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Meine Familie und ich

Diese Lesung ist meinen lieben Eltern gewidmet*

karles1Die Familie, liebe Leserinnen und Leser, ist bekanntlich die Keimzelle der Gesellschaft, die Urpflanze aller Obrigkeit, der Ort, an dem alle Neurosen wurzeln, wo man Leute trifft, mit denen man sonst nie zu tun hätte, die Dinge erzählen, die einem Fremde niemals mitteilen würden, ohne dass man wegliefe.

Auf diese Weise verdankt man seiner Familie nicht nur seine Existenz und die Fähigkeit, auf zehn verschiedene Arten Servietten zu falten – nein: Ein ganzer Schatz von grotesken Liebesgeschichten, absurden Todesfällen, den traurigsten Tiergeschichten des Universums und den schönsten Erbschaftsgeschichten des Abendlandes ist zu schade, um ihn für sich zu behalten.

Aus dem Nähkästchen plaudern daher Frau Wortschnittchen, Frau Lyssa, Maestro Don Alphonso und ich

am Sonntag, den 28.01.2007
um 19.30
im Café Lass uns Freunde bleiben
Choriner Str. 12 – 10119 Berlin

*Tante M. natürlich nicht zu vergessen. Und ohne Cousin L. ist eine Familie eigentlich unvollständig. Oh – und Schwesterchen. Und mein kleiner Cousin. Und all die anderen.

Wunder der Wirtschaft

Bei mir in der Straße gab es zum Beispiel bis vor kurzem ein Geschäft, in dem man Papierstreifen und andere bedruckbare Gegenstände kaufen konnte, auf denen Buchstaben und Wörter angebracht waren. JONASSILKEANDI zum Beispiel oder so ähnlich, und das alles in roten Buchstaben, die ein wenig an Kartoffeldruck erinnerten. Ich habe nie jemanden in dem Laden gesehen, und inzwischen ist er weg.

Dass sich das nicht rechnet, hätte ich dem Betreiber gleich sagen können. Genauso verhält es sich meiner Ansicht nach mit Läden, die nur künstlerisch gestaltetes Geschenkpapier verkaufen und € 3,50 für einen Bogen haben wollen. Auch Internetversandhäuser, die nur sehr wenige, aber dafür sehr originelle Produkte anbieten, rechnen sich wahrscheinlich nicht, es sei denn, es hat irgendwas mit geschlechtlichen Vorgängen zu tun, denn Geschäfte mit dieser Sphäre menschlichen Lebens lohnen sich anscheinend immer, denn sogar der Versand von SPAM muss sich ja irgendwie lohnen, sonst hätten die Spammer längst aufgehört damit, und – by the way – schon oft habe ich mich gefragt, wer das eigentlich macht.

Sitzt, so grübelt man bisweilen, tatsächlich irgendwo eine Ms Delora Graham und schickt Mails in alle Welt, damit Leute V*iagra und Valium kaufen? Gibt es Herrn Dob Curry, und irgendwelche Leute, die ihm Geld überweisen, damit er es für sie gewinnbringend anlegt? Wer verbirgt sich hinter Maximilian Murphy, und wer will ausgerechnet von ihm ein Microsoft-Product für wirklich ziemlich wenig Geld erwerben? Und was passiert, wenn man tatsächlich Geld zu einem dieser Menschen überweist? Verschwindet Mr Murphy in das bodenlose Nichts der Kundenkommunikation und verjubelt das Geld bei Mc Donalds? Oder kommt eines Tages tatsächlich ein Päckchen aus Übersee, das die männerstärkenden Tabletten, die billigen, aber originalverpackten Programme oder ein Aktenpaket enthält? Und wer um alles in der Welt ist Benni, und was für ein Diplom erhält derjenige, der mit ihm einen Vertrag abschließt und diesen erfüllt?

Und wenn sich so etwas lohnt – warum ist der Laden mit dem kreativen Kartoffeldruck eingegangen?

Die Schneeballschlacht

„Aua!“, rufe ich aus, mehr wegen der Überraschung, als weil es wehtäte, und schaue mich nach dem Urheber des Schneeballs um. „Frau Arboretum!“, winke ich und wische mir den Schnee von der Wange. „Ihnen auch ein frohes neues Jahr!“, rufe ich der geschätzten Nachbarin in Klein Bloggersdorf zu und wünsche noch allerlei Gutes für 2007, weiterhin gute Besserung, Glück bezüglich Geld wie Liebe, und bücke mich, um meinerseits drei Handvoll Schnee zusammenzusammeln.

Der erste Schneeball fliegt zum großen Don, weil es in Bayern bekanntlich den besten Schnee gibt. Den zweiten Ball bekommt die kluge und tüchtige Frau Fragmente, die sich mehr in Berlin sehen lassen sollte. Und den dritten Ball werfe ich Frau Engl an den Kopf und drücke einen kleinen Glücksbringer in die Mitte, damit auch in Neukölln der Schnee weißer und die Sonne wärmer wird, und das Glück das ganze Jahr bei Frau Engl auf dem Sofa sitzt und es sich gut gehen lässt.

Ans Meer

Die ganze Luft war voller Asche. Die Asche hing in unseren Kleidern, in den künstlichen Wimpern meiner Freundin N., und die Möbel der Bar schienen getränkt mit einem Öl aus verschüttetem Sekt, Puder und Mayonnaise.

Wir waren tanzen gewesen. Genauer gesagt hatte die N. getanzt, und ich hatte am Rande der Tanzfläche auf einem Barhocker gesessen und mit dem G. über die Mädchen gesprochen, die tanzten und sich gegenseitig absichtlich anrempelten und laut lachten. Irgendwann war der G. gegangen, und die N. tanzte weiter, bis das Licht anging. Bis der erste Bus nach Hause fuhr, saßen wir in der Bar gegenüber an der Theke und rauchten. Die N. rauchte ganz lange, schmale Zigaretten, wie sie in diesem Jahr modern waren, und schon im nächsten absolut unmöglich, und als sich zwei Fremde dazustellten, klopfte die N. beide auf den Bauch und sagte irgend etwas, was bei ihr grandios, und bei mir lächerlich geklungen hätte. Irgendwann verschwand sie mit dem Hübscheren der beiden, einen Spaziergang machen, und ich blieb an der Theke sitzen. Der weniger Hübsche rauchte und schwieg, trank Bier, bestellte mir einen Sekt nach dem anderen, und dachte wahrscheinlich an die N., und die Ungerechtigkeit, dass sein Freund mit der lustigen, lachenden N. spazieren gehen durfte, und er mir gegenübersaß, die stundenlang vergeblich versuchte, witziger zu erscheinen, als es der Wirklichkeit entsprach.

„Wann warst du das letzte Mal am Meer?“, fragte er irgendwann, und ich sprach von den Osterferien. Dänemark. Mit Eltern, Schwester und Hund. „Schön am Meer.“, sagte er und schwieg ein paar Minuten. – In sechs Stunden, versprach er nach dem Ende der Pause, könnte man am Meer sein, und in acht Stunden den Sonnenuntergang beobachten, und morgen zurück. „Ist gut.“, sagte ich und rauchte weiter. Mit zwanzig Pfennig in der Tasche rief ich daheim an und gelobte dem Anrufbeantworter Rückkehr am nächsten Abend.

Das Auto des Fremden war klein und alt. „Kannst du überhaupt fahren?“, fragte ich, und er lachte und zuckte die Schultern. Klar. Mit meinem Rucksack auf der Hinterbank fuhren wir los, immer weiter nach Norden. Über der Autobahn ging die Sonne auf und verfärbte die ganze Welt in ein Meer von sanftem, verschwimmendem Rokoko. Unter einem Himmel aus zarten, durchscheinenden Rosa und einem bläulich verwestem Orange fuhren wir dem Meer zu, und die anderen großen und schnellen Autos rasten rechts an uns vorbei. Mit halbgeschlossenen Augen lag ich auf dem Beifahrersitz, rauchte, und hörte dem Fremden mit halbem Ohr zu, wie er von seinem Studium erzählte. Die Uni, so schien es, warf ihm lauter unverdiente Knüppel zwischen die Beine. „Alles nicht so einfach, was?“, fragte ich ab und zu, oder so ähnlich, und er schüttelte den Kopf und erzählte weiter.

Am Nachmittag waren wir da. 2,50 Kurtaxe musste man bezahlen, dann durfte man an den Strand, wo es kühl war und nach Schlick roch, nach Salz und staubigem Sand. Mit dem Kopf auf meiner Jeansjacke schlief ich ein, er rauchte, und irgendwann weckte er mich und wir fuhren heim.

„Hier wohnst du?“, fragte er vor dem Haus meiner Eltern. „Ja.“, sagte ich und: „Tschüß.“, und wartete auf eine Verabredung, eine Telephonnummer oder irgend etwas anderes, aber nichts kam. „Danke.“, sagte er, und ich sagte etwas wie „Gern geschehen.“, und „Dir auch vielen Dank.“

Goldregen, Hörnerklang

„Ne, sonst nichts.“, sage ich und schenke nach: Ein bißchen weniger rauchen, viel weniger essen, und nicht immer entweder viel zu viel arbeiten oder gar nicht. Sonst nichts, behaupte ich und hebe das Glas auf all das, was nicht gesagt werden kann, weil es plump und billig klingen würde, und seinen Glanz verlöre, spräche man es aus, wie manche Insekten, wenn man sie anfasst.

Auf das Ungesagte also. Und mir und Ihnen allen ein gleißendes, strahlendes, jubelndes Jahr 2007, ein Jahr wie ein goldenes Füllhorn, zwölf Monate wie ein lachendes Sommernachtsfest, eine Achterbahn, ein Schrei vor lauter Lebenslust, und nichts zum Bedauern bis zur nächsten letzten Nacht des Jahres.

Die Winterswap-Apologie

In den nächsten Tagen wird irgend jemand von diesen Leuten eine ziemliche Enttäuschung erleben. „Wozu schickt man sowas anderen Leuten?“, wird dann als Fazit weiterer, insgesamt schon eher abschätzigen Bemerkungen über die von mir zusammengestellte CD in irgendeinem Blog stehen. Musik, die eh jeder hat, zu verschicken, um im Gegenzuge musikalischer Perlen teilhaftig zu werden, die man aus eigenem Antrieb nie gefunden hätte, sei mehr als dreist – es sei geschmacklos, wird der enttäuschte Empfänger befinden, möglicherweise vor lauter Enttäuschung sogar mit den Füßen auf meiner CD herumtrampeln und sich nie wieder an einer solchen Veranstaltung beteiligen, außer Jochen sucht vorher aus, wer mitmachen darf, und da bin ich dann sicher nicht dabei.

Außerdem bin ich zu spät. Das macht nichts, weil andere Leute auch nie pünktlich sind, so dass es sogar eine eigene Liste für Zuspätkommer gibt, aber spät und fade, wird der Empfänger befinden, sei ein bißchen viel, und mit einem gewissen Groll an seine Mordscompilation denken, die er liebevoll zusammengestellt hat, während andere Leute – beispielsweise ich – ihre CD am allerletzten noch fristgemäßen Abend aus den TOP 25 ihres itunes zusammengehauen haben, und dann nicht einmal Lust hatten, noch zum Briefkasten zu gehen.

„So eine Sauerei!“, wird der Empfänger urteilen, und damit natürlich recht haben, und deswegen, sehr geehrter Empfänger der von mir noch abzuschickenden CD, möchte ich mich bereits jetzt in aller Form bei Ihnen entschuldigen und nur am Rande ansprechen, dass das Schicksal selbst Ihnen anhand dieses unscheinbaren Vorfalls vor Augen führen möchte, dass es stets besser ist, Pflichten früher zu erledigen als später, denn dann wären Sie nicht auf dieselbe Nachrückerliste wie ich geraten, hätten folglich eine andere CD bekommen, und man weiß ja nie, wo Ihnen diese Lektion in Sachen Pünktlichkeit noch einmal zum Vorteil gereichen wird, und da nimmt man so eine lausige CD doch gern in Kauf.

Wie es ausgeht

Unschön an der Endlichkeit des Lebens ist ja nicht nur, meine Damen und Herren, der Vorgang an sich, obwohl auch die Auslöschung keine angenehme Vorstellung ist – dieser Schrecken, ins Bodenlose zu fallen, und all das, was man jemals gedacht, gesagt, geliebt oder getan hat, einfach weggewischt zu wissen wie man ein Galgenmännchen nach beendetem Spiel von der Tafel wischt, um es ganz und gar zu vergessen. Erschreckend auch die Vorstellung von Schmerzen, die so recht geeignet sein mögen, einem die Seele aus dem Leib zu treiben, und derart arg, dass man ganz zuletzt als ein schwitzendes, entmenschtes Stück Fleisch nach dem Ende schreien mag und bliebe einem auch nichts das schiere Nichts.

Benebst Schmerzen, Schrecken und Dunkelheit, der Einsamkeit auf die letzten Meter selbst in Anwesenheit jener Menschen, mit denen wir doch alles teilen, und immer beieinander bleiben wollten, ist es wohl von untergeordneter Relevanz, aber doch wohl ärgerlich, ab einem Tag, einer Stunde, einem bestimmten Moment nicht mehr zu erfahren, wie es weitergeht, nicht mit einem selbst, das ist ja vorbei, aber doch mit dem Rest der Welt und besonders mit jenen, die uns mehr angehen als andere.

Wann sich der hinterbliebene Witwer trösten mag, und mit wem wohl? Wird er die Neue mehr lieben als dich, wütender begehren, sehnsüchtiger erwarten? Wer wird deine Lieblingskette tragen, wer an deinem Schreibtisch sitzen? Wer wird weinen, und wer wird nur so tun? Wer, den du längst vergessen hättest, wäre dein Gedächtnis nicht besser, als dir lieb ist, wird einen trübsinnigen Abend verbringen, wenn er von der leeren Luft hört, die du bis gestern gefüllt hast, und es nun nicht mehr tust? Wer, über dessen Anruf du dich gefreut hättest, wird nur ein Schulterzucken übrig haben oder gar nicht mehr wissen, wer du bist? Wie ist das Essen bei der Beerdigung, wer wird nächstes Mal Kanzler, und wie hättest du ausgesehen mit 80?

Und hätte sich das Durchhalten gelohnt?

Der anthroposophische Weihnachtsbaum

Ein gewisses Misstrauen bringt man dem Wirken Rudolf Steiners vermutlich nicht ganz zu Unrecht entgegen, und nur der Erfolglosigkeit der Anthroposophie verdanken wir es, dass die Schriften Steiners nicht unermessliches Leid über die in dieser Hinsicht ja ohnehin recht gebeutelten Menschen Europas gebracht hat. Nichtsdestotrotz schicken Jahr für Jahr unzählige Menschen ihre Kinder in Waldorf-Schulen, nicht zuletzt, weil es sich um eine auch in linksliberalen Kreisen sozial akzeptierten Umgehung der öffentlichen Schulen handelt, welche es Zahnärzten und Dorfnotaren erspart, ihren Nachwuchs mit Leuten zur Schule zu schicken, die die Waldorfeltern Unterschicht nennen würden, wenn das in ihren Ohren nicht irgendwie komisch klingen würde.

Der Erfolg einer Waldorf-Kindertagesstätte im Prenzlauer Berg versteht sich daher eigentlich von selbst, und so erstaunt es unbeteiligte Nachbarn wie mich, dass ein Verein, der sich die Gründung einer solchen Institution auf die Fahnen geschrieben hat, überhaupt noch einer Förderung bedarf. Gleichwohl: Seit mehreren Jahren verkaufen Mitglieder dieses Vereins auf dem Grundstück, auf dem dermaleinst die Waldorf-Kita stehen soll, kurz vor Weihnachten Nordmann-Tannen zugunsten dieser vorschulischen Bildungseinrichtung.

Die Tannen sind ungespritzt, weil das chemische Behandeln von Pflanzen nicht Rudolf Steiners Billigung fand. Außerdem sind die Tannen ziemlich teuer, teurer jedenfalls als vergleichbare unanthroposophische Gewächse, und die diffuse Missbilligung der Anthroposophie im Verein mit dem Preisniveau der Weihnachtsbäume sprechen klar zugunsten eines anderen Baums, den der J. und ich uns ins Wohnzimmer stellen wollen, wie man das ja gemeinhin zu tun pflegt, wenn man, wie wir, Weihnachten nicht nach Hause fährt.

Auch der unanthroposophische Weihnachtsbaumkauf hat allerdings seine Tücken, denn Mitglieder des weihnachtsbaumverkaufenden Fördervereins sind unter anderem auch einige unsere Nachbarn, die alle, alle in den letzten drei Jahren zur Fortpflanzung geschritten sind, und das Haus seitdem mit unermesslich vielen, riesengroßen Kinderwagen, Kindergeschrei und beiläufigen Gesprächen über Mumps und frühkindliche Musikerziehung füllen. Die Verkaufsstätte der Bäume befindet sich nebenan.

Zu den Nachbarn pflegen wir ein freundliches bis sogar freundschaftliches Verhältnis. Die Bäume sind zu teuer und Rudolf Steiner hätten wir ungern zum Essen eingeladen. Zwei Seelen schlugen, ach, in unserer Brust, sofern es denn zulässig ist, von nur einer Brust zu sprechen, wenn zwei Gestalten am Küchentisch das Für und Wider des Kaufs erörtern.

Am Ende siegt der Opportunismus, der Wunsch nach friedlichem Einvernehmen mit den Nachbarn, der Wunsch, keine Gespräche über Waldorfpädagogik führen zu müssen, und auf unserem Balkon liegt nun, ordentlich eingewickelt in ein Netz, der Rudolf-Steiner-Gedenkbaum und wartet auf seinen Auftritt.

Die Vernachlässigung

„Dich verpetz‘ ich im Internet!“, rufe ich dem J. in den Flur hinterher. „Du bist zu alt für den Mist.“, macht der J. alles noch viel schlimmer. Traurig und leer stehen meine Stiefel vor dem Sofa.

„Ich habe schon Ostern keinen Goldhasen bekommen.“, starte ich eine Philippika größeren Ausmaßes. Den erwünschten Adventskalender von Lindt für Kinder habe ich auch nicht erhalten. Nicht einmal einen billigen, blöden Adventskalender für 2,99 von Lidl oder so hat der J. herangeschafft, zum Geburtstag gab es bloß ein einziges, ziemlich kleines Geschenk, und in Rom hat es nicht einmal für ein ganz, ganz mickeriges Souvenir gereicht.

„Du sollst keine Schokolade mehr haben!“, hält mir der J. vor. Ich würde, behauptet er, die Schokolade nämlich gar nicht, oder nur sehr teilweise essen, und statt dessen würde sich der J. gezwungen sehen, die mir übereigneten Süßigkeiten selber zu verzehren. Dies führe auf lange Sicht zur Verfettung, sei folglich zu vermeiden, und deswegen, so kündigt der J. an, solle ich Weihnachten diesmal auch keinen bunten Teller bekommen.

„Das veröffentliche ich!“, halte ich dem J. seine unfassbare Herzenskälte vor. Soll doch die Weltöffentlichkeit über die Grausamkeit entscheiden, mit der der ansonsten geschätzte Gefährte seine eigene Freundin behandelt. Soll amnesty international Unterschriftenaktionen zugunsten vernachlässigter Freundinnen starten, das Menschenrechtssekretariat der UN eine Delegation in unsere Prenzlberger Wohnung entsenden, und die Bundesregierung nach langem Hin und Her eine entschiedene, wenn auch vorsichtig-verständnisvolle Protestnote an den J. schicken des Inhalts, dass eine derart brutale Vernachlässigung der berechtigten Interessen seiner Freundin von der Bundesrepublik möglicherweise mit Sanktionen belegt werden würde, wenn er nicht damit aufhört.

Aber den J. lässt das kalt.

Die Irrfahrten der Frau M. und ihres Gefährten

An irgendeinem Punkt der Müdigkeit kippt die Benommenheit um, und macht einem überwachen, nervös geschärften Zustande Platz, in dem die Welt um mich herum einen gleichsam surrealen Charakter annimmt. Die Farben wirken trotz der schwachen Beleuchtung im Flugzeug satter und greller. Das Licht der Leselampe scheint einen fremdartigen, seitlichen Einfallswinkel anzunehmen, das an die Beleuchtung auf Gemälden de Chiricos erinnert. Ab und zu zupfe ich dem geschätzten Gefährten neben mir an den Locken. Der Gefährte schläft.

Immer wieder falle ich in einen leichten Schlaf, in dem sich die Bilder der letzten Tage und die längst vergangener Tage ineinanderschieben. Das gleißende Rom des Sommers 1993, aufgerissen wie eine überreife Tomate. Die Weite der Plätze dagegen in diesem November, die ausgeräumten Gesichter der Römer am Ende des Jahres, entleert und grau wie Rom selber, als habe der Winter der Stadt das Blut ausgesaugt. Der Winter ist ein harter Mann, singt der Schlaf mir vor. „Bitte anschnallen“, beendet ein Steward die Schlafgesänge, und langsam sinkt das Flugzeug ab. 21.00 Uhr in Berlin Schönefeld.

Mir dem Taxi will der J. nicht fahren, der Regionalexpress kommt erst in zwanzig Minuten, und die S 9 sofort. „Wieso steht hier nur Schöneweide?“, frage ich den J. und zeige auf das Schild auf dem Bahnsteig. Der J. weiß das aber auch nicht, und so steigen wir ein. „War doch schön in Rom, oder?“, frage ich den geschätzten Gefährten ein wenig ängstlich, und bin erleichtert, als er nickt.

Warum können die nicht alle schweigen, denke ich, als der Zug anfährt, und ein Mädchen laut telefoniert. Irgendwem hat sie nicht erzählt, dass sie nach Berlin fährt, der jetzt beleidigt ist. Jetzt verteidigt sie sich laut und engagiert. Warum legt sie nicht einfach auf, denke ich und schließe immer wieder für Sekunden die Augen. Müde bin ich. Schlafen will ich, das Licht ausmachen, erst die Ruhe und dann das Nichts. Mich loslassen und treiben.

Mit Schlafen aber ist es nichts. Schöneweide ist Endstation. Schienenersatzverkehr bis Baumschulenweg, und mit all den anderen Fahrgästen, die von der Peripherie nach Mitte fahren, verlassen wir die Station. Kalt ist es, kälter als in Rom, und außer den Reisenden mit ihren Koffern vom Flughafen haben sich die Waggons mit Jugendlichen gefüllt, die im Südosten der Stadt wohnen, und am Samstag abend dahin fahren wollen, wo etwas los ist. Da wohnen wir.

Keine schönen Menschen wohnen hier am Rande der Stadt. Jung sind sie alle, aber etwas fehlt, vielleicht die Elastizität, das Federnde des Jungseins. Unproportioniert wirken sie, irgendetwas an ihnen passt nicht zueinander, und bleich sehen sie aus, etwas grob dazu, mit allzu großen Händen und Füßen. Trotzig betonen sie ihre unschönen Gestalten mit greller, billiger Kleidung, weiße Jeans, glitzernde, synthetische Stoffe und vielfarbigem Make-Up. Die Mädchen trinken Mixgetränke aus der Flasche, die Jungen Bier, lachen und lärmen laut und ungeschlacht, und die Atmosphäre ist geladen mit Aggressivität. Ein falsches Wort, eine Geste, und einer der grölenden Jungen wird die Hand heben, denke ich. Mir ist nicht wohl.

Der Gefährte schweigt halb verschlafen, halb angewidert, und im übervollen Bus schauen wir ein wenig ängstlich um uns. Laut und zotig geht es her, und die Müdigkeit lässt die groben, billigen Gesten noch greller wirken. Wären wir schon da, daheim, und die Nacht still und dunkel, denke ich.

Der Bus spuckt seine lärmende, laute Fracht auf den Bahnhofsvorplatz. In Baumschulenweg gibt es nicht einmal Taxen. Betrunkene Frauen lachen in schrillem Diskant und stoßen ihre Flaschen gegeneinander. Es wird noch mehr gelacht, man erkennt sich, fällt sich um den Hals, und die kehligen, halb noch stimmbrüchigen Stimmen der Jungen sind kaum zu verstehen. „Die können ja nicht einmal mehr richtig sprechen.“, raune ich dem J. zu und drücke mich enger an den geschätzten Gefährten.

Auf dem Bahnsteig schwankt eine Gestalt im Kunstpelz herum, ein Mann mit tiefer, verbrauchter Stimme, geschminkt und mit ausgestopfter Bluse, wiegt sich in den Hüften, wie es nur Männer tun, die Frauen imitieren. Er wankt von Gruppe zu Gruppe. Einem Jungen hält er die falschen Brüste entgegen, spricht Unartikuliertes und drückt sich eng an den Wartendenden vorbei. Brueghel, denke ich. Oder Bosch, und weiche in weitem Bogen aus, wenn die wirre Gestalt sich nähert. Mitleid sollte man haben, ermahne ich mich, aber mein Mitleid ist müde, mein Mitgefühl mit dem armen Verwirrten reicht nur noch bis zu dem Wunsch, jemand möge ihn in ein Krankenhaus bringen, irgendwo anders hin jedenfalls, und für Mitleid mit den derben, lärmigen Jugendlichen sind jene zu laut. Schweigt, denke ich. Oder bleibt einfach zu Hause.

In der endlich eingefahrenen S 9 hat jemand einen Stock vergessen. Es handelt sich um einen langen, baseballschlägerartigen Stock, der einfach so vor unserem Sitz liegt. „Was macht man mit so einem Stock?“, frage ich den J. „Sich prügeln.“, antwortet der und berührt den Stock angeekelt mit den Fußspitzen.

Ab Treptower Park wird es besser. Die betrunkenen Krokodilsgesichter werden weniger, die Stimmen leiser, und die Anspannung sinkt. Langsam kriecht die Müdigkeit wieder näher.

„Ich muss noch was essen.“, sagt der J., und spät, schwankend vor Schlaf, bedeckt von den grellen, groben Fetzen der Fahrt sitzen wir uns gegenüber. „Was darf ich euch bringen?“, sagt der Kellner, und von draußen drückt meine Müdigkeit dämonische, fratzenhafte Gesichter an die Fensterscheiben des Lokals.

„Fast zu Hause.“, lächelt der J. mir zu.