem F. eine Fahrt mit dem Karussell am Roten Rathaus. Aus der Fahrt werden drei, über dem strahlenden F. singen die Engel, und als wir daheim ankommen, isst F. ganz schnell zwei Brötchen und geht zu Bett.
Um kurz nach drei fahren wir nach Charlottenburg. Eigentlich, das versichern wir uns immer, wenn wir da sind, ist Charlottenburg schön. Hübsche Geschäfte, gediegene Restaurants, außerdem wohnen der P. und die K. da, die eine Wohnung haben, wie ich sie auch gern hätte, und außerdem so erkennbar mehr Geschmack als ich, dass ich immer ein bisschen neidisch bin, weil meine Wohnungen irgendwie nie so gut aussehen. Ihr Sohn ist auch hübsch, ein reizender Dreijähriger, mit dessen Freunden der F. sofort im Kinderzimmer verschwindet. Ich esse sehr viel Apple Crumble und trinke Wasser und Kaffee, rede die ganze Zeit über Restaurants, Kitas, Orte, wo man hinfahren will und Getränke, die wir gerne trinken, dass ich irgendwann feststelle, dass ich keineswegs gerade erst angekommen bin, sondern so langsam mal wieder aufbrechen sollte. Das machen wir dann auf: Langsam fahren wir den Ku’damm hoch, und in den Bäumen und an allen Gebäuden glüht und glitzert das Weihnachtsfest so verheißungsvoll, als stehe uns wirklich ein Wunder bevor.
Kennen Sie eigentlich die Ming Dynastie? Das ist ein Restaurant an der Jannowitzbrücke, also so zwischen Mitte und Kreuzberg, direkt gegenüber der Chinesischen Botschaft, wo man sagenhaft gut isst. Ich bin wahnsinnig gern da, und von all den guten Sachen, die man da bekommt, mag ich das Mapo Tofu am liebsten.
Als meines Wissens einzige Speise des Hauses bekommt man das Mapo Tofu in einer flachen Glasschale. Es handelt sich um feinen, weichen Tofu, den man, glaube ich, Seidentofu nennt, der mit sehr feinen Hackfleischkrümeln in einer roten, pikanten Sauce schwimmt. Gemüse spielt bei diesem Essen quasi keine Rolle.
Am Montag Mittag aber begab ich mich nicht in die Ming. Am Montag bestieg ich ein Taxi und fuhr gen Charlottenburg, wo in der Kantstraße ein zweites gut beleumdetes chinesisches Restaurant belegen ist, das Good Friends heißt. Ich war da verabredet, hatte auch noch einen befreundeten Kollegen dabei, und bestellte eine Nudelsuppe mit Ente, denn noch lieber als Mapo Tofu esse ich Nudelsuppen, und die sind da ziemlich gut. Das Good Friends gehört nämlich zu den wenigen Restaurants, die sich die echten roten Enten glänzend ins Schaufenster hängen.
Mein Kollege bestellte das Mapo Tofu. Kurz beneidete ich ihn und bedauerte einmal mehr, nicht die Nudelsuppe und das Mapu Tofu essen zu können. Dann aber erschien unser Essen. Ich riss die Augen auf. Gut, auf dem Glasteller bestehe ich nicht. Doch der Tofu war kein Seidentofu, sondern der normale, gebackene Tofu, den man so kennt. Die Sauce war quasi kaum vorhanden. Stattdessen war das Gericht über und über mit Erbsen bedeckt. Es war – dies bestätigten die Mitesser – eigentlich kaum zu erkennen. Es war anscheinend trotzdem ganz gut.
Nach dem Essen begann ich zu sinnieren. Verhält es sich mit dem Mapo Tofu vielleicht wie mit Gulasch? Handelt es sich also um ein eher vage konkretisiertes Gericht, das bei jedem Chinesen anders schmeckt, wie ja auch mein Gulasch keine einzige Tomate enthält, sondern nur Rind, Wein, Zwiebeln und ganz, ganz viel Kümmel und Paprikapulver? Und andernorts hauen andere Leute dosenweise Tomaten an ihr Gulasch aus Schwein? Oder sind wir dem Good Friends auf die Schliche gekommen, dass sich anders als man meint, doch nicht der echten und wahren chinesischen Küche verschrieben hat? Oder ist andersherum das Mapo Tofu der Ming nicht das Wahre? Oder es ist alles halb so wild, aber der Koch kann exakt diese Speise nicht ausstehen, und hat sie deswegen abgewandelt, weil er Erbsen liebt?
Ich werde nachsehen müssen. In China. Demnächst. Nächstes Jahr. Oder übernächstes. Bis dahin verraten Sie mir vielleicht, wie es sich mit dem Mapo Tofu verhält.
Verdammt. Eine Demonstration. Langsam schiebt sich eine graue, bedrohliche Masse mit finsterem Blick und gereckten Fäusten durch eine Allee. Erste Steine fliegen. In der ersten Reihe plärren Marktweiber Unverständliches. Spruchbänder flattern. Ich verstecke mich hinter einem Baum. Dass die mich nur nicht finden.
Langsam kommt die Demonstration näher und näher. Ein Alter mit knolliger Nase, ein mageres Mädchen in Lumpen mit halb entblößter Brust. Man kreischt, Stimmen werden lauter, und ich verstehe endlich, was die Massen fordern. „Eier! Würstchen! Joghurt!“, gellt es aus der entmenschten Menge, und ich schlage mich ächzend und keuchend in den nahen Wald. Doch auch da hallt es mir entgegen: „Früh-stück! Rührei! Käse!“, und ich falle, falle, falle und schlage die Augen auf. Ich liege im Bett. In Usedom. Und vor mir steht der F.
Der F. liebt Hotels. Er liebt Hotelzimmer, er liebt Pools. Ganz besonders aber liebt er das Frühstücken im Hotel.
Im Strandhotel Ostseeblick ist das Frühstück auch wirklich gut. Es gibt französischen Rohmilchkäse, es gibt hausgemachte Wurst, und die Eier sind wirklich Eier und nicht eine wässrig zusammengerührte Pampe. Der Himbeerquark ist hausgemacht, sogar die Semmeln schmecken, und so sitzen wir da, vorm Wind geschützt auf der Terrasse, schauen aufs Meer und essen. Irgendwo seitlich spielen der F., die A. und deren kleine Schwester S. etwas Dubioses mit Stöcken und Steinen. Vielleicht, sinniere ich, sind die Träume des F. aus irgendeinem Grunde noch mit den meinen gekoppelt? Vielleicht hat der F. letzte Nacht fremde Leute mit Mistgabeln und Gebrüll gepackt und zur Guillotine geschleift? Er ist ohnehin zumindest verbal recht gewalttätig in letzter Zeit und freut sich immer schrecklich über verbrannte Hexen und aufgeschnittene Wölfe. Praktisch und privat – aber das soll ja auch für Lenin oder so gegolten haben – ist er so friedlich wie immer und bleibt es auch am Pool und am Strand.
Da sitzen wir also, schaue ich in die Runde. Die I. und der S. sind inzwischen angekommen. Der M. samt Familie, alle auf und unter Decken vor den Strandmuscheln im noch immer warmen Sand. Wir reden, wir lesen Zeitung, wir essen zuviel und trinken Mineralwasser aus Flaschen. Ein paar Meter entfernt sitzen der F. und die A. – zwei- und dreijährig – im Sand und lauern einer Maus auf, die sie niemals bekommen, egal, wie lange sie singen und rufen.
„Was machst du mit der Maus, wenn du sie hast?“, frage ich den F., dessen Augen blitzen. „Fell ab, dann wegschmeißen.“, antwortet er friedlich und macht furchterregende Bewegungen mit den Händen. „Oje. Arme Maus.“, sage ich, und der F. nickt. „Maus weint. Braucht neue Kleider.“, antwortet er, und träumt vielleicht von der nackten Maus in Kleidern, als er mit roten, runden Wangen im Auto auf der Rückbank sitzt und nach Berlin fährt, abends um acht.
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