Über Nichts

Ja geht so

Schlecht wäre eine unzutreffende Zustandsbeschreibung, aber gut wäre gelogen. Geht so trifft es halbwegs, auch wenn ich gar nichts sagen könnte, weshalb, immerhin habe ich frei, diese Woche, also was nun …. aber sehen Sie selbst:

Zunächst erzählt mir der Tierarzt für 79 Euro, dass meine Katze zu fett sei und Bluthochdruck habe. Um das herauszufinden, wickelt er dem armen Tier eine Manschette um den Schwanz, die Manschette bläst sich auf, und auf dem Laptop erscheint die Kreislauftätigkeit meiner schwarzen, nur ganz leicht übergewichtigen Katze, die sichtbar unglücklich auf dem Behandlungstisch sitzt. Ich kann das gut verstehen. Ich höre auch nicht gern, dass ich zu dick geworden bin. Tatsächlich habe ich im Zuge meiner Zigarettenminimierung zu Anfang des Jahres drei Kilo zugenommen, die nun nicht wieder verschwinden wollen, auch wenn ich abends meistens Salat esse oder eine Suppe, die mir kalorienarm erscheint. Ich fühle mich wie eine Qualle.

Unwesentlich später ruft meine Tante an. Meine Tante meldet sich eigentlich immer nur, wenn irgendetwas nicht so gut gelaufen ist, diesmal geht es um einen Reisemangel, ein Flug ist verschoben worden, und meine Auskunft, dagegen könne man aus meiner Sicht nicht viel tun, wird dreimal hintereinander als höchst unzureichend bezeichnet. Das könne doch nicht sein. Ich rede ihr aus, die Lufthansa zu verklagen, dann lege ich auf. Minuten später klingelt ein Mann, der mich für eine Religionsgemeinschaft zu gewinnen sucht. Ich gehöre keiner solchen Vereinigung an, ich interessiere mich nicht so für transzendente Angelegenheiten, aber der Mann beharrt darauf, es sei wichtig. Ich öffne die Tür trotzdem nicht. Ich fühle mich müde.

Um das Quallenproblem zu bewältigen, mache ich mir einen Salat. Leider gerät etwas viel Essig in die Schüssel, der Salat schmeckt eigentlich nur sauer, aber etwas anderes ist nicht da. Die Tiefkühltruhe muss ich abtauen, fällt mir auf, aber dazu habe ich keine Lust.

Später fahre ich erst zu Dussmann und dann nach Kreuzberg. Bei Dussmann schlängele ich mich vorbei an Massen von Büchern, deren Autoren sich in fettgedruckter Empörung üben. Auf nahezu jedem Titel werden „wir“ ausgenommen, für dumm verkauft, müssen für irgendwelche anderen Leute zahlen, die als dumm, verkommen, gierig oder in sonstiger Weise unangenehm geschildert werden. Es scheint einen riesigen Markt für selbstgerechte Frustration zu geben, und ich schaue mich interessiert und etwas angewidert um, wer nach diesen Machwerken greift. Aus irgendwelchen Gründen, vermutlich haltlosen Vorurteilen, nehme ich stets an, die Käufer seien männlich und wählen FDP. Ich selbst kaufe einen Nabokov und Kurzgeschichten von Henry Miller.

Irgendwann sitze ich in Kreuzberg und helfe einer Bekannten beim Verfassen von Schriftstücken zur Geltendmachung von Ansprüchen gegen ihren ehemaligen Freund. Im Hintergrund brüllt sonor und nicht unähnlich diesen afrikanischen Tröten ihr Säugling, nach einer Weile bekomme ich Kopfschmerzen, also so einen leichten Druck auf den Schläfen, und irgendwann haue ich sehr erleichtert ab und fahre zum Paul-Lincke-Ufer.

Am Landwehrkanal sitzen schon liebe Freunde und trinken Bier. Nett ist es, schön so zu sitzen am Wasser, noch schöner, dass hier nirgendwo Fußball läuft, zumindest nicht so, dass ich es sehe, und so unterhalte ich mich einige Stunden angenehm und entspannt, lache, esse einen riesigen Thunfischsalat, der vermutlch allein schon qua Größe so kalorienreich ist wie ein Whopper, bis ich irgendwann anfange zu frieren. Das letzte Mal habe ich so im Winter gefroren. Ich habe drastisch zu wenig an. Stunden später werde ich daheim zwanzig Minuten sehr heiß duschen, solange, so bis meine Fingerkuppen tiefe Rillen aufweisen, und erst aufhören, als das Telefon klingelt, dass ich selbstverständlich nicht mehr rechtzeitig finde, bevor der Anrufer aufgibt, aber dafür in eine Lache Erbrochenes trete, das meine Katze vermutlich aus Vergeltungserwägungen direkt vor mein Bett plaziert hat.

Meine Orchidee hat sie auch vom Fensterbrett geholt und sitzt zufrieden schnurrend inmitten von Wurzeln und Erde.

Der Hallenwart

Auch der Herr L. sei tot, der die Sportanlagen gewartet habe, erzählt mir der C., der letztes Jahr einen Vortrag an unserer alten Schule gehalten hat. Totgefahren habe er sich, hat der C. gehört, vor einigen Jahren. Ob ich gewusst hätte, fragt mich der C., dass der Herr L. in seiner Jugend Leistungssportler gewesen sei, und ich nicke. Irgendein Sportlehrer, vielleicht der Dr. H., der Sport und Latein gab und ein bißchen aussah wie Hans Albers, hatte mit diesem Verweis dem Herrn L. mehr Autorität zu verschaffen versucht, damit der Herr L. nicht mehr gehänselt werde. Geholfen hat es nichts.

Wer den Herrn L. an die Schule gebracht hatte, weiß ich nicht, und auch der C. kann nichts dazu sagen. Der Schulleiter, Herr Dr. D., hatte einige Versorgungsfälle an die Schule gebracht, die Sekretärin etwa, eine grämliche, bittere Geigerin nach einem schweren Unfall. Den Bibliothekar, dem irgendetwas Unschönes zugestoßen war und der deswegen nicht mehr als Lehrer arbeiten durfte, aber es trotzdem tat, ab und zu und nur zu Vertretungszwecken. Auch den Herrn L. wird der Dr. D. auf diesem Wege in die Schule gebracht haben, wo er in einer kleinen Wohnung über der alten Sporthalle hauste, die er mit mehreren Schlössern und Stangen verriegelte. Man erzählte sich, die Wohnung sei volle Pokale. Gesehen hat sie niemand von uns von innen.

Herr L. sprach auch ziemlich ungern mit uns. Er rauchte viel, er hatte einen kleinen Hund, und er schien entweder sehr schlecht zu verdienen oder Kleidung war ihm ganz und gar unwichtig. Jedenfalls trug er fast immer dasselbe: Eine graue Hose. Ein kurzärmliges, kariertes Hemd. Im Sportbereich einen blauglänzenden, billigen Jogginganzug. Neben ihm lief den ganzen Tag sein Hund durch die Schule und kläffte.

Mag sein, dass es am Kläffen lag. Vielleicht war es aber auch nur jugendliche Lust an der Destruktion, aber schon vor unseren Jahrgängen war es beliebt in gewissen Kreisen, den Hund abzufangen, einzusperren irgendwo in einem abgelegenen Raum der teilweise recht verwinkelten Schule, abzuschließen und den Herrn L. dabei zu beobachten, wie er den Hund suchte. Natürlich kläffte der Hund die ganze Zeit weiter, früher oder später fand der Herr L. den Hund dann auch jedesmal, wenn nicht eine mitleidige Seele den Hund vorher befreite.

Eine besondere Freude war es manchen, den Hund einzufangen, wenn der Herr L. getrunken hatte. Der Herr L. trank zuviel, das wusste jeder, und auch, dass der Direktor ab und zu den Herrn L. zu sich ins Büro holte und ihm einschärfte, er müsse weniger trinken, denn in einer Schule ist Alkohol zu recht nicht gern gesehen. Der Herr L. trank trotzdem so viel, dass er nicht mehr nach seinem Hund suchen konnte, und diejenigen, denen das Verstecken des Hundes eine Freude war, standen jubelnd nebeneinander auf der Empore im ersten Stock und sahen dem Herrn L. zu, wie er durch die Schule schlingerte und schwankte, immer dem Kläffen nach. Mehrfach gab es in diesen Jahren Verweise, Tadel und Rügen wegen dieser Attacken auf den Hund. Einer der betroffenen Väter empörte sich über diese Verwarnungen und verlangte, der Herr L. müsse weg, aber bevor es hier zu Kämpfen kam, blieb der Sohn des empörten Vaters zum zweitenmal sitzen und musste auf ein Internat. Der Herr L. blieb.

Irgendwann aber ging der alte Direktor in Pension. Der neue Direktor hielt nicht viel vom Herrn L. Es gab eine Abmahnung, dann eine zweite, jedesmal wegen Alkohol, und schließlich verbot der neue Direktor dem Herrn L. die Haltung eines Hundes auf dem Schulgelände. Der Herr L. – so das Kalkül – würde kündigen und das Gelände verlassen. Der Herr L. aber blieb und brachte den Hund auf einen Bauernhof in der Umgebung zu Verwandten. Den Hund zu verstecken, hatte also ein Ende, aber die Hänseleien hörten nicht auf, sondern wurden eher intensiver.

Inzwischen gab es ab und zu auch direkte Attacken auf den Herrn L. Eines Tages wurde er sogar selbst, wenn auch nur kurz, eingesperrt, wie zuvor der Hund, und anonyme Täter brachen in seine Wohnung ein und hinterließen dort mehrere Kilo Konfetti. Es gab wohl auch einen Kündigungsversuch des neuen Rektorats, der allerdings am Schulverein scheiterte, dem der Herr L. leidtat, und so wurde das Dasein des Herrn L. wohl unangenehmer von Jahr zu Jahr, aber nicht ganz unmöglich.

Irgendwann aber näherte sich die Altergrenze der Pensionierung. Schon Mitte der Neunziger hätte ich den Herrn L. auf sechzig – steinalt jedenfalls – taxiert, tatsächlich erreichte er wohl erst vor einigen Jahren die Altersgrenze, und eines Tages wurde er verabschiedet. Ich nehme an, dass anders als bei ausscheidenden Lehrern weder der Chor sang noch Reden geschwungen wurden, aber ein kleines Geschenk wird er wohl erhalten haben, und dann war es vorbei. Er musste ausziehen. Er wollte zwar nicht weg, doch die Schulleitung bestand auf dem Auszug. Der Schulverein schaltete sich ein weiteres Mal ein, es gab Angebote, durch Dritte ein geringes Salär für die Nutzung der Wohnung zu bezahlen, und irgendwann gab es sogar Gespräche mit mehreren Gegnern wie Befürwortern des Verbleibs des Herrn L. auf dem Gelände.

Wie die Gespräche ausgegangen wären, kann man nicht sagen. Vielleicht säße der Herr L. bis heute in seiner Wohnung über den Sportanlagen, denn die Beharrungskräfte sind bekantlich (und gerade in derlei Institutionen) größer als die Kraft des Neuen, aber eines Tages stieg der Herr L. in sein Auto und fuhr los. Vermutlich war der Herr L. in den letzten Jahren kein besserer Autofahrer geworden, möglicherweise war er auch ein wenig angetrunken; vielleicht war es schlicht Pech: Der Herr L. kollidierte frontal mit einem LKW und starb auf der Stelle.

Wer die Beerdigung bezahlte, weiß ich nicht. Ich nehme an, die Schule schickte einen Kranz. Bestimmt kam der Direktor nicht selber, aber irgendjemand (vielleicht die mürrische Sekretärin) wird gegangen sein, und die Sportanlagen wartet eine ortsansässige Firma.

Schläft.

Angeblich schläft die Menschheit ja immer weniger, und erst recht gilt dies für den Teil der Menschheit, der mich umgibt. Die kokette Klage, man wache ja jeden Morgen um kurz nach sieben von selbst auf und könne gar nicht länger schlafen, hört man allerorten. Meetings werden auf acht Uhr früh angesetzt, bevor es richtig rund geht im Büro, und wer erst so gegen zehn im Büro erscheint, findet gern lange Telephonzettel vor mit lauter Namen von Leuten, die alle schon angerufen haben. Zu diesem Zeitpunkt haben vor Vitalität und Frohsinn berstende Bekannte einem schon auf dem Weg zur Arbeit auf dem Rad an der Ampel Schönhauser Allee/Torstraße erzählt , sie seien bereits eine Stunde gelaufen, bevor sie mit den Kindern gefrühstückt, diese zur Kita gebracht und anschließend Zeitung gelesen hätten. Ob auch ich in der Süddeutschen … Habe ich natürlich nicht. Ich schlafe zwei Stunden länger als die sehr vitalen Leute, die mir morgens gern begegnen.

Dass ich morgens um neun noch gar nicht ganz lebe, behalte ich deswegen gern für mich. Vermutlich sieht man es mir sowieso an. In der Frühe habe ich außerdem manchmal Wortfindungsstörungen. Wenn ich wesentlich früher aufstehe als gewöhnlich, ändert sich das auch den ganzen Tag nicht mehr. Dass ich schon deswegen nie in den öffentlichen Dienst eingetreten wäre, weil man da so früh anfangen muss, sollte man besser verschweigen, denn Langschläfertum ist gesellschaftlich inzwischen ein bißchen verpönt, wie bereits ex negativo die Eigenwerbung des Bundeslandes Sachsen-Anhalt illustriert: Das bemitleidenswerte ostdeutsche Bundesland wirbt in Ermangelung anderer Vorzüge mit dem Frühaufstehertum seiner Landeskinder, was angesichts der wirtschaftlichen Lage der Region allerdings nicht nur bei mir die Frage aufwerfen dürfte, wozu.

Dass meine hellwachen Bekannten nicht einfach ein bißchen angeben, weiß ich noch aus früheren Tagen. Vielleicht wäre ich auch dann keine bessere Schülerin gewesen, wenn die Schule erst um zehn angefangen hätte, aber etwas besser immerhin wäre die Chance auf schulischen Erfolg vermutlich doch gewesen, und dass ich heute besser Englisch könnte, hätte der Uni-Kurs Rechtsenglisch für Anfänger nicht morgens um 8.15 begonnen, halte ich bis heute für ausgemacht. Schleppte ich mich dann aber doch einmal in Schule oder Uni, überaus früh, um nicht zu sagen, mitten in der Nacht, waren nicht nur ein paar Versprengte mit Schlafstörungen da, nein, Klassenzimmer oder Hörsaal hätte gar nicht voller sein können, putzmunter saßen Mitschüler und Kommilitonen um mich herum und klapperten lebhaft, fröhlich und laut mit ihrem Schreibgerät vor sich hin.

Auch nach Abschluss der Ausbildung ist frühes Aufstehen in offensichtlicher Weise mit Vorteilen verbunden: Erscheine ich gegen zehn, haben andere Leute schon Berge versetzt und Meere überwunden. Gähne ich vor mich hin, setzen fröhliche Frühaufsteher zum Tigersprung an, und dann, wenn die anderen schon die Früchte ihres frühen Fleißes verzehren, kehre ich die trockenen Krümel des Tages zusammen für ein spätes, mageres Mahl. Zurückgeblieben fühle ich mich, schlafend am Rande der Autobahn in eine dynamische Zukunft, von der Evolution überholt, ein übriggebliebenes Vormodell und werde voraussichtlich demnächst aussterben.

Wenn es geht, im Schlaf.

Berlin Zombie (2)

(Teil 1 hier)

Dem J. ist keine Reaktion zu entlocken. Stoisch fährt er am Funkturm vorbei, lässt das ICC links liegen und schlägt einen weiten Bogen um den S-Bahnhof Westend. Im Radio singt Belinda Carlisle, I get weak, und ich sehe im Vorüberfahren sehr klein und verloren zwei Männer auf die S-Bahn warten.

Natürlich, nehme ich den Faden wieder auf, habe keiner der Alkoholiker aus der dicken Margot ein Auto mit Navi. Die Zombies können ihn deswegen nichts anhaben, und außerdem gehen oder fahren Margots Stammgäste überall nur zusammen hin. Zombies aber sind bekanntlich feige, und so sitzen die Untoten zähnefletschend und machtlos im Unterholz, während die Säufer scheinbar ziellos durch den Forst spazieren. Hier findet einer den Haustürschlüssel des Verschwundenen, dort einer eine Packung L&M, und schließlich tritt ein Dicker mit Glatze und Jogginghose auf eine Hand.

Nicht abgerissen, abgebissen ist die Hand, ganz deutlich sieht man die Spuren der Zähne, und während sich der Dicke noch würgend ins dichte Gras übergibt, beginnt ein lauter Palaver über das wahrscheinliche Schicksal des Verschwundenen. Wilde Tiere werden verdächtigt, Außerirdische, Werwölfe, und schließlich schreit einer der Säufer auf: Zombies waren’s. Die Untoten im Unterholz ziehen verstört die entfleischten Köpfe ein.

Zurück im wärmenden Halbdunkel der Dicken Margot nehmen die Vermutungen Form an. Jeder weiß etwas über Untote zu sagen, die mediale Aufklärungsarbeit gerade bedeutender privater Fernsehsender hat in dieser Beziehung ganze Arbeit geleistet, und insbesondere die Leidenschaft für Horrorfilme der Wirtin Margot selbst trägt nun reiche Frucht.

Den J. aber interessieren die Zombies noch immer nicht die Bohne. Die Seestraße entlang durch den Wedding fährt der geschätzte Gefährte Richtung Heimat, an der hell erleuchteten Großbaustelle des BND vorbei, und als ich fortfahre, ist noch immer nicht auszumachen, ob er überhaupt zuhört. Im Radio singt nun Michael Hutchence.

Die Zombies, erläutere ich die untoten Gegenmaßnahmen, rüsten ihrerseits natürlich auch auf. Sie formieren sich zu knochigen Schwadronen, umzingeln des Nachts die Kneipe Zur dicken Margot und rücken Meter für Meter näher an das heruntergekommene Haus mit der gekachelten Fassade heran. Schon hat die erste der lebenden Leichen das Schild erreicht, auf dem Margot ein Bier und ein Korn für € 2,50 anpreist, schauerlich leuchten die faulenden Glieder im Dunkeln, und nur wegen Radio Paradiso in voller Lautstärke hören die Trinker im Innern die Zombies nicht laut mit den Zähnen klappern und lachen.

Im Innern aber erinnert sich die dicke Margot an ein wirksames Mittel. Es habe mit Hühnern zu tun, verkündet sie schallend, ein Huhn müsse den Zombies entgegengeschleudert werden, ein lebendes Huhn am besten, aber notfalls tue es auch bereits totes Geflügel. Schließlich weiß jedermann, dass die Toten nichts mehr fürchten als Hühner. Inzwischen hat die Nachricht vom Angriff der Zombies das Innere der Kneipe erreicht. Starr vor Angst sind nun einige der Säufer, andere nehmen einen vorsichtshalber besonders tiefen Schluck vom guten Kupferberg Gold, und die dicke Margot verschwindet ziemlich lange im Keller. Entsetzliche Geräusche dringen durch die offenen Klappe nach unten, es quietscht und knarrt, es jault und klappert im Schankram, Zombie um Zombie quillt durch die geborstene Tür, und erst, als der erste der Säufer – der Dicke mit der Glatze – von einem Zombie gebissen wird (der linke Daumen ist ab und das Blut spritzt), kehrt Margot aus dem Keller wieder. In beiden Händen hält sie je einen Broiler. Tiefgekühlt seit 1988.

Entsetzt halten die Zombies inne und weichen zurück. Die Säufer sammeln sich um die dicke Margot, die Broiler glänzen hell im Schein der fettverschmierten Lampe, und geschützt durch die Aura der Hühner wandern alle Gäste, gefolgt von Margot selbst, aus der Kneipe heraus. Nur die Zombies bleiben im Raum.

Für einen Moment ist alles still. Die Zombies sind perplex. Mit dieser Wendung haben sie nicht gerechnet, einen leichten Sieg hat man sich in untoten Kreisen ausgerechnet, da fliegt auf einmal ein brennder Lappen quer durch den Raum in das Regal über der Theke. „Iiiiihhh“, heult ein besonders hässlicher Zombie auf, aber schon splittert Glas, flaschenweise ergießt sich Doppelkorn über die Theke, fängt Feuer, und der erste Zombie steht in hellen Flammen.

Zombies kennen keine Solidarität. Kopflos rudert der Untote mit den brendenden Armen auf seinen Nachbarn zu. Der nächste Zombie brennt, dann noch einer, schließlich die ganze Versammlung, und von außen sehen die Gäste und Margot selbst das Haus in Flammen stehen. – „Dafür seid ihr mir was schuldig, Jungs.“, röhrt die dicke Margot.

Der J. biegt nun ein. Am Weinbergspark vorbei entlang der Zionskirchstraße wird der J. langsamer, schaut aus nach einem der stets raren Parkplätze, bugsiert schließlich in eine fast zu schmale Lücke und wirft die Tür des Wagens hinter sich zu.

Über dem Fernsehturm hängt scharf und schmal der Mond in den Himmel wie ein frisch geschliffenes Messer.

Berlin Zombie (1)

Irgendwann schon ganz kurz vor Berlin lotst uns der Navi von der A 115 herunter auf immer schmalere Straßen. Es ist dunkel, kurz nach elf Samstagabend, und im Scheinwerferlicht wogt das üppige Grün der Bäume hin und her durch die Nacht. Außer uns ist niemand zu sehen. Irgendwo links von der Straße wuchert der Waldfriedhof Stahnsdorf, alle Wege führen ins Nichts, und schließlich befiehlt uns der Navi ohne Anlass noch Erklärung eine Kehrtwende um einen Kreisverkehr herum und führt uns zur A 115 zurück. Irgendwo hinter dem Wald flackert unstet und bläulich ein Licht, und ich starre in das undurchdringliche Schwarz unter den blattlosen Ästen eines alten, geborstenen Baums. Mir ist kalt.

„Weißt du,“, sage ich erst wieder auf der Autobahn zum J., „vielleicht war es gar kein Datenverarbeitungsfehler.“ Der J. nickt unkonzentriert und schaut auf die Fahrbahn. „Vielleicht waren es Zombies.“, mutmaße ich.

Möglicherweise, entwickele ich den Gedanken weiter, ist es hochbegabten Untoten gelungen, im Bunde mit den Gewalten der Unterwelt Navigationssysteme zu manipulieren. Vielfach sind vielleicht schon in den letzten Monaten Autofahrer rund um Berlin von den Autobahnen weggelockt worden in entlegene Gegenden der Stadt. In heruntergekommenen Hinterhöfen der östlichen Vororte etwa, auch gern in den entvölkerten Dörfern rund um die Stadt, endeten dann die vermeintlich richtigen Routen, die tonlos-neutrale Frauenstimme aus dem Lautsprecher ging über in ein hämisches Heulen, und im Scheinwerferlicht erhoben sich zitternd die entfleischten Körper der Zombies.

„Oha.“, äußert sich der geschätzte Gefährte durchaus eher verhalten, und ich fahre fort.

Dass bis heute nichts über diese Vorfälle in den Zeitungen steht, erläutere ich, sei an sich gar nicht erstaunlich. Im Regelfall nämlich bemächtigen sich die Zombies einsamer, verwahrlost aussehender Gestalten, hoffnungsloser Reisende etwa in schmutzigen, ehemals weißen, steinalten VW Golf, trauriger Männer mit heruntergezogenen Mundwinkeln, die keiner vermisst, wenn ihr Wagen ohne Insasse irgendwo am Rand von Berlin gefunden wird. Der Alkoholiker X. habe sich mutmaßlich im Wald erhängt, wird die Polizei in ihre Akten schreiben, oder der depressive und gelegentlich verwirrte Y. sei beim Urinieren im Unterholz vom Wege abgekommen und erfroren, in einem der vielen brackigen Tümpel ertrunken oder schlicht eingeschlafen im herbstlichen Moder aus Blättern und Moos. Irgendwo in den schlechteren Vierteln der Stadt steht dann ein paar Wochen eine Wohnung leer, in einer schmierigen Kaffeemaschine schimmelt der Filter, ein Kanarienvogel fällt verhungert von der Stange, und irgendwann kommt ein Putztrupp, und jemand anders zieht ein.

„Und deswegen haben die Zombies uns wieder weggeschickt?“, fragt der J. kurz nach und fährt ohne weitere Reaktion auf die Avus. „Genau!“, nicke ich: Zu zweit. Schon schlecht. Im Mietwagen. Noch schlechter. Schließlich will auch ein Zombie keinen Ärger mit der Polizei, und so ist die einzige Chance, den gefräßigen Toten das Handwerk zu legen, abseits der Staatsgewalt zu verorten. Beispielsweise, so fahre ich fort, in einer dieser filzigen Kneipen der Peripherie, von denen bei Qype oder in den Stadtmagazinen nicht einmal abgeraten wird, und die „Zapfhahn“ heißen oder „Uwes kleiner Keller“ oder ebenso schlicht wie sachfremd „Garage“. In dieser Kneipe – nennen wir sie „Zur dicken Margot“ – ist das gesamte Mobiliar aus einem dunkelbraunen Eichenfurnier noch aus sehr alten Vor-Wendezeiten, auf dem Boden liegt eine dünne, bier- und schmutzgetränkte Auslegeware, und auch die 15 bis 20 Gäste, die von der Wirtin (der dicken Margot nämlich) ihr Bier samt Korn entgegennehmen, sind durchaus von gestern: Ehemalige wegen Rückenschmerzen frühpensionierte Postboten stelle ich mir vor. Arbeitslose Lastenträger. Boten einer untergegangenen Bürokratie, die nun beraubt ihrer bescheidenen Ämter, verlassen von ihren Frauen und vergessen von dem Rest der Welt ihre Renten in Bier und Bockwurst umsetzen.

Bei 15 bis 20 Stammgästen fällt das Verschwinden eines einzelnen Gastes schon irgendwann auf, und so würden, stelle ich mir vor, die frühpensionierten Alkoholiker der dicken Margot irgendwann auf die Suche gehen, wenn einer ein paar Tage oder Wochen nicht käme. Die drei, vier denkbaren Aufenthaltsorte des verschwundenen Zechkumpans wären schnell abgeklappert, und nur wenige Tage später stünde der Suchtrupp am Fundort des leeren Wagens des Verschwundenen. Möglicherweise fände dann einer die Blutspur.

Die Polizei hört solchen Gestalten natürlich gar nicht zu. Die Berliner Polizei schneidet schon ganz anderen Leute rüde das Wort ab, eine Horde übelriechender Säufer bräuchte da gar nicht anzukommen, und so würden sich die Gäste der dicken Margot ohne die Unterstützung der Staatsgewalt aufmachen, bewaffnet mit nichts als ein bißchen Gartengerät und ein paar Flaschen Doppelkorn.

(Morgen suchen sie weiter.)

Nicht mehr jung

Nein, sage ich. Das ist es gar nicht. Wenn ich in den Spiegel sehe, sehe ich nicht anders aus als vor drei Jahren oder fünf. Wenn ich durch die Stadt laufe, werde ich meistens noch geduzt. Es ist bei mir nicht wie bei anderen Leuten, die sich jung fühlen, aber alt aussehen. Es ist nicht einmal der Job. Ich habe auch keine Familie und habe alles vermieden, was schwer an einem hängt. All die Sorgen, die Verantwortung und die Pflichten. Das ist es nicht.

Es ist vielleicht die Überraschungslosigkeit der letzten Jahre, in der glatt und wie auf Schienen mein Dasein durch die Wochen und Monate läuft. Es sind die flachen Amplituden. Es ist, als ob mir Leben und Welt wie warmes Wachs um den Leib geflossen sind, um nun zu erkalten, zu erstarren und mich einzukapseln, bis ich mich nicht mehr bewegen kann und mich keiner mehr hört.

Es mag der graue Schleier sein, der zwischen mir und der Stadt durch die Straßen weht. Es mag sein, dass ich nur nicht sehe, wie die Welt mit mir lacht. Es kann wohl auch sein, dass ich nur nicht vertrage, dass alles gut läuft, und mich nicht mehr spüre, wenn die Welt die Krallen einzieht und schnurrt. Vielleicht bin ich einfach nicht gut in so einem lauwarmen Glück, doch wahrscheinlich sind es nicht nur die Umstände. Nicht nur, wie alles ist. Nicht der Job, nicht das Leben, nicht die wohltemperierte Liebe, die ausgewogenen Freundschaften, die sorgfältig gepflegten Beziehungen zur Familie daheim.

Wahrscheinlich ist es wirklich das Alter. Bestimmt ist es ein bißchen Abstumpfung, ein wenig Alles-schon-dagewesen, ein Verlust an Sprungkraft, an Vitalität, an Neugierde, an Leichtsinn: An etwas, was nicht wiederkommt. Ich bin nicht mehr jung. Das wird es sein.

Niemals wäre

„Ganz gut“, sage ich Schwesterchen, und lasse mir von ihrem Urlaub erzählen. Es scheint schön zu sein, dort am Meer, sonnig, und Schwesterchen schickt mir ein Photo aufs Handy, auf dem sie hinter einer riesigen Sonnenbrille versteckt lacht, dass die Zähne blitzen.

Unverschämt gesund sieht Schwesterchen aus, so schlank, wie ich niemals sein werde, und so lebendig, wie ich mich nicht einmal fühle, wenn ich keinen Heuschnupfen habe. Von Herzen beneide ich Schwesterchen um diese ungeheurliche Vitalität und schaue aus dem Fenster meines Büros über den Teil von Mitte, der nicht so besonders posh ausschaut, sondern eigentlich nur ein bißchen abgewrackt und schäbig. Auf meinem Tisch liegen rund zehn Kilo Papier.

„Du musst ans Meer!“, empfiehlt Schwesterchen und erzählt irgendetwas Belangloses über Delphine und Surfer, und ich schaue dem kleinen, länglichen Rechteck beim Auf- und Abtauchen zu, das anzeigt, dass mir jemand E-Mails geschrieben hat und auf Antwort wartet. Mir läuft die Nase. Dann lege ich auf.

Ans Meer würde auch ich gern fahren, male ich mir die Wellen aus und das Salz und die Endlosigkeit des Himmels. Delphine brauche ich nicht, aber Sonne wäre schön, Gelächter im Hintergrund, klirrendes Eis in Gläsern und lachen würde auch ich, eine Sonnenbrille würde ich tragen, aber so lachen wie Schwesterchen würde ich nie, nie wäre ich so lebendig, so strahlend, so ganz und gar dem Augenblick anheim gegeben und wehend im warmen Wind wie Fahnen in leuchtenden Farben.

Geimpft

Vor zwei Wochen gehe ich also zum Arzt. Ich gehe nicht gern zum Arzt, ich warte ungern, ich ziehe mich sogar vor Ärzten ungern aus, und ich höre den Müttern des Prenzlauer Berges ungern zu, die in Massen in den Wartezimmern der Umgebung herumsitzen und Geschichten über ihr Leben mit Kind erzählen, die meistens entweder langweilig klingen oder ganz, ganz schlimm.

Schließlich bin ich dran. „Sind sie eigentlich geimpft?“, fragt der Arzt irgendwann so en passant, und ich schüttele den Kopf. Bin ich nicht. Meine Mutter fand Impfungen aus irgendwelchen Gründen verwerflich, und was ich mir nicht von selbst einfing, das kann ich also jeden Moment bekommen.

Der Arzt runzelt die Stirn. Seinen Ausführungen entnehme ich, Impfungen seien wichtig, vor allem Röteln, aber auch Masern, Keuchhusten und Kinderlähmung, Tetanus sowieso, und von der Schwester bekomme ich ein Rezept in die Hand gedrückt und einen Terminzettel dazu. 20.04.2010 steht auf dem Zettel.

Gestern gehe ich also schon wieder zum Arzt. Wieder sitzen im Wartezimmer ungezählte Prenzlmütter, wieder warte ich in einem hässlichen, schwarzen Kunstledersessel und blättere gelangweilt in Zeitschriften herum, und schließlich ruft man mich herein. Es geht schnell: Eine Spritze in den linken Arm, eine in den rechten. Dann kann ich gehen.

Abends aber fängt mein rechter Arm an zu pochen. Ich gehe ins Bad. Der linke Arm sieht vollkommen normal aus, das schon, aber rechts spannt die Haut, der Arm wird dick, rot ,und wenn ich den Arm hebe, fühlt es sich irgendwie merkwürdig an. Alles nicht optimal. Besorgt gehe ich schlafen.

Heute Morgen stelle ich mich wieder vor den Spiegel. Inzwischen sieht mein Arm aus, als habe irgendwer ein Hühnerei in meinem Arm verstaut. Das Anziehe ist nicht ganz einfach, das Strickoberteil scheuert, und schließlich ziehe ich etwas ärmelloses an und eine ganz, ganz leichte Jacke. Dann fahre ich los. Im Büro betaste ich vorsichtig mit der linken Hand den Arm. Es scheint noch etwas dicker geworden zu sein, und ich google „Arm geplatzt nach Impfung“ und „Impfung gefährlich?“. Meine impfkritische Mutter scheint recht zu behalten.

Gegen Nachmittag dann wird mein Arm zunehmend unbeweglich. Hebe ich den Arm an, erreiche ich maximal eine Ellenbogenhöhe kurz unter dem Brustkorb. Ein Versuch, durch Dehnung meine übliche Beweglichkeit wiederherzustellen, scheitert. Abends fahre ich ganz, ganz vorsichtig heim.

Zu Hause wickele ich den Arm vorsichtig in ein nasses Tuch. „Sei bloß nicht wehleidig!“, befehle ich meinem Spiegelbild und mache eine entschlossene Miene. „Das tut gar nicht weh.“, sage ich laut. Dann gehe ich zu Bett. „Keine gute Idee.“, versichere ich der Katze, und die Katze maunzt, als habe sie das immer gewusst, nicht anders (man muss es zugeben) als meine Mutter.

Ich bin die Stewardess

Bei P&C war an sich alles noch ganz schön. Gut, berauschend sah das Kostüm schon im HUGO Store nicht aus, ein blaues Kostüm halt, Rock in A-Linie, schmal geschnittene Jacke, eine Hose gab es auch dazu, obenrum ein weißes Shirt. Das Kostüm ist langweilig und unglaublich asexuell, aber ich brauche langweilige Oberbekleidung, in denen man wie ein Mann aussieht, denn das gehört zu meinem Job. Ich also in die Kabine. Hose 36, Jacke 38, und dann aus der Kabine wieder raus. Das Kostüm passt.

„Wie sehe ich aus?“, rief ich über die Kleiderständer hinweg dem J. zu. Dieser wedelte zerstreut Zustimmung, einen Herrensommermantel in der Hand. Hingeschaut haben kann er nicht, denn dann hätte er sicherlich schon bei P&C gesehen, dass das Kostüm und ich miteinander verschmolzen zu dem leise lächerlichen Gesamtbild einer dicklichen Stewardess, die in den schlecht gelüfteten Kurzstreckenflugzeugen privater Luftfahrtunternehmen den spärlichen Passagieren mit leicht verrutschtem Lächeln lauwarme Getränkedosen reicht. Der J. aber sah gerade in just diesem Moment angewidert einem Herrn Lindner beim Telephonieren zu, Generalsekretär einer vom J. aus unterschiedlichen Gründen nicht sehr geschätzten Partei, und so drehte ich mich erst nach rechts und dann nach links, und dann fragte ich eine Angestellte des Hauses.

„Geht das?“, vergewisserte ich mich bei der Verkäuferin, die die Zähne bleckte und nickte. Ich bin mir sicher, in der Rückschau, dieser Frau war klar, was sie tat, in diesem Moment aber schenkte ich ihr Glauben: Ich kaufte das Kostüm, ich nahm die Anzughose dazu, eine Frau kam, die Hosenbeine zu kürzen, und dann fuhr ich heim.

Am Montagmorgen stieg ich in das Kostüm. Ein weißes Top, Perlen, ein dezenter Lippenstift, schwarze Pumps, und aus dem Spiegel in meinem Schlafzimmer lächelte mich eine schwarzhaarige Stewardess an, riss kurz die Augen auf, kniff sie zu, schüttelte den Kopf, lächelte nicht mehr, und schaute dann traurig zu Boden. Zum Umziehen war es zu spät. Ich fuhr ins Gericht.

Den ganzen Tag starrte ich in jeden Spiegel und jede Scheibe. „Wir möchten sie mit unseren Sicherheitsvorkehrungen vertraut machen.“, probierte ich unterschiedliche Ansagen leise aus. „Darf es noch etwas zu trinken sein?“, hörte sich eindeutig richtiger an als „Mein Mandant bestreitet den Vertragsschluss.“.

Auf dem Heimweg lächelte ein Passant vor dem Pappa e Ciccia mich freundlich an und murmelte irgendetwas, was ich nicht verstand. „Einen Tomatensaft mit Tabasco.“, reimte ich mir das Unverständliche zusammen und ging ein Stück schneller. Vor der Haustür dann traf ich eine Nachbarin. Sie sah mich aufmerksam an. „Hast du den Job gewechselt.“, übersetzte ich mir den Blick, flüchtete ins gnädige Halbdunkel meiner Wohnung und hängte das Kostüm ordentlich über einen Bügel.

Eine übergewichtige Stewardess in Unterwäsche schmierte sich ein Brot und ging schlafen.

Die Kunst der Berührung

Meine Damen, meine Herren, ich ziehe den Hut. Ich verbeuge mich vor Ihnen: Ich wäre gern so wie Sie, die Sie die Kunst beherrschen, unter ganz normalen Leuten normal zu sein und sich dabei prächtig zu amüsieren.

Das sei doch ganz einfach, sehe ich sie erstaunt? Normal sei man quasi von selbst, und wer anders sei, komisch? – Lassen Sie sich gratulieren, klopfen Sie sich mächtig auf die Schulter, denn Normalität ist eine Leistung, und mir ist nie mehr gelungen als ihre mehr oder weniger gelungene Imitation: Dieses Herumgehen und Lächeln, nicht zu lange bei einer Gruppe zu bleiben, Leute mit dem genau richtigen Maß an Vertrautheit zu grüßen und Dinge zu sagen, die nicht so banal sind, dass man mich für dumm, und nicht so originell, dass man mich für überspannt halten wird. Vollends hakt es bei mir aus bei der richtigen Dosis Berührung, und die Kunst des geselligen Körperkontakts, oh verehrtester Leser, bleibt auch in meinem 35. Jahr ein Buch mit mindestens sieben mal sieben Siegeln.

Zunächst die Umarmung. Wer erwartet zu recht, herzlich umarmt zu werden? Wem dagegen schüttelt man einvernehmlich die Hand? Wer dreht einem die Wange wie zu, wie vermeidet man das eigene und fremde geräuschvolle Schmatzen beim Wangenkuss, und wie bemäntelt man wirksam, dass man albernerweise stets etwas zurückschreckt vor der Berührung mit nackter Haut? Ich habe Angst vor fremden Oberarmen, besonders im Sommer, aber diese Phobie teilt der Rest der Welt ganz offensichtlich rein gar nicht.

Überdies kann ich nur eine Sache auf einmal. Denke ich nach, wer die Leute sind, die mich umgeben, ob ich sie kenne (oh, mein Gedächtnis ist schlecht), ob ich sie zumindest kennen müsste, und ob wir uns siezen oder duzen, und woher wir uns eigentlich kennen, ist mein Gegenüber schon weiter, hat mich begrüßt, gefragt, was ich mache, mich aufmunternd getätschelt und flattert zum nächsten Passanten. Verdattert bleibe ich stehen. Komisch, die Frau Modeste, steht es meinem Gegenüber auf die Stirn gechrieben. Komische Person, wird mein Gegenüber nun allen erzählen.

Immerhin erspart bleibt mir meist das Klopfen von Schultern, denn das ist eine männliche Beschäftigung und wird an Frauen nur selten geübt. Ganz besonders die großen, mächtigen Männer aus 100 Kilo reinem, saftigen, gut durchbluteten Fleisch klopfen gern Schultern, boxen sich gegen die Brust und lachen lautstark und kehlig über das, was der andere sagt, als sei irgendetwas davon auch nur annähernd lustig. Erst kürzlich war ich auf einem Fest, 10 bis 15 Männer standen herum, brüllten über nicht erkennbare Witze, tranken Bier, als würde Bier morgen verboten, schlugen die Pranken bei jeder Gelegenheit einander freundlich auf Schultern und Arme und gaben einander stundenlang recht. Worum es ging, habe ich nicht so verfolgt; ich nehme an, um Sport, Politik und Karriere.

Natürlich boxt niemand einer Dame die Brust. Der Unterarm-Streichler dagegen befällt so gut wie ausnahmslos Frauen, sitzt gegenüber, beugt sich weit vor und legt bei besonders bedeutungsvollen Stellen seiner Ansprache die Hand auf den Unterarm der Gesprächspartnerin irgendwo auf dem oberen Ende mehr so gegen Gelenk. Ich gefriere bei solchen Gelegenheiten dann sofort auf der Stelle.

Wie lange die Hand auf dem Unterarm liegt, richtet sich nach einer Kombination von Alter und Distanzlosigkeit des jeweiligen Mannes. Es gibt auch regionale Unterschiede und Städter sind zutraulicher als Herren vom Land. Besonders freche Exemplare lassen die Hand bis zu 30 Sekunden dort liegen und streichen ein bißchen den Ärmel rauf und runter, damit man den Arm nicht wegziehen kann. Ich gehe dann, wenn es möglich ist, weg. Ich habe mich schon mal auf der Toilette eines Tagungszentrums bis zu den Ellenbogen gründlich gewaschen und die ganze Zeit die Tür beobachtet, damit mich keiner dabei sieht.

Ist der Unterarm-Streichler eine vorwiegend professionelle Erscheinung, die einem im Wirtschafts- und Verbandswesen öfter begegnet, ist der An-den-Haaren-Zieher eher privater und bisweilen familiärer Natur. Gegen ihn ist kein Kraut gewachsen. Gern verbindet der An-den-Haaren-Zieher seine frisurzerstörende Tätigkeit mit der Versicherung, er kenne einen schon soooo lange, dass man selbst sich an den Moment der Bekanntschaft gar nicht mehr erinnern könne. Erinnern kann man sich aber ganz genau, dass man ihn schon als Kind nicht so sonderlich schätzte.

Immerhin: Die zwangsküssenden barttragenden Tanten meiner Kindheit hat es dahingerafft in den letzten Jahrzehnten. Die Autofahrten zu dritt auf der Rückbank mit schenkeldrückenden pickligen Buben gehören gleichfalls der fernen Vergangenheit an, und so bleibt mir dies zumindest erspart. Die Gelegenheiten zum geselligen Körperkonakt jedoch bleiben zahlreich, und neidvoll, oh liebe Leserinnen und Leser, beobachte ich bisweilen Sie, die Experten, die fein austariert, genau bemessen am Grad der empfehlenswerten Vertrautheit mit andere Leuten, die Wellen der Welt durchpflügen und mich freundlich begrüßen mit der mitleidigen Geste des Profis gegenüber dem blutigen Laien.