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Von außen

Was wohl die anderen Leute sehen?, frage ich mich und schaue die Frau auf dem Sitz gegenüber aus den Augenwinkeln an. Auf den anderen fünf Plätzen im Abteil sitzen meine Freunde, die C., der R. und seine Freundin I.. Der J. blättert in der Süddeutschen. Die C. zieht ab und an, wenn die Nachrichten sie befremden, die makellos gezupfte linke Augenbraue hoch.

Ob wir, überlege ich, so selbstverständlich und einfach nur da wirken, wie wir uns fühlen? In unseren grünen Jacken vom letzten Sommer. Den Jeans, die wieder enger geworden sind. Die Männer in ihren Hemden, wir in unseren Oberteilen, die am Bund gerafft sind und wieder länger als die ganzen letzten Jahre. Den müden, noch etwas verschlafenen Gesprächen. Die letzte Documenta. Die Jobs, die wir haben, in denen wir Geld hin- und herschieben, das uns nicht gehört, und das Spielgeld bleibt, schwarze Zahlen auf dem Rechner. Der von den vielen Jahren, der vielen Musik, von so vielen Büchern, unserer ganzen, von all den Nächten ermüdeten Erregbarkeit, und den kurzen Blicken auf den Rest der Welt, aus denen eine selten enttäuschte Erwartung spricht, das alles und noch viel mehr bereits gesehen, geschmeckt und besessen zu haben.

Ob wir sympathisch wirken, weiß ich nicht. Vielleicht ist die Drachenhaut in all den Jahren so fest geworden, dass man nicht mehr durchsieht, wenn man uns – oder Leute, die so sind wie wir – nicht seit vielen Jahren kennt, nicht mit uns groß geworden ist, und unsere stillen, verzagten Morgen nicht sehen kann, an denen die Kompliziertheit der Welt uns schier zu erdrücken scheint. Die Angst vor dem riesengroßen, entzündeten Himmel. Der plötzliche Drang, die Hand an eine rissige Hauswand zu pressen, um sich zu vergewissern, dass sie existiert, dass man sie anfassen kann. Dass die Welt noch genauso wirklich ist wie vor zehn Jahren, als man sie spüren könnte. Das Getriebene und das Treiben, an dem wir Anteil haben, wie man teilnimmt an etwas, das einem selbstverständlich ist, weil man aufgehört hat, die Welt noch in Zweifel zu ziehen. Weil man zu lächeln gelernt hat, wenn man die Dinge nicht ändern kann, und es irgendwann nicht mehr will.

Zufriedene Leute sieht man, gehen wir über die Straße. Ein bißchen satt, ein wenig zu glatt, wie das Abgehobelte eben glatter wird mit all den Jahren. Ob man uns mag, frage ich mich, und die Antwort, so weiß ich, ist allzu oft: Nein.

Und auch das wird egal, egaler, versinkt in der grauen Flut unserer Leben, über der die Möwen kreisen, wenn nicht der Sturm noch kommt, den ich nicht mehr erwarte.

Wie der Salat gewachsen ist

Stellen Sie sich, meine Damen und Herren, einen Herrenclub vor. 1880. Auf schweren Ledersesseln sitzen ein paar dicke, schon etwas kahlköpfige Männer in den behäbigen Anzügen jener Jahre, über dem flackernden Kamin hängt ein Bild, das eine Schale mit Früchten zeigt, und in der warmen Luft hängt der würzige, volle Dunst von Zigarren.

Die Herren sind unglücklich. Der eine leidet an der Landwirtschaft. Dem zweiten wird körperlich übel, wenn er das Foyer seines Bankhauses betritt. Der dritte ist Notar und wäre gern ein Dichter. Darüber aber – wie Männer nun einmal so sind – sprechen die Herren natürlich nicht.

Der unglückliche Landwirt lamentiert statt dessen über seine Frau. Sorglos und in vollständiger, glücklicher Unkenntnis über die drückende Konkurrenz wandele seine Frau tagein, tagaus einher, kommandiere das Mädchen herum, koche ein bißchen dies und das, und ihre größte Sorge sei es, ob der Braten gelinge oder nicht. Ein sorgenfreies Leben führe seine Frau!, hört man den gebeutelten Landwirt ausrufen, und die anderen Herren seufzen.

Der Bankier hat es auch nicht leicht. Allein und ohne Verantwortung für seine Frau und fünf Kinder hätte er, behauptet er, schon längst hingeschmissen, das Geschäft anderen überlassen, und säße irgendwo am Land, am Genfer See vielleicht oder im Salzkammergut, würde Geschäfte Geschäfte sein lassen, und jeden Tag drei Stunden lang die Zeitung lesen. Statt dessen hetze er sich ab, scheffele Geld, das seine unbegabten Söhne mit minderwertigen Frauenzimmern verprassen würden, sei er erstmal tot, und statt seiner fahre seine Frau monatelang zur Kur und bekämpfe Krankheiten, die sie gar nicht habe.

Auch er, pflichtet der der Notar bei, leide unter seiner Frau. Gewiss, sie sei ein reizendes Geschöpf, klug und fleißig, und könne eigentlich ebenso gut Notar sein wie er. Nur langweile sie sich daheim zu Tode, lese, schreibe und male den ganzen Tag mit verdrossener Miene und wenig Talent, derweil er über einer nie endenden Kette sterbenslangweiligen Beurkundungen nicht dazu komme, den Dingen nachzugehen, die ihm wirklich am Herzen lägen. Am Abend aber säßen sie sich grollend gegenüber, seine Frau und er, jeder neide dem anderen das tätige Leben oder die Muße, und so habe auch er es schlecht getroffen mit seiner Wahl.

Gar keine Frau sollte man haben!, ächzt der Bankier halblaut und erinnert sich schöner, unbeschwerter Junggesellentage, aber die anderen schütteln die Köpfe. Man hänge doch sehr an den Damen, und überdies brauche man nun einmal ein warmes Haus, ein gutes Essen und saubere Wäsche, und Kinder brauche man auch.

Seine Frau könne eigentlich Notar werden, und er zu Hause bleiben, sinniert der Notar und zieht an seiner Zigarre. Intelligent genug sei sie, resolut für zwei, und er könne daheim den ganzen Tag Beschäftigungen nachgehen, die ihn mehr interessieren als die Vermögensdispositionen seiner Mandanten.

Das, fällt der Landwirt ein, sei eigentlich nicht das schlechteste. Auch seine Frau könne an und für sich die lästige Korrespondenz erledigen, sich Sorgen machen über den Preisverfall beim Weizen und schlecht schlafen, wenn ein Gewitter oder Schädlinge die Mühe eines Jahres zunichte machen.

Ein schöne Vorstellung, befindet der Bankier und seine Miene hellt sich auf. Würde auch seine Frau einem Berufe nachgehen, so laste die Versorgung nicht mehr auf ihm. Tun und lassen könne er, was ihm beliebe, ein paar Tage aufs Land fahren, wenn er wolle, und wenn seiner Frau das Geld nicht reiche, so müsse sie eben mehr arbeiten.

Aber werden die Frauen sich einfach so in die Büros schicken lassen?, fragt der Landwirt in die Runde. – Man muss es ihnen nur schmackhaft machen, befindet der Bankier. Zum Widerspruch müsse man sie reizen, indem man laut und öffentlich behaupte, sie seien zu dumm zum Geschäftemachen und erst recht zum Studieren. Man müsse die Vorteile der Selbständigkeit und Unabhängigkeit – hier hört man den Bankier lauthals seufzen – in grellen Farben ausmalen und erzählen, Frauen seien der Freiheit gar nicht gewachsen.

Keine schlechte Idee, nicken die Herren sich zu und ziehen an ihren Zigarren.

Karlsbader Notizen (2)

III.

Die Spuren der in den letzten Jahrzehnten angerichteten Verwüstungen sind auch im Hotel nicht zu übersehen. Zwar sind die Gesellschaftsräume – der herrliche Speisesaal mit seinen apart nachgedunkelten Gemälden, und die Halle in dem für Hotelbauten des 19. Jahrhunderts charakteristischen anglisierenden Stil – im Wesentlichen unversehrt und entsprechen, ausweislich einiger Photographien an den Wänden, ungefähr der Gestaltung zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Für die Zimmer gilt dies allerdings nicht im selben Maße.

Erkennbar stand zwar der Wunsch nach einer Annäherung an die versunkene Grandezza der Hotelpaläste der Belle Epoque Pate bei der Neugestaltung, die nach 1990 vollzogen wurde. Tatsächlich ist dort, wo der Boden der Konvention aus dunklem, polierten Holz, Chintz und den beruhigenden Farben englischer Wohnzimmer nicht verlassen wird, dieses Vorhaben als im Großen und Ganzen gelungen zu betrachten. Allerdings zeugen Nuancen von der ästhetischen Katastrophe des real existierenden Sozialismus. Ein vollkommen verdorbener Farbensinn etwa, der für den fleischfarbenen Grund einer an und für sich unbedenklich geblümten Tapete verantwortlich sein muss. Die Bodenbeläge der Flure, auf die die Imitation eines persischen Läufers aufgedruckt zu sein scheint, und die in einem abstrusen Gegensatz zu der Pracht der vielleicht etwas zu sorgfältig restaurierten Stuckatur steht, und – rührend possierlich – eine kleine Topfpflanze mit dicken, gummiartigen Blättern auf einem viktorianischen Blumenschemel zur Seite meines Bettes: All dies erinnert an eine Dame in Abendgarderobe, aufwendig frisiert mit sorgfältig gewähltem Schmuck, deren Füße in rosa Gesundheitslatschen aus Plastik stecken und die sich nicht im Geringsten für diese Entgleisung schämt.

IV.

Woher wissen eigentlich die anderen Leute, was ihnen zuträglich ist, frage ich mich und sehe mich um. Vor und innerhalb der Kolonnaden sitzen und stehen Menschen jeden Alters – sogar ein paar Kinder sind dabei – und trinken langsam und andächtig aus den geschwungenen Tüllen ihrer Karaffen. Warm ist das Wasser, salzig und ein wenig bitter, und entbehrt gänzlich jener Frische, die man normalerweise mit Quellen assoziiert. Für einen Moment frage ich mich, ob der gute Ruf des Karlsbader Wassers nicht möglicherweise gerade auf seinem wenig ansprechenden Geschmack beruht, was, wie man weiß, die Wirksamkeit von Medikamenten in der menschlichen Vorstellungskraft erhöht.

Wie viel Wasser trinkt man täglich richtigerweise, wenn man eigentlich, sinniere ich, gar nichts hat, abgesehen vielleicht von einer gewissen Nervosität. Gibt es irgendwo Anleitungen, wie eine ordentliche Wasserkur auszusehen hat? Sollte, müsste oder könnte man zumindest einen Badearzt konsultieren, oder ist hier jeder seiner eigenen Wasserkur Schmied?

Karlsbader Notizen (1)

I.

Die Brücke zur Innenstadt, behauptet der Taxifahrer, sei gesperrt, und fährt sehr, sehr langsam in weitem Bogen um die Stadt. Der uralte Mercedes keucht und stöhnt wie ein Droschkengaul, und sogar der Plüschlöwe am Rückspiegel macht einen sonderbar angestrengten Eindruck, als sei das Baumeln eine schwierige und strapaziöse Angelegenheit.

Es sei langweilig hier für junge Leute, behauptet der Taxifahrer und zählt abfällig ein paar Adressen auf. Nichts für junge Frauen, beeilt er sich hinzufügen und zündet sich eine weitere Zigarette an ihrer heruntergebrannten Vorgängerin an. Nach Prag könne er mich fahren, bietet er an. Eine Stunde. € 100,–. Ich könne einkaufen, er würde warten und führe mich nach dem Einkaufen wieder nach Karlsbad zurück. – „Nein?“, fragt er nach, als habe er mein Kopfschütteln falsch verstanden, und sein Angebot sei nichts, was man ablehnen könne.

Nein, beharre ich, und enttäuscht verstummt der Taxifahrer. Erst auf der Auffahrt des Hotels richtet er wieder das Wort an mich. Wann ich zurückfahre, will er wissen. Er hole mich ab. Lächelnd schüttele ich den Kopf. Verstimmt bleibt der ältere, etwas formlose Mann hinter dem Lenkrad sitzen und überlässt es einem ältlichen Pagen, mein Gepäck aus dem Kofferraum zu holen.

II.

In der Hotellobby bin ich der einzige Gast. Überhaupt atmet das Hotel eine leichte nachsaisonhafte Melancholie, die ich mir mitten im Sommer nicht recht erklären kann. Es scheint kaum Gäste zu geben, stetig sitzen die selben beiden Araber mit imposanten Schnauzbärten in der Lobby, sehen konzentriert fern und rauchen schlanke, etwas affektiert wirkende, schneeweiße Zigaretten. Außer den beiden Lobbydauergästen sehe ich ein paar lautlose, japanische Familien, eine tief verschleierte Frau mit einem ebenfalls verschleierten Kind an der Hand, und ein paar sportliche Deutsche in farbenfroher North Face Wanderbekleidung stramm durch die Hotellobby marschieren.

An der Rezeption stehen zwei magere, hochgewachsene Mädchen, ein wenig zu blondiert für ihre rosigen Gesichter und lächeln eisern gegen die Leere in der Hotelhalle an. Mit einer etwas militärisch anmutenden Professionalität schlagen die beiden mir den Zimmerschlüssel, verschiedene Vouchers und Broschüren auf den Tresen, als gelte es, Fliegen zu erschlagen und schicken mich in mein Zimmer. „Sie werden sich wohlfühlen!“, schärft mir die Größere der beiden ein, und die andere nickt.

Der Urlaub bekommt mir nicht

10.30. Erwacht. Mit geschlossenen Augen liegen geblieben. Letzte Reste reger Traumtätigkeit suggerieren den Aufenthalt in einem Bahnabteil, das ich ohne Geld verlassen muss. Furchtbarer Hunger. Im Traum einen Markt aufgesucht, wo ein freundlicher Basarverkäufer mir kostenlos spitze, metallisch glänzende, stricknadeldünne Fische freigebig in eine Plastiktüte füllt. Hätte ich Geld dabei, könnte ich selber wählen und Fleisch kaufen statt der wenig verlockenden Fische, ärgert sich mein Traum-Ich und zieht mit der Fischtüte ab.

Sollte ich mehr Fisch essen, frage ich mich beim Erwachen. Heute Forellen, beschließe ich und taste nach meiner Brille.

11.15. Der Käse von Kaufhof taugt wieder nichts. Aus der Mitte des Käses bröckeln mir unregelmäßige Bruchstücke des Brie de Meaux entgegen. Künftig ins Lafayette. Nach kurzer Überlegung, den Käse im Backofen zu erwärmen, um dem Gekrümel ein Ende zu machen, missmutiger Verzehr.

11.45. Mir ist langweilig. Lese ungefähr zehn Seiten einer Biographie und weitere zehn Seiten eines Romans, dessen Titel mehr verspricht, als der Inhalt zu halten in der Lage ist. Zärtliche Betrachtung des ansehnlichen Stapels jüngst erworbener Bücher. Sodann spontane Irritation: Auf der Hälfte aller aktuell vertriebener Bücher, ob Klassiker oder modern, prangt eine Empfehlung der unsäglichen Frau Elke Heidenreich. Künftig nur noch Antiquariate.

13.00. Vielleicht doch kein Fisch? Lebhafte Schnitzelvisionen.

13.30.
Verschiedene Bekannte bei Google eingegeben. Alle sind promoviert, nur ich nicht.

14.15. Öffne mehrmals meine Dissertation und schließe das Dokument wieder. Du hast doch Urlaub, sage ich mir und setze mich demonstrativ aufs Sofa. Tu doch einfach mal nichts, denke ich und stelle mich vor den Spiegel. Nichtstun, sage ich laut. Regeneration. Bewusste Untätigkeit! Müßiggang! – Nichts hilft.

14.30. Neurasthenie. Reibe immerzu Daumen und Zeigefinger aneinander und klopfe ab und zu mit Zeige- und Mittelfinger der linken Hand gegen mein Kinn. Rückkehr ins Bad. Beim Versuch, Badewasser einzulassen, den Stöpsel abgebrochen, mit dem man den Austrittsort des Wassers einstellen kann. Nun fließt das Wasser nur noch aus dem Hahn. Auch egal, sage ich ein paarmal laut und zerbrösele das letzte Drittel eines festen, ölkreideartigen Badezusatzes, den der J. mir geschenkt hat. Es riecht nach Cassis.

14.15. Interessierte Betrachtung meiner Fingerkuppen. I am the walrus!, konstatiere ich und entsteige der Wanne. Wiederholte Inspektion, ob wirklich körperlich symmetrisch beschaffen. Negativer Befund.

14.30. Das ungute Gefühl, die Körperwahrnehmung rage jeweils etwa einen Zentimeter über den eigentlichen Körper hinaus.

15.00. Nach Jahren wieder längere T-Shirts. Ist das wirklich kleidsam? Sehe ich übermäßig kurzbeinig aus? Oder ist das in meinem Alter schon egal?

15.15.
Wozu das alles noch. Lebenskrise auf dem Fahrrad zwischen Kastanienallee und Hamburger Bahnhof.

16.15. Die modernen Kunstwerke gefallen mir nicht. Erneutes Bewusstsein bestürzender Konventionalität. Von mir aus hätten sie 1950 aufhören können mit Malen, formen sich wahrhaft banausische Gedanken und drücken von Innen gegen meine Zähne. Mühsam geschwiegen, um keinen merkwürdigen Eindruck zu hinterlassen bei A.`s Freundin, die mich nicht kennt.

17.15. Freude über die spontane Produktion einer Empfindung angesichts eines verstümmelten, ausgestopften Pferdes. Immerhin. Ekel funktioniert noch.

17.45. Präparatensammlung. Wird den anderen Leuten hier eigentlich nicht übel? – Die waren schon vorher tot!, beruhige ich mich angesichts der missgebildeten Föten mit übergroßen Köpfen oder ohne Gehirn mit ganz eingedrückter Hirnschale. Optisch äußerst eindringliche Vorstellung meiner selbst in einem riesengroßen Gurkenglas, nackt, vor dem Schulklassen stehen und lachend auf meine Hüften zeigen. Die fette Frau, kreischt es vielstimmig in meiner Vision. Magere Mädchen schlagen sich stolz auf ihre fleischlosen Bäuche.

18.30. Jetzt von einer Wespe gestochen werden und einfach sterben, denke ich und zähle die grell-gelben Streifen auf dem Leib des Insekts, das abwechselnd um das Glas Fassbrause meiner Nachbarin und um meinen Pfefferminztee herumfliegt, unschlüssig, wer allergischer ist.

19.30. Fisch. Ich hätte Schnitzel kaufen sollen.

20.00. Alles sinnlos. Kurze Versuchung, meine gesamte Dissertation einfach zu löschen. Leider liegt eine erste Fassung (eine vorläufige Fassung, sage ich mir) meinem Doktorvater bereits vor und hat ihm gefallen.

22.00. Grundlegende Umwälzungen. Gliederung umgestellt. Andere Ergebnisse. Diese Dissertation ist noch zu retten, sage ich mir mehrmals nachdrücklich vor. Heute, morgen, übermorgen, plane ich die erste Hälfte meines restlichen Urlaubs.

24.00. Mir geht es gut, bekräftige ich und ziehe ein paar Fratzen vor dem Spiegel.

Morgen vielleicht Schnitzel.

Das Mückenmahl

Ganz generell kann man ja froh sein, dass die Evolution einen nicht erwischt hat, als ihre Pranken noch mächtiger waren, als dies heute der Fall ist, und die natürliche Auslese mich nicht zu Zeiten aussortiert hat, als Kurzsichtigkeit, Schwerhörigkeit und die Unfähigkeit, sich im dreidimensionalen Raum zurechtzufinden, noch ausgereicht hätten, mich noch im Kindesalter von einem Bären fressen zu lassen, oder schlicht beim Beerensammeln verloren zu gehen und nie wieder nach Hause zu finden. Ein weiterer Umstand hätte mein Überleben in der Urgesellschaft vermutlich durchaus schwierig gestaltet: Wo ich bin, sind Mücken, wo Mücken sind, wird man gestochen, und wer gestochen wird, riskiert in den feuchten Mooren der Urzeit gefährliche Infektionen und einen baldigen Tod.

Dies immerhin dräut nicht hierzulande, wo weit gefährlicher als der Tod durch Malaria der Tod durch wildgewordene Autofahrer sein dürfte, und doch erweist sich täglich, dass auch heute die Anziehungskraft auf Stechmücken einen echten Nachteil im harten Überlebenskampf darstellt, welcher, wie man weiß, aktuell eher auf Straßen und in Büros stattzufinden pflegt als in den dichten Wäldern der Urzeit.

Komplett zerschlagen nämlich, müde wie eine junge Mutter, mit Ringen unter den Augen, die vom Umfang her fast Untertassen gleichen, und verbeult wie ein Opfer der pestis bubonis, sieht der geneigte Passant eine durchaus geräderte Dame auf dem Fahrrad den Alex überqueren, knapp nur sieht sie in letzter Minute die dahinsausenden Gefährte motorisierter Zeitgenossen, und dass nicht auf den knapp acht Kilometern zwischen ihrem mückenverpesteten Heim und ihrem nict minder insektenstarrenden Büro die Kraftfahrzeuge ihr den Garaus machen – das, verehrter Leser, ist weniger ihr als dem Glück und der Aufmerksamkeit Dritter zu verdanken. Tief in Gedanken, über den Lenker gebeugt, sieht man sie die Spree entlang radeln, fahrig wedelt sie aus purer Gewohnheit imaginäre Insekten vor ihrem Gesicht nach rechts und links, um sich, wartend an der Ampel, mehrfach herzhaft zu kratzen.

In ihren Ohren saust es von Müdigkeit, alle Mücken der Stadt summen ihr Schlaflieder vor, und dass sie, endlich im Büro angelangt, nicht sofort in Schlaf versinkt: Dies, oh hoffentlich mitleidiger Leser, dies ist ganz allein den Mücken anzulasten, die auch hier, den Fluß vor der Türe, seit Stunden schmatzend vor Begierde, der Ankommenden harren, an ihrem Blute zu saugen, riesengroße Beulen hinterlassend, und nach kurzem Verdauungsschlafe wiederkehrend, in Begleitung natürlich, schwankend vor Völlerei, und so angefüllt mit nahrhaftem Blute, dass sie dort, wo man die eine oder andere mit gezieltem Schlage zerdrückt, spektakuläre Blutflecken hinterlassen.

Belehrung eines jungen Mädchens

Wer wird denn gleich von Verstellung sprechen, meine Liebe. Verstellung ist ein hartes Wort. Sprechen wir lieber von einer Art Höflichkeit, einer Konzession an die Menschen um Sie herum, und nicht zu vergessen: Auch an Sie selbst.

Sie möchten aber genau so sein, wie Sie sind? Lachen, wenn Ihnen etwas lustig erscheint, auch wenn sonst keiner lacht? Fluchen, wenn Sie sich ärgern, morgens einfach anziehen, was Ihnen gefällt, auch wenn das sonst keiner trägt? Einfach weggehen, wenn Sie sich langweilen, laut dazwischenfahren, wenn Sie finden, das müsse jetzt so sein?

Na, herzlichen Glückwunsch. Sie werden einigen Ärger haben mit sich selbst und dem Rest der Welt, und – lassen Sie es sich gesagt sein von einer Dame in in Ihren Augen durchaus mittleren Jahren – niemand wird dabei zu Schaden kommen als Sie.

Nehmen Sie beispielsweise den Schulunterricht. Lassen Sie es sich keinesfalls anmerken, etwas besser zu wissen als andere Leute. Sie kommen sonst – eins, zack, drei – in einen unmöglichen Ruf. Insbesondere Begeisterung sollten Sie gefälligst für sich behalten, bis Sie sorgfältig geprüft haben werden, ob das Ziel Ihres Enthusiasmus Außenstehenden auch nur halbwegs vermittelbar ist. Ich beispielsweise genieße bei denjenigen Leuten, mit denen ich einst den Leistungskurs Geschichte besucht habe, vermutlich bis heute einen leicht skurrilen Ruf, der vorwiegend auf eine als reichlich übersteigert empfundene Liebe zur alten Geschichte zurückzuführen ist. Eine vergleichbare Vorliebe für irgendeinen schönen Fernsehseriendarsteller oder eine Band dagegen wird Ihrem Ruf als reizendem Mädchen weitaus weniger schaden.

Sie wollen gar kein reizendes Mädchen sein? Sie wollen so gemocht, ach: geliebt, werden, wie Sie sind? Meine Liebe, niemand wird wegen jener Eigenschaften geliebt, die ihn von anderen unterscheiden. Mit den geistigen Eigenschaften ist es wie mit der Körperlichkeit: Je durchschnittlicher eine Person ist, je gemäßigter ihre Vorlieben und Abneigungen, um so eher darf sie hoffen, auf Anklang zu finden. Dem Begriff der Eigenheiten ist nicht umsonst ein etwas missbilligender Beiklang zu eigen, und alles, was nur Sie, und keine anderen Leute, tun oder denken, wird von jenen Menschen, von denen Sie geschätzt, eingeladen und vielleicht geliebt werden wollen, betrachtet werden wie eine allzu lange Nase, zu dicke Fesseln oder ein zu spitzes Kinn. Lernen Sie beizeiten, Extravaganzen zu meiden.

Lernen Sie lächeln. Jedem intelligenten Wesen fallen Torheiten auf. Nicht besonders intelligent ist es dagegen, sich dies auch anmerken zu lassen. Dummheit und geistige Inkonsequenz, Brutalität und Empfindungslosigkeit, fehlender Schönheitssinn und Banalitäten jeder Art werden nicht den Dummen und Banalen, sondern Ihnen schaden, wenn Sie sich anmerken lassen, dass Sie gelangweilt sind, vielleicht sogar abgestoßen.

Werden Sie unempfindlich. Das Heulen mit den Wölfen ist zu Unrecht in die Kritik geraten. Lernen Sie, Erziehungsmaximen zu hinterfragen: Opportunismus ist eine Kunst, die jedem zum Vorteil gereichen wird, dem man die Meisterschaft nicht anmerkt. Insbesondere aber dies: Schweigen Sie.

Legen Sie sich ein paar Themen zurecht, mit denen Sie Ihre Konversation bestreiten. Versuchen Sie nicht zu glänzen. Ich persönlich spreche meist über Handtaschen, Fluglinien und Bars. Nicht, dass mich diese Themen mehr interessierten als Cicero, das europäische Barock oder die Ontologie – indes verbringe ich meine Abende nicht gern allein, und die Anzahl insbesondere männlicher Menschen, die dies schätzen, ist gering, und wird nicht steigen in den nächsten Jahren. Machen Sie sich nichts vor: Auch jene Herren, die ihrerseits das Barock oder die Lyrik lieben, schätzen ein verständiges Schweigen höher denn einen fachlichen Austausch.

Vermeiden Sie insbesondere emotionale Extravaganzen. Weltschmerz, Düsterkeit, am Ende noch Gedichte schreiben, behalten Sie besser für sich. Das Tonio-Kröger-Syndrom, eine gewisse Portion jugendlicher Verfinsterung, wird nur dort augenzwinkernd gebilligt, wo es bei Knaben auftritt. Als Mädchen, meine Liebe, machen Sie sich höchstens lächerlich, und auch die verdüsterten Jünglinge, werden ihr Herz an muntere, lustig flatternde Geschöpfe verlieren und nicht an Sie. Für weibliches Freaktum bietet die Gesellschaft kein Rollenmodell.

Apropos Gesellschaft: Fangen Sie gar nicht erst an, über Staat und Gesellschaft nachzudenken. Sie werden zwangsläufig auf dunkle Ecken stoßen, Sie werden sich aufregen, denn die Welt ist voller Ungerechtigkeit, und am Ende wird weder die Welt etwas davon haben noch Sie. Beobachten Sie sich sorgfältig – vermeiden Sie die Berührung mit Themen, die Sie mehr als andere empören, denn Empörung ist als Zustand sowohl nutzlos als auch völlig unpassend und geht anderen Leuten zu recht auf den Geist. Aber ich will Sie nicht entmutigen: Haben Sie eine Meinung – aber vermeiden Sie übermäßiges Engagement. Lassen Sie es sich gesagt sein: Die einflussreichsten Menschen, die ich kenne, haben höchstens Spurenelemente feststehender Positionen, und Leute mit ausgeprägten Ansichten lässt zu recht keiner an die Macht.

Und am Ende nur dies: Amüsieren Sie sich. Denn das Leben ist kurz, und wer wären wir, urteilen zu können über andere oder auch nur über uns. Seien Sie angenehm, denn die Welt ist voll der Unannehmlichkeiten, und wo kämen wir denn hin, wenn kluge Menschen ihren Kopf nur um Unruhestiften benützen. Lächeln Sie, bis keiner mehr weiß, dass Sie über – und nicht mit – der Welt über ihre sonderbaren Sitten und Gebräuche das Gesicht verziehen. Und seien Sie nachsichtig. Mit sich und mit allen anderen, und insbesondere mit den Dingen, die Sie nicht ändern werden, weil sie sind, wie sie sind, und vielleicht ist das gut.

Sommermorgen

Mit Wassertropfen funkelnd behangen neigen die Weiden sich dem Schilfe zu. Noch ist das Gras nass von der Nacht und vom Regen, noch sammelt sich das Wasser auf ein paar tiefer gelegenen Fliesen der Terrasse, die, wohl vor kurzem erst erneuert, schon wieder absackt, sinkt, der müden Erde hinterher.

Wie groß doch Bäume sind, denke ich, und lächele über diesen Gedanken. Wie schnell man den Geruch von Sommer und Erde vergisst. Den Duft von feuchtem Gras. Die Stille, als gebe es keine anderen Menschen. Die Leere des Himmels morgens um fünf, wenn man aufwacht, am Ende der Welt, um ein paar Schritte durch den Park zu gehen, vorbei am ausgeblühten Flieder, an ein paar moosumflorten Steinen, um ein paar Atemzüge lang der erste Mensch auf Erden zu sein, allein unter Gottes straff gespannten Himmel, und es wäre der kommende Tag ein Fest, ein Rausch aus Wein und gelben Rosen, Fanfaren, Fackeln, Birkenglanz, und nicht ein Tag wie jeder andere.

Der EXOT liest

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Mit Geld ist es ja so eine Sache: Verdient man genug, hat man keine Zeit, um auch etwas davon zu haben, hat man Zeit, so fehlt meist Geld, mit der freien Zeit auch etwas anzufangen, und hat man Zeit und Geld einfach so, so wird man trübsinnig und verfällt dem Buddhismus.

Geld zu haben, scheint es also, ist keine so besonders glückverheißende Sache, und doch lebt es sich mit einem gutgefüllten Konto um Vieles besser, ob man nun ein Mensch ist oder ein Magazin, und so hoffen wir

am 10. Juni 2007
um 21.00 Uhr
Im LassunsFreundebleiben
in der Choriner Str. 12, Berlin

diesmal nicht nur auf Ihr zahlreiches Erscheinen, sondern auch erstmals auf € 5,– Eintritt, wofür es aber nicht nur einen hoffentlich angenehmen Abend, sondern auch eine Ausgabe des äußerst schätzenswerten Magazins EXOT gibt, welches diese Lesung veranstaltet.

Kommen Sie also zu Hauf, bringen Sie Ihre Freunde mit, preisen Sie die Herren Anselm Neft, Jochen Reinecke und Ivo Lotion privat und in der Öffentlichkeit ob ihres schier unermesslichen Talentes zur Verfertigung von Texten, und wenn Sie auch kommen, um mir zuzuhören, die ich gleichfalls lese, fühle ich mich natürlich äußerst geschmeichelt.

(Danke für die prompte Hilfe bei der Bilderkleinerung an den viel bewunderten Herrn Sven K.