Ist alles eins
Was liegt daran,
Der hat sein Glück,
Gar seinen Wahn.
Was liegt daran!
Ist Alles eins,
Der hat ein Glück!
Und ich fand keins.
Arnold Schönberg Op. 45,
Text von Jakob Haringer
Ob das jetzt alles war, überlegt es in dir, nachts um halb drei, während ein Stockwerk tiefer das Kind schreit und du nicht schlafen kannst. Ob in den vierzig, fünfzig oder mehr Jahren, die noch vor dir liegen, noch etwas kommt, auf das es sich zu warten lohnt. Ob hinter dem Wellenkamm der nächsten Woche, hinter dem Schaum vom nächsten Jahr noch einmal etwas Neues sitzt und sich die Haare kämmt beim Warten auf dich. Ob noch einmal eine neue Stadt über dir zusammenschlägt wie ein Meer aus Glas und Steinen, und dich an ihre Mauern wirft, und dich verschlingt, um dich neu zu gebären. Ob du noch einmal geliebt werden wirst, wie ich es mir nicht vorstellen kann bei alten Leuten: Ob noch einmal jemand sich kopf- und bedenkenlos ausliefern mag an dich, ob du noch einmal deinen Herzschlag an ein fremdes Gesicht heften wirst, und ob du dich noch einmal heimgekommen in eine fremde, blutige Haut hüllen wirst.
Vielleicht ist es aber auch so vorbei, wie bei vielen Leuten, die du kennst. Vielleicht ist alles, was da noch an Neuem kommt, nur die Wiederholung im Spätprogramm. Vielleicht ist das da draußen jetzt die letzte Runde, und wir alle tot, so tot wie die weißen, verwesten Frauen mit den Dauerwellen morgens in der Bahn. Vielleicht sind wir nur das schönere Elend. Vielleicht liegt alles, was für dich bestimmt war, bereits hinter dir, und wenn du daran denkst, nachts, wenn das Kind schreit, und du nicht schlafen kannst:
Dann war es nicht viel. Dann war es nicht genug, und kein Trost, dass es genug vielleicht gar nicht hätte sein können, so wie du bist, nachts um halb drei, und manchmal auch tagsüber.
Den Kapitalismus, dem ich ja bereits viele schöne Stunden verdanke, habe ich mir ja immer als eine Frau vorgestellt. Eine schon leicht abgetakelte Diva, grell geschminkt, künstliche Fingernägel, und so ein irre vollgestopftes Boudoir, in dem sie ihre Liebhaber empfängt. Die Liebhaber in dunklen Anzügen sitzen dann auf den Plüschsofas herum, halb angewidert, halb fasziniert, und die alte Diva verspricht ihnen alles Mögliche, lügt, dass sich die Balken biegen, und wenn sie von einem der Anzugmänner genug hat, schmeißt sie ihn halt wieder raus. Da sitzt er dann vor der Tür, leicht lädiert, bankrott bis zu den Ohren, schnieft ein bißchen, und kommt vielleicht eines Tages wieder.
Wie das halt so ist, reden natürlich alle möglichen Leute schlecht über die schrille Dame, besonders Professoren und so, und weisen ihr alle möglichen Vergehen nach. Tatsächlich hat sie natürlich die eine oder andere Leiche im Keller. Außerdem ist sie launisch, wahnsinnig ungerecht, hat eingewachsene Fußnägel, und zu welchen Leuten sie nett ist, verstehen nicht einmal ihre besten Freunde. Warum, fassen sich regelmäßig ernsthafte Denker seriöser Wirtschaftsfakultäten angesichts ihrer jeweiligen Liebhaber an den Kopf, ausgerechnet der?
Tatsächlich belohnt die alte Dame mit ihrer Hingabe so gut wie nie die scheuen Rehe, sehr selten die klugen, aber unfrisierten Köpfe. Nahezu niemals schäkert sie mit den Feuerköpfen mit Brillen auf der Nase, und wen schon die Musen küssen, den zieht Madame Marktwirtschaft schon aus Prinzip nicht auf ihr Lotterlager.
Ein bißchen Mühe müsse man sich schon geben, erwidert sie gern ein wenig pikiert, wenn man sie fragt, warum sie eigentlich den Maler X habe fast verhungern lassen, und den Autor Y gezwungen habe, sein Geld als Briefträger zu verdienen. Madame, so sagt man in gewöhnlich wohlunterrichteten Kreisen, lasse sich ja gern ein wenig umwerben, und Werbung sei es, die auf Seiten der Kunst meistens fehle, denn allzu stolz sind die Dichter, und vielleicht gefällt ihnen Madame auch schlicht nicht genug.
Werben Sie also, liebe Künstler, um den kommerziellen Erfolg. Bemühen Sie sich um die alternde Diva mit dem hängenden Hals und den Klauenfingern. Schmeicheln Sie ihr. Bringen Sie ihr Geschenke. Und wenn Sie keine Lust dazu haben, dann beauftragen Sie andere mit dieser Werbung, denn es kann ja nicht angehen, das immer nur die anderen, und nie Sie die Gunst der goldenen Schabracke genießen.
Und um einmal mit gutem Beispiel voranzugehen: Bestellen Sie also noch heute den sehr wohlgestalteten EXOT 4, der lauter unterhaltsame und komische Texte enthält (und einen von mir, der ist aber nicht komisch) und machen Sie außerdem beim fabelhaften Paulus-Projekt mit. Danke.
Das Fleisch, schrieb der große Frank Wedekind einmal, habe seinen eigenen Geist, und so überraschend dieser Satz angesichts der abendländischen Dichotomie von Leib und Seele auf den ersten Blick erscheinen mag, so banal mutet diese Wahrheit auf den zweiten Blick an, denn – wenn wir einmal ehrlich sind – was auf Erden hätte diesen ganz eigenen Geist nicht? Und was zwischen Himmel und Erde, Hades und Elysium, Kreißsaal und Schlachthof können wir noch wirklich als vollkommen unbelebte, seelenlose Materie betrachten, wenn doch sogar mein Telephon, mein neues Mobiltelephon nämlich, über eine Seele verfügt, eine schüchterne, veilchenhafte Psyche, die ihre Geheimnisse nur dem vertrauten Kenner seines Innenlebens offenbart, nicht jedoch, oh mein geschätzter Leser, einer Banausin wie mir, von deren unkundigen Blick sich das Telephon gleichgültig, verletzt und scheu abwendet.
Dicker als das Bürgerliche Gesetzbuch ist das mir mitgelieferte Handbuch zum Telephon. Geheimnisvoll und undurchdringlich ist es wie die Offenbarung des Johannes, unleserlich wie die Knotenschrift irgendwelcher amerikanischer Ureinwohner, deren Namen ich leider vergessen habe, und so weist auch das Handbuch mich streng von der Schwelle der Erkenntnis. „Dieser Eingang ist nur für mich bestimmt.“, versuche ich den Türhüter in Handbuchgestalt zu überreden, aber dieser schüttelt nur kurz, aber verneinend den Kopf. Auch das Internet gibt mir keine vernünftige Antwort, wenn ich Google frage:
Wie kommt man mit einem O2 Xda über WLan ins Internet?
1982. Erster Schultag. Neben dem Rektor stehen die Lehrerinnen und warten auf ihre Klassen, und ich kneife die Augen ein wenig zusammen, um ihre Gesichter zu sehen. Der Dicke schaut nett aus, denke ich, von ganz weit hinten in der Aula. Die Blonde daneben lächelt gutmütig und knetet ein bißchen verlegen die Hände. Sympathisch finde ich das, denn auch ich bin mächtig verlegen, meine Sarah-Kay-Schultüte im Arm, mit langen Zöpfen, und die ganzen anderen Kinder vor, hinter und neben mir, die ich mir selbstbewusst vorstelle, klug und fleißig und mir haushoch überlegen.
Als aber die Namen aufgerufen werden, komme ich weder zum netten Dicken noch zur verlegenen Blonden, sondern zu Frau S. Frau S. gefällt mir nicht. Ein strichdünner Mund, harte Falten die rechts und links der Nase gezirkelt scharf zum Kinn führen, und ein magerer Hals, aus dem die Knochen herausstehen. Alles an Frau S. ist hart und spitz, denke ich, und verkrieche mich nach hinten.
Vor uns stehen Schilder mit Namen, und jeder soll etwas sagen. Wie viele Geschwister er hat beispielsweise, wo er wohnt, und was der Vater macht, wenn er ins Büro geht. „Telefonieren!“, sage ich, und die anderen Kinder lachen. – So klug sind sie auch nicht, wie ich gefürchtet hatte, denn als ich stolz erzähle, dass ich schon lesen kann, erhält Frau S. auf ihre Frage, wer denn sonst schon der Schule ins Handwerk gepfuscht habe, nur eine weitere Antwort, die nicht „nein“ lautet.
„Das haben wir hier nicht so gern.“, sagt Frau S. zu mir, und ich nicke beschämt. Auch Schreiben hätte ich daheim bestimmt ganz falsch gelernt, nicht nach der Ganzwort-Methode nämlich, wie Frau S. beim ersten Elternabend meine Eltern zurechtweist, und deswegen werde ich später kein ganzheitliches Verhältnis zu Texten erwerben. Außerdem male ich die Buchstaben falsch, die schön geschwungenen Bögen unter dem „f“ sind zu kurz und zu gerade, der Wasserhahn links am „u“ fehlt, und überhaupt mache ich alles falsch, bin viel zu vorlaut und lasse die anderen Kinder nicht zu Wort kommen.
Modeste hat Probleme, sich einzufügen, steht in meinem ersten Zeugnis.
Ein ganzes Jahr lernen die anderen Kinder die Buchstaben. Ich träume aus dem Fenster, denke mir Geschichten aus, in denen die Katze des Hausmeisters, die langen, goldenen Zöpfe der K. neben mir, und der Keller der Schule eine große Rolle spielen, in dem man sich verlaufen kann, wie ein Großer aus der dritten Klasse versichert. Mir ist langweilig. Aus lauter Langeweile steche ich die beliebte, hübsche K. mit meinem Lineal in die Rippen, sie quiekt, und Frau S. schickt mich auf den Flur. Da stehe ich ganz allein, noch zehn Minuten bis zur Pause, und wische mir die Tränen von den Wangen. Die Schule hatte ich mir anders vorgestellt.
Wegen des Lineals und auch sonst will die K. nicht mehr neben mir sitzen, und Frau S. findet es ohnehin besser, wenn ich direkt vorne sitze, genau vor ihr, damit ich nichts mehr anstellen kann. So sitze ich also am äußeren Ende des „U“, direkt neben M., der immer ein bißchen schlecht riecht.
Am Morgen bin ich immer schlechter aus dem Bett zu bekommen, zur Schule gehe ich immer ein bißchen ungern, außer, wenn in der ersten Stunde Sport ist oder Kunst, denn diese Fächer unterrichtet die nette Frau D., die meine Bilder und meine Übungen am Reck großartig findet die mich vorturnen lässt und meine Bilder allen Kindern zeigt. Das kostet mich die wohl letzten Sympathien.
Von den anderen Kindern bin ich enttäuscht. Nur mit C. und M. bin ich befreundet, jeden Nachmittag treffen wir uns, streicheln die Pferde auf der Koppel, verkaufen Lose an Nachbarn, erzählen uns erfundene Geschichten und versichern, sie seien wahr. Als ich Geburtstag feiern soll, lade ich nur C. und M. ein.
„Hast du sonst keine Freunde?“, fragt meine Mutter ein wenig enttäuscht, und ich verneine. K. sei doch nett, ermahnt mich meine Mutter, die Tochter unseres Augenarztes, oder L., die nur ein paar Häuser entfernt wohnt, und schon seit zwei Jahren Geige spielt. Ich mag K. und L. nicht, lade sie trotzdem ein, und gleichfalls voller Abneigung erscheinen sie mit Geschenken, die ihre Mütter gekauft haben, die wiederum mit meiner Mutter auf der Terrasse sitzen und Kuchen essen.
K. und L., bin ich mir sicher, hätte meine Mutter lieber als Kind, auch wenn sie das Gegenteil versichert. Ich kann nicht Maß halten, erkenne ich. Ich bin zu laut, zu nachlässig, zu unpünktlich und zu verträumt. Gut in der Schule bin ich, gut werde ich sein bis ich 13 bin und keine Lust mehr habe, dass meine Arbeiten vor der Klasse vorgelesen werden, und Kinder abwehrend über mich kichern, mit denen ich befreundet sein will. Ein gutes Zeugnis bekomme ich deswegen am Ende der ersten Klasse, das Frau S. nicht gern geschrieben haben wird und mir verkniffen überreicht, und ich ahne, dass es nicht einfach sein wird, egal was, und dass das Leben schöner wäre, wäre ich jemand anders.
Sie, sofern es sich bei Ihnen um einen männlichen Leser handelt, stellen sich sicherlich alles Mögliche vor, was Frauen anhaben, wenn sie Ihnen gefallen. Jeans zum Beispiel. Oder Kleider. Röcke, Stiefel, breite Gürtel und schmale Träger, glitzernde Täschchen oder T-Shirts mit und ohne Aufschriften drauf. An Hosenanzüge aber denken Sie nicht. Eine Frau, denken Sie, sollte weiblich ausschauen, Diva oder Mädchen, aber eine Frau im Hosenanzug ist nicht als Frau unterwegs, sondern eher als so eine Art Arbeitsbiene, ein Geschöpf, welches nicht zum Küssen, sondern zum Arbeiten gemacht ist, und deswegen konsequent übersehen wird.
Sie aber, sofern Sie eine Frau sind: Sie finden das ungerecht. Sie steigen morgens in einen Hosenanzug, schwarz, so neutral, wie ein Hosenanzug eben ausschaut, und versinken in einem Loch der Unsichtbarkeit. Wie ein kleines Arbeitspferd fühlen Sie sich, wie eins dieser falbfarbenen, robusten Pferdchen, mit denen man weit über Land und vielleicht sogar in den Krieg ziehen kann, und denen man allenfalls einmal die Seiten tätschelt. Nie spricht man von den Arbeitspferden, nie schaut man die Frau im Hosenanzug an, und abends, wenn Sie sich umziehen könnten, um wieder sichtbar zu werden, dann arbeiten Sie immer noch. Danach gehen Sie schlafen.
Im Traum aber stellen Sie sich vor, einmal wieder ein Kleid anzuhaben, zu leuchten und zu lachen, eine Frau zu sein, die sich irgendjemand vorstellt, wenn er allein in der U-Bahn sitzt. Eine Frau, die so sichtbar ist, wie eine Frau überhaupt sein kann, und fürchten doch, wenn Sie erwachen, dass eines nahen Tages der Hosenanzug festgewachsen sein wird an Ihnen, unausziehbar, und Sie selbst dann wie eine Ganzkörpertarnkappe bedeckt, wenn sie einen Rock anhaben, ein kurzes Kleid, oder sogar nichts.
Zur langen Liste von Sachen, Leuten oder Meinungen, die ich doof finde, gehört ja eigentlich auch Individualurlaub: Leute, die denken, sie seien so besonders, dass ihnen andere Leute, die irgendwo hinfahren, einfach unzumutbar wären. Solche Leute finden regelmäßig, dass ihr persönliches Erleben der Akropolis so verschieden sei von dem, was alle anderen Leute sehen, wenn sie nach Athen fahren, dass sie allen anderen Reisenden am liebsten die Berechtigung absprechen würden, die deutschen Grenzen zu überschreiten, und die sich heimgekehrt stolz brüsten, nur mit Einheimischen gesprochen zu haben, und bei der Erwähnung anderer deutscher Touristen genervt die Augen verdrehen.
Weil die Einheimischen aber gar keine Lust haben, deutsche Individualreisende in ihrer Mitte aufzunehmen, und die deutschen Individualreisenden auch eigentlich gar keine Lust haben, sich die ganze Zeit mit Leuten zu unterhalten, die sich für die Ziegenzucht viel mehr interessieren als für irgendwelche dahergelaufenen Deutschen in Flip-Flops und Wickelröcken, sitzen die Individualreisenden, wie man weiß, am Ende doch alle miteinander in irgendwelchen Internetcafés oder Hostels, in denen man für € 5,– ein Etagenbett in einem Schlafsaal beschlafen kann. Mit Bussen, in denen außer den Individualreisenden lauter arme Bauern ihre Hühner transportieren, fahren die stolzen Reisenden in Dörfer, die so unterhaltsam sind wie Grafenschachen oder Krummhörn, nur eben woanders, um fremde Leute mit ihrem Interesse zu belästigen, fremden Menschen durch die Fenster zu schauen, und zu jubeln, wenn da alles anders ist, als zu Hause.
Theoretisch ist Pauschalurlaub deswegen eine feine Sache. Man stört die Einheimischen nicht bei ihren alltäglichen Verrichtungen, man biedert sich nicht an bei fremden Kulturkreisen, die ich in aller Regel ohnehin weniger interessant finde als den Kulturkreis Berlin, der mir zumindest meistens völlig reicht, und man gibt ein bißchen Geld aus, mit dem die Leute vor Ort sich Kraftfahrzeuge kaufen können oder ipods oder sonst irgendetwas, was Leute woanders genauso gern hätten wie Leute hier. Praktisch allerdings sind der geschätzte Gefährte und ich irgendwann als Studenten, als es uns in Deutschland einfach zu kalt war, in ein Hotel auf Djerba gefahren, wo man Golf spielen und Nichtstun konnte, und würden dieses Erlebnis alles in allem ungern wiederholen. Außer uns waren alle fünfzig, weil wir Hotels mit Animation aus grundsätzlichen Erwägungen ausgeschlossen hatten, und die an sich ansprechenden Buffets waren offensichtlich geeignet, die schlechtesten Instinkte der anderen Reisenden zu wecken, die sich unglaubliche Mengen von Schalentieren auf ihre Teller luden, als hätten sie noch nicht Gambas gesehen, und einige Tage nach unserer Ankunft setzt sich ein Mann mittleren Alters an den Pool und begann, mit einem Hornhauthobel an seinen Füßen herumzureiben. Um den Pool herum entstand eine gewisse Unruhe. Verstörte Touristen kniffen sich gegenseitig in die Arme, um den Realitätsgehalt des Gesehenen zu verifizieren. Ein Gemurmel entstand, und schließlich stand ein anderer Mann auf und ging zu dem Hornhauthobler, der wild und trotzig fortfuhr, seine Füße zu traktieren. Den Pool nutzten wir nicht mehr.
Statt dessen einfach so wegfahren, ein Hotel irgendwo, möglichst angenehm verrottet ohne Geschäftsreisende mit ihren Reisetrolleys, vielleicht Helsinki oder Sofia, Inbegriffe der Abwesenheit mit ein bißchen Spazierengehen und ziellose Gesprächen – alles schön, aber nicht im November in Europa, wenn auch bekannt angenehme Städte aussehen wie Herne in der großen Depression. Weit wegfahren wäre toll, aber der geschätzte Gefährte ist gerade recht ortsfest, und über andere Reisebegleiter verfüge ich nicht.
Aber vom 28.11. bis 07.12. will ich weg. Wer mir sagt, wohin, bekommt eine Karte.
Eltern von Freunden waren ja schon als Kind eine spannende Sache – dass die Mutter der K. überhaupt nichts dabei fand, ihre Kinder Cola und Milchschnitten essen zu lassen, ohne dass die davon irgendwelche sichtbaren Schäden davontrugen etwa. Dass die Eltern des T. zu Hause mit derselben ausgesuchten, etwas distanzierten Höflichkeit miteinander umgingen wie auswärts, und nicht – wie bei mir zu Hause – alle durcheinander redeten und zwar ausschließlich über Dinge, die möglichst jedes anwesende Familienmitglied anders sah.
Nach dem Auszug von zu Hause entschwanden anderer Leute Eltern dem eigenen Gesichtskreis. Dass der einen Mutter ganz schön anstrengend sein kann, dass der anderen Vater ein schrecklicher Schürzenjäger ist, der sich gleichwohl niemals scheiden lassen wird: Man hörte davon, man sah die anderen Eltern nie, und wenn doch, so beschränkte sich dies auf kurze Stippvisiten in der Universitätsstadt, höchstens eine Tasse Tee in einem Café, wo man sich artig unterhielt, um einen guten Eindruck zu machen.
Andere Verwandte dagegen sieht und sah man nahezu nie. Die Tante, unter der liebe Freunde liebevoll stöhnen, die legendäre Tante des R. tauchten niemals auf, lebten allein durch Erzählungen, und unklar blieb teilweise sogar, ob die Tante oder Oma des Erzählers zum Zeitpunkt der Wiedergabe irgendwelcher Anekdoten noch unter den Lebenden weilte.
Mit der Zeit lernte man zu unterscheiden: Die Tante des R. bietet wenig Grund zur Unterhaltung, die erwähnte anstrengende Mutter ist eine derjenigen Geißeln ihrer Nachkommenschaft, die man doch nicht umhinkommt, zu bemitleiden und recht sympathisch zu finden in ihrer Enttäuschung durch ein Leben, das ihren Vorstellungen wohl unverschuldet so wenig entsprochen haben mag, wie es den eigenen Wünschen entsprechen würde, wäre man gezwungen, es zu führen. Besonders gern, begierig geradezu, wartet indes ein inzwischen größerer Kreis von Menschen auf Geschichten aus dem Familienleben der I., bevorzugt solchen, in deren Mittelpunkt der Vater der I. steht, der bekannt ist für ein unkonventionelles Verhältnis zur Essbarkeit von Tieren, ungewöhnliche Ideen zur Aquise von Lebensmitteln und ganz generell für ein Verhältnis zu den Dingen der äußeren Welt, das von den meisten anderen Leuten nicht geteilt wird.
Doch wir alle werden älter. Auch der Vater der I. altert zusehends, die Flexibilität weicht der Hartnäckigkeit liebgewonner Gewohnheiten, und so hat der Vater der I. sich seit Jahren angewöhnt, jeden Freitag einen Döner zu verspeisen. Einen „Döner mit Alles“ wie der Berliner Dönerverkäufer zu sagen pflegt. Freitag ist Dönertag.
Auch eine weitere Erscheinung des Alters macht nicht Halt vor dem Vater der I., die Haare werden schütter, der Bauch rundet sich, und die Zähne hören auf, so fest verankert im Zahnfleisch zu sitzen, wie dies in der Vergangenheit der Fall war. Eines Tages brauchte der Vater also Stiftzähne. Zwei Stück: einen vorne rechts und einen weiteren genau daneben.
Es liegt indes in der Natur des Stiftzahnes, nicht einfach ins Fleisch gerammt zu werden und dann eine ebenso große Standfestigkeit zu entfalten, wie dies bei den eigenen Zähnen der Fall war, damals, als die Zähne noch fest saßen. Ganz im Gegenteil muss der Stiftzahnbesitzer einige Wochen abwarten, bis der Stiftzahn eingewachsen ist, und während dieser Zeit kann feste Nahrung eigentlich nicht verzehrt werden. So aß also der Vater der I. tagelang fein zerkleinerten Brei. Reibungslos verliefen so Dienstag, Mittwoch und Donnerstag. Dann aber ging die Sonne auf, es war Freitag, es war Dönertag, aber an den gewohnten Verzehr eines Döners war nicht zu denken, denn einen Döner ohne Vorderzähne zu essen ist, wie man weiß, nicht gut möglich, und so konnte der Vater den Döner zwar kaufen, essen konnte er ihn jedoch nicht, und so kam er, zwar gealtert, doch offenbar unverändert, auf eine seinem früheren Einfallsreichtum würdige Idee. Konnte der Döner also nicht ganz gegessen werden, so musste man ihn eben fein zerkleinern.
„Er hat den Döner püriert!“, prustet also seine Tochter auf meinem Sofa. „Püriert? Ganz? Mit Zwiebeln und Salat?“, schallt es zurück.- „Naja,“, relativiert die I. ihre frühere Aussage. Das Dönerbrot habe er ganz gelassen und lediglich in Milch eingeweicht.
„Igitt.“, stöhnt der geschätzte Gefährte, und die C. macht Geräusche, die sich anhören, als würde jemand gleich ersticken. „Das ist ja widerlich.“, sage ich, und die I. nickt.
Mit großer Freude, mit ungleich größerer Freude als zu sonstigen Verehelichungen sehen wir alle vor diesem Hintergrund der Heirat der I. entgegen, die nächstes Jahr im Mai ihren geschätzten Gefährten heiraten wird, und der Vater der I. wird, wie es sich gehört, eine Rede halten.
Man wird ihm genau zuhören, und ihn noch genauer betrachten.
In Zeitungen gibt es das ja manchmal, so eine Rubrik „vor fünfzig Jahren“ oder so, und da kann man dann lesen, dass heute vor fünfzig Jahren die neue Sparkasse in Klein Hoppelhausen eingeweiht wurde, und der Bürgermeister anwesend war, und der Ortsvorsteher auch. Auf der Bundesstraße wurde ein Schwein überfahren, in Groß Hoppelhausen ist ein Holzlager abgebrannt, und die Polizei ermittelt wegen Brandstiftung.
In Klein Bloggersdorf gib es das natürlich nicht, denn vor fünfzig Jahren war da, wo heute Klein Bloggersdorf steht, das schiere Nichts, und doch wünsche ich mir ab und zu einen kleinen Rückblick, so ein „heute vor einem Jahr“ als kleinen Link auf der Seitenleiste.
Irgendwie, denke ich mir, muss das doch technisch einzurichten sein. Leider habe ich keine Ahnung, wie das geht, wenn das geht, und wer mir sagt, wie man das macht, kann sich diesmal nicht nur meine ewige Dankbarkeit verdienen, sondern eine kleine Überraschung, die ich ihm zusenden würde, wenn er mir seine Adresse an die rechts angegebene E-Mail schickt.
Hah! Schon erledigt! Einen herzlichen Dank an den freundlichen Menschen, der mir das Dings geschrieben hat, und ebenfalls besten Dank an diejenigen, die ihre Bereitschaft ausgedrückt haben, mir zu helfen.
Hübsch ist das Mädchen nicht, an das ich mich erinnern kann, noch besonders anziehend. Ziemlich schnell in allem, was sie tut, fast ein wenig fahrig, nicht sehr gefällig, nicht besonders freundlich, auch nicht von der Offenheit, die meine Freundin N. anderen angenehm machte. Nicht so schön, nicht so glänzend wie die N. natürlich, der nachgeschaut wird schon mit 14. Mit kurzen, schwarzen Haaren auf dem Kopf laufe ich durch den Mittelstufentrakt der Schule, einer dicken Brille auf der Nase und bunten Sweatshirts an, die mir nicht stehen, weil sie viel zu weit sind, aber ich dachte, ich sei dick.
In der Pause stehe ichauf dem Raucherschulhof, ziehe an meinen ersten Zigaretten, Dunhill Methol, warum auch immer, und kaufe mir manchmal, wenn ich nach der Schule allein zu Hause bin, eine Tüte Erdnußflips und gehe mit einem ganzen Stapel Bücher zu Bett. Ich lese den ganzen Tag, manchmal die Nacht dazu, und schlafe ab und zu in der Schule ein, aber das ist mir egal. Schlecht in der Schule zu sein ist das einzige, was ich an mir cool finde, lässig, so lässig wie die N., die nur zu lächeln braucht, nein, nicht einmal zu lächeln, einfach nur da zu sein, damit Menschen sie mögen, aber statt der N. dankbar zu sein, dass sie mir Einladungen verschafft, die ich sonst niemals hätte, missgönne ich ihr die Aufmerksamkeit, die Gabe, geliebt zu werden, die Briefchen, die Anfragen, und die mühelose Kontaktaufnahme, die mir schwer fällt, so schwer, dass die wenigen Versuche, denen näher zu kommen, die ich verehre, so anstrengend werden für alle Beteiligten, dass sie schleunigst wieder eingestellt werden. Es wäre auch nicht viel dabei herausgekommen.
Der G. zum Beispiel, mit dem ich ab und zu Eis essen gehe und lange, etwas trübsinnige Gespräche führe. Der G. ist, wie jeder weiß, in die N. verliebt, die kein Herz hat für den armen Kerl, der viel liest, und nicht besonders sportlich ist, der kein vernünftiges Auto fährt, und ab und zu stottert, wenn er aufgeregt ist. Der G. wird zehn Jahre später glänzend promovieren, aber auch das würde der N. nicht imponieren. Die Neigung des G. zur N. ist hoffnungslos. „Was hält die N. von mir?“, fragt der G. viel zu oft, und ich sage irgendetwas, was ich vergessen habe, und komme gar nicht darauf, der Verliebtheit des G. durch einige gezielte Boshaftigkeiten ein Ende zu machen. Ein feiner Kerl sei ich, sagt der G., und mir zieht sich das Herz zusammen.
Die N. ist kein feiner Kerl, die N. hat an jedem Finger zehn, wie man so sagt, und spielt sie gegenseitig aus. Ab und zu lädt einer aus Frustration ihre Freundin ein, das bin ich, und spricht den ganzen Abend über die N., regt sich auf über ihre Unzuverlässigkeit, ihre Verlogenheit, die Unstetigkeit ihrer Gefühle, und möchte ein bißchen bemitleidet werden. Geliebt werden wollen sie nur von der N. „Dass du dich mit dem nicht zu Tode langweilst!“, lacht die N. mich aus, wenn ich mit G. zum Schwimmen fahre und den Bauch einziehe, aber der G. schaut mich nicht anders an als seinen kleinen Bruder.
Allein zu Hause vor dem Spiegel bin ich manchmal schön. Dann lächele ich dem Spiegel zu, drehe mich ein bißchen, schaue über die linke Schulter, über die rechte, lege den Kopf schief, und halte den Mund geschlossen, weil das besser aussieht, wenn man meine Vorderzähne nicht sieht. Die sind nämlich schief. In der Schule schweige ich selten. mein Mundwerk ist gefürchtet, und über meine Witze lacht man gern. Eingeladen werde ich immer öfter in den nächsten Jahren, gelte als schlagfertig, als amüsant und geistreich, wie man sagt, aber nicht als charmant, und geliebt wird man nicht für einen exakten Kopf, den der Lateinlehrer lobt, der auch Philosophie unterrichtet. Eingeladen werde ich oft, geküsst werde ich selten, und nie von denen, denen ich nachschaue, und mit denen ich befreundet bin, nicht mehr und nicht weniger. Trostpreis, beschimpfe ich mich laut, allein vor dem Spiegel.
Ich lächele zu wenig, sagt die N., und rede zu viel. Das mögen Männer nicht, wenn ein Mädchen so viel redet, und ich nehme mir vor, mehr zu schweigen. Das Schweigen aber fällt mir schwer. – Quantität sei nicht Qualität, tröstet die N. und rät zu dem S. oder zum K., nette Jungs seien das, aber in mich verliebt sich keiner, und ich mag sie auch nicht haben, selbst, wenn ich könnte.
Später werde das ohnehin alles anders, behauptet die N., und ich nicke wider besseren Wissens.
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