„Frauen verdienen 23% weniger als Männer.„
Sie sind, meine Liebe, eine gute Schülerin, und Ihnen stehen – wie man so sagt – alle Wege offen. Ihr Direktor hat Sie bei der Studienstiftung vorgeschlagen. Ab Herbst studieren Sie Jura. Sie waren vorletztes Jahr Schülersprecherin, und außerdem engagieren Sie sich für den Artenschutz oder für Menschenrechte in China oder sammeln Geld für Kampagnen, damit die Afrikaner endlich aufhören, ihre Töchter zu beschneiden. Ich mag Sie gern.
In den nächsten Jahren werde ich Sie etwas aus den Augen verlieren, weil Sie zwei, dreimal die Uni wechseln, einen Haufen Praktika machen, bei der UNO zum Beispiel oder bei einem bekannten eher linksliberalen Anwalt, der gern beauftragt wird, wenn es um Regierungspfusch oder fiese Großkonzerne geht, derlei Dinge. Vielleicht haben Sie irgendwas mit Attac zu tun, und wenn Ihre Eltern Ihnen vorschlagen, bei mir ein Praktikum zu absolvieren, dann werden Sie ablehnen, weil Sie Wirtschaftskanzleien nicht mögen.
Möglicherweise werde ich Ihnen in vier Jahren auf der Straße begegnen und Sie sind gerade aus Yale zurück, gehen das erste Staatsexamen an, bestehen glänzend und werden dann promovieren. Ich bin mir sicher, Ihre Diss wird gut. Vielleicht bekommen Sie sogar einen Preis. Hübsch werden Sie sein, wenn ich Sie das nächste Mal sehe, nicht allzu sehr, sondern eher auf die lässige, etwas beiläufige Art und Weise, in der Mädchen Mitte 20 gut aussehen: Sie werden Ihr Geld fürs Ausgehen ausgeben und für Reisen nach Südamerika oder Asien, und dafür zupfen Sie Ihre Augenbrauen ab und zu selbst und gehen ziemlich selten zum Friseur. Ihre Tasche ist von H&M. Sie haben einen Freund, der auch irgendetwas studiert, angewandte Kulturwissenschaft vielleicht, Politologie und Geschichte, und den Sie bei irgendeinem Praktikum aufgegabelt haben oder in irgendeinem Aktionsforum für sonst was.
Im Referendariat werden Sie von Kanzleien eingeladen, die gute Absolventen in teure Restaurants führen. Sie werden ein- oder zweimal mitgehen. Es wäre gelogen zu behaupten, dass das Setting Sie nicht beeindruckt, aber die Leute gefallen Ihnen nicht, und was Sie von den Jobs der Rainmaker hören ist alles nicht so, dass Sie es einmal versuchen wollen mit den großen Rädern. Kluge, geldgeile Zyniker sehen Sie in den Leuten, die Ihnen etwas erzählen von den Chancen einer großen Kanzlei. Im Durchschnitt halten es die Leute zwei Jahre bei den Läden aus, erzählt Ihnen jemand, und Sie fröstelt. Das wollen Sie nicht.
Mit Ihrem Freund aus dem Studium sind Sie dann schon lange nicht mehr zusammen. Es wird gar nicht der Job gewesen sein, den Ihr Exfreund gern gehabt hätte und nicht gefunden hat, und auch nicht die miese Laune, die ein angewandter Kulturwissenschaftler nun einmal hat, wenn er den ganzen Tag telefonieren oder Kaffee kochen oder blöde Listen abtippen muss. Es hat nur am Ende – sagen Sie – dann irgendwann nicht mehr gestimmt.
Vielleicht arbeiten Sie in acht oder neun Jahren bei einer NGO. Sie erhalten nicht ganz soviel Geld wie die wissenschaftlichen Mitarbeiter an der Uni mit ihren halben Stellen, arbeiten dafür aber mehr als Vollzeit, und wenn Ihr Chef vor die Presse tritt und irgendetwas erzählt, was Sie vorher sorgfältig ausgearbeitet haben, dann fühlen Sie sich nicht gut. Sie spüren so langsam, wie Ihre Freunde nach und nach beginnen, sich in Bars zu verabreden, die Ihnen zu teuer sind, und ab und zu ein Wochenende zusammen wegfahren – Shoppen in London, Wellness an der Ostsee oder so – und Sie nicht gefragt werden, weil jeder weiß, dass Sie sich das nicht leisten können.
Sie haben die eine oder andere Freundin, die auch wenig verdient. Bei der einen stimmen die Examina nicht. Die andere arbeitet auch halbtags für irgendeinen guten Zweck, aber ihr Freund ackert sich gerade in irgendeinem Unternehmen einen goldenen Wolf, und wird dann auch flugs geheiratet. Sie sind – knapp vor Ihrem 30. Geburtstag – allein und jammern nur noch halbironisch abends mit einigen Freundinnen beim Wein, dass es so viele großartige Frauen gebe, klug, selbständig und kritisch, und viel zu wenig tolle Männer. Dass auch die halbtollen Männer nicht gerade Schlange stehen, weil irgendwann um das 30. Lebensjahr herum das gute Aussehen ein aufwendigeres und kostspieligeres Projekt wird, als Sie sich leisten können und wollen, wird Ihnen manchmal klar, aber Sie wollen sich – wie Sie sagen – nicht verbiegen. Sie wollen geliebt werden, wie Sie sind. Vielleicht haben Sie Glück, und es haut noch hin – irgendwann zwischen 30 und 40 – mit einem anderen angewandten Kulturwissenschaftler oder Germanisten und vielleicht bekommen Sie ein Kind.
Falls ich Sie dann irgendwo treffe, geht es Ihnen hoffentlich gut. Sie werden 40 sein, und ich bin 53. Wir werden anstoßen, auf das gute Leben, und ich hoffe, der Preis, den Sie gezahlt haben werden für Ihre Konsequenz, ist Ihnen auch in der Rückschau nicht zu hoch. Aber wenn Sie sich fragen, warum mehr Frauen als Männer diesen Preis zu zahlen bereit sind, dann werde ich schweigen und mit den Achseln zucken, denn ich weiß es nicht.
Aber dass dieser Preis fällig wird, sollten Sie wissen. Jetzt und nicht erst 2028.