„Moment mal – das hat doch irgendwas Negatives mit mir zu tun!“, schaltet sich der J. ein und tippt auf den Bildschirm. Um ein Haar kippt mein Mai Tai um, doch am Ende behalte ich die Oberhand. Schließlich gilt es Zeugnis abzulegen von meinem heutigen Versuch
einen Berg zu besteigen,
der einzig und allein am J. gescheitert ist, denn aus Gründen, die keiner kennt, lehnt mein geschätzter Gefährte, der J., es nicht nur weitgehend ab, zu Fuß zu gehen, er ist zudem ein entschlossener Gegner des Besteigens von Bergen, nein: Von Bergen überhaupt.
„Ich weiß nicht, was ich da oben soll!“, protestierte der J. daher schon kurz nach dem Aufbruch. Majestätisch, gleichwohl laut dem Reiseführer für Senioren und Kinder gleichermaßen geeignet, erhob sich der heilige Berg Gunung Lepuyang (oder so ähnlich) über unseren Häuptern. Zwei Stunden sollte der Aufstieg dauern, aber unser Aufstieg war nach zwanzig Minuten zu Ende. Entschlossen, zum Wagen zurückzulaufen, blieb der J. stehen, kehrte um und lief so schnell er konnte vor dem Berg, vor mir und insbesondere vor der körperlichen Anstrengung weg. Hinter uns kläfften einige Hunde, und die Verkäuferinnen von Ständen, an denen man Wasser kaufen konnte, sahen uns amüsiert nach.
„I thought you would go to the top!“, kommentierte der Fahrer unser schnelles Erscheinen. „Hah!“, oder so ähnlich ließ sich der J. vernehmen und fuhr gemächlich, durch Palmenhaine und Reisterrassen, vorbei an Hütten und Häusern dem Strand entgegen. Es sei Zeit für einen Kaffee, verkündete der geschätzte Gefährte und deutete vorwurfsvoll auf einige Schweißflecken auf seinem Hemd.
Dann aber doch, in den zehn Minuten, bevor der Bus hinter uns seine Ladung auf die Klippen spuckte, konnte ich fliegen. Jadegrün, gekrönt von Wind und weit entfernten Schiffen, lag das Meer unter mir, und sein Salz würzte mir das Blut in den Adern. Die Vögel sprachen mir von den Gesängen der Sonne, der Wolken, und selbst die Surfer auf den Klippen schwebten eine Handbreit über dem schwarzen Stein.
„You must wait for the dance.“, rief man mir nach, aber ich tanzte selber, zog meine Kreise, und die Sonne schmolz mir die wächsernen Flügel diesmal, nur einmal, gnadenreich nicht.
Vor der Markthalle der Inselhauptstadt Denpasar, dem Pasar Badung, heftet sich eine Frau mittleren Alters an unsere Fersen und redet vom Fisch bis fast zu den Textilien in unverständlichem Englisch auf uns ein. Über den Fischverkaufsständen befinden sich Miniaturtempel auf langen Stielen. Zu Füßen der mehrgeschossigen Markthalle fahren alle Balinesen gleichzeitig Auto oder Motorrad, und der schon eher lärmempfindliche J. dreht um. Er werde Denpasar nun unverzüglich verlassen.
Mit dem nächsten Taxi fahren wir nach Sanur. Missvergnügt sitzen wir uns an einem Plastiktisch am Strand gegenüber. Die schon eher wrackige Sanur Beach Restaurant & Bar bietet uns europäisches, chinesisches und indonesisches Essen an. Es ist Ebbe. Neben uns blättert ein blondes Paar im Lonely Planet. Ich habe keine Ahnung, was sie ausgerechnet hier suchen: Lonely ist hier nichts.
„Das ständige Gehupe!“, bricht es aus dem J. heraus. Die angepriesene balinesische Stille jedenfalls muss irgendwo anders stattfinden. Das dressierte Lächeln. „Wenn das nächste Mal einer Excuse me … sagt!“, stöhnt mein geschätzter Gefährte weiter. Das Essen sei deutlich schlechter als etwa in Thailand, und zudem zerrüttet es des J. geistige Gesundheit, alle drei Meter angesprochen zu werden, ob er massiert, gefahren oder gefüttert werden will.
„Hier ist halt Asien und nicht Hannover.“, versuche ich den Aufgebrachten zu beruhigen. Ganz gelingt es mir nicht. Auch ich, gebe ich zu, habe mir auf Basis der verfügbaren Informationen ein deutlich weniger geräuschvolles und möglicherweise durchaus geschmackvolleres Bild gemacht. So verkauft der angeblich berühmte Kunsthandwerksmarkt in Ubud den selben Krempel, den man in jedem beliebigen Badeort Asiens kaufen kann, die selben Bambusmatten, bunt bemalten Esstäbchen, Servietten und Decken, Sarongs und geschnitzten Elefanten, Aschenbecher und scheußliche Tabletts. Die Bilder, für die Ubud als die Stadt der Maler bekannt sein soll, gleichen denen aufs Haar, die in Möbelhäusern angeboten werden und in greller Acryltechnik Pagoden vor Sonnenuntergängen, fehlfarbenen Buddhas, Tiger oder unbekleidete Mädchen mit Blumen im Haar zeigen. Die einheimische Kultur, soweit sie es bis in Museen geschafft hat, missfällt mir zwar nicht, weckt aber auch kein besonderes Interesse. Es mag an mir liegen, aber mehr als dekorativ erscheint mir keins der Exponate.
Auf dem Rückweg ins Hotel schweigt der J. verbissen und sieht aus dem Fenster. Der Fahrer hupt und schmatzt. „Good afternoooooon! How are you?“, jubelt der Boy uns vorm Portal des Hotels entgegen, als wir aus dem Wagen steigen. Neben mir höre den J. langsam ein- und ausatmen.
Der J. wird, so wie es aussieht, das Hotel bis Sonntag nicht mehr verlassen.
Nun, seien wir ehrlich: Zumindest Teile der Hölle finden in Strandhotels statt. Schwere Vergehen werden durch den Daueraufenthalt in Backpackerabsteigen gesühnt, in denen den ganzen Tag Bob Marley singt, und blonde, sonnenverbrannte Schweden mit T-Shirts, auf denen Bierwerbung abgedruckt ist, mit zerlumpten Einheimischen um den Gegenwert von fünfzig Cent feilschen. Nachts amüsieren sich die Schweden mit laut kreischenden australischen Mädchen, und verwickeln anderntags harmlose Passanten in lange Gespräche über den unglaublichen Spirit des Landes, in dem man sich gerade aufhält.
Für andere, nicht weniger schwere Sünden, kommt man in Clubs. Auch hier läuft den ganzen Tag laut Musik, aber statt selbstgerecht-alternativer Studenten sitzen die Sekretärinnen aller Länder am Pool, zeigen einander ihre Tätowierungen, und ihre missratene Brut springt mit größtmöglicher Intensität in den chlorstinkenden Pool. Jeden Abend gibt es dasselbe Buffet.
Andere, geringere Sünden – lassen sie uns von den weniger geräuschvollen Verbrechen sprechen – werden in Hotels wie diesem geahndet. Der Bestrafungscharakter des Aufenthalts ist hier weitaus subtilerer Natur. Jeden Morgen der Ewigkeit wacht man also auf, die Sonne scheint, das Hotelpersonal ist von undurchdringlicher, unverwüstlicher Freundlichkeit, die Hotelanlage ist preisgekrönt geschmackvoll, und das Frühstücksbuffet bietet alles, was man auch nur potentiell morgens essen will. Der Strand ist lang und weiß, der Spa gepflegt, rundherum kann man sehr gut dinieren, und die ersten Tage denkt man tatsächlich, so schlimm könnten die kleinen, lässlichen Sünden des eigenen Lebens nicht gewesen sein. Man liest jeden Tag ein Buch und abends trinkt man Gin Tonic oder frische Säfte.
Nach wenigen Tagen aber beginnt die Idylle an den Nerven zu zerren. Die Ereignislosigkeit befördert eine gewisse Nervosität, man wird unruhig, und dass einen die Sehenswürdigkeiten des Umlandes nicht so besonders interessieren, macht die Sache natürlich auch nicht besser. Man engagiert einen Fahrer, der einen umsichtig und unaufdringlich überallhin bringt, wo man hin möchte. Tag für Tag steht man vor irgendwelchen Tempeln, die alle gleich aussehen, man könnte Märkte besuchen, bei denen es kunsthandwerkliche Produkte kaufen, die man zwar nicht braucht, die aber ganz hübsch aussehen, und man könnte – wollte man das – Kurse belegen, bei denen man einheimisch kochen, surfen, segeln oder tauchen lernen kann. Ganz Verzweifelte könnten auch irgendwelche Kreativkurse buchen, um Fertigkeiten zu erlernen, die ich zumindest noch nie im Portfolio meiner Fähigkeiten vermisst habe.
Abends liegt man im Bett und stellt sich mit von Nacht zu Nacht wachsender Intensität vor, man säße im LassunsFreundebleiben. Oder in der 103 Bar. Oder im fluido. Ganz gern, stellt man fest, würde man das KaDeWe durchstreifen, vielleicht in der Gemäldegalerie am Potsdamer Platz Bilder betrachten, die einen im Gegensatz zu den hierzulande ausgestellten Gemälden auch interessieren, und außerdem hätte man gern weniger Leute, die irgendwie unsympathisch wirken, um sich herum, und dafür die eigenen Freunde, die zwar auch Krach machen, aber wenigstens nicht dazu neigen, am Strand halbnackt minderwertige Bücher von Danielle Steel oder Dan Brown zu konsumieren. Man fängt an, sich vor den sonnenbadenden Menschen im Hotel zu ekeln, und stellt sich manchmal, schließt man die Augen, vor, statt des Meeres würde die Torstraße rauschen.
Nach einer Woche zählt man die Tage, doch statt irgendwann erfreut den weiteren Verbleib mit „fünf“ durchaus überschaubar beziffern zu können, wäre man – wäre das hier die Hölle und nicht nur ein Strandhotel – verdammt in alle Ewigkeit und verloren in der Perfektion.
Es gibt hier nichts auszusetzen. Aber partiell es ist schwer erträglich.
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