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Vom Bleiben und Verblassen

Mit jedem Tag, jedem Moment, mit jedem Atemzug verdaut sich unser Leben, und die scharfen Säfte der Zeit zersetzen, was gestern, noch vor einem Jahr wichtig war und groß. Die Schlagzeile einer Zeitung aber, mit der wir den Grill befeuerten, und wie das Papier sich zusammenzog und schwarz wurde und zerfallen, liegt brennend, aber widerstehend, auf der verätzten Zeit. – Die Haare auf dem obersten Fingerglied meines Begleiters auf der Zugfahrt von Lucca nach Florenz, der süße, faulige Geruch einer Mango, der aus einer Plastiktüte aufstieg, die unter meinem Sitz stand im Bus nach Rayong: Unversehrt und schlackenlos vor Schemen und Fragmenten.

Waren deine Augen blau oder gün, frage ich indes vergeblich die verschwommene Gestalt, die neben mir durch Hamburgs leere Straßen läuft, 1996, am Morgen nach einer Party, Eklat und Geschrei. Dein Blut auf meiner Haut, rostrote Buchstaben eines Vornamens, zu denen ich den Nachnamen nicht mehr weiß. Deine Telephonnummer weiß ich noch, deinen Geburtstag, aber es mag dieses Datum auch zu jemand anderem gehören, den ich genauso vergessen habe wie dich. Der Geruch nach Schweiß und Asche, die Bierwerbung vor deinem Fenster. – Ich schneid‘ dir den Kopf ab, hast du gesagt, aber vielleicht war es jemand anders, und vielleicht ist es auch gar nicht wahr, denn wir haben uns geliebt, glaube ich, und das alles war nur Spiel, nur Federball, nur Schach mit dir und mir als König, Dame und Bauern zugleich.

Scharf und salzig weichen die Jahre uns auf, und hinterlassen verkrümmte Schlacken, bunte Abfälle, Blendwerk in den Straßen dieser Stadt. Da hast du dein Bauernopfer, habe ich dich angeschrien, und dir mein Herz um die Ohren gehauen, bis die Arterien brachen und rissen, aber es ging auch so, und viel besser dazu. Was soll ich noch mit dir, habe ich dir hinterhergerufen, und dich in meine Säure getaucht. Du hast dich aufgelöst, und am Ende spült die Spree die blauen Augen so weit weg wie die grünen und die schwarzen auch. Dein brackiges Fließen, und das Meer schweigt, als hätte es uns nichts mehr zu sagen.

Out, vile jelly, rufe ich euren Augen heulend und trotzig hinterher, und am Ende wird uns, denen nach dem Schuss keine Unsterblichkeit ganz gehören wird, eine namenlose Stele aufgestellt, oder noch nicht einmal das.

Amor vincit omnia, wird darauf stehen. Und: Tempus vincit amorem.

Samstag in den Seilen

Weil wir so kinderlos sind, dass die Deutschen demnächst aussterben werden, lassen wir uns am Samstag um drei nicht von Babies mit Möhrenbrei bespucken, sondern liegen bei der B. mit dicken Kissen im Rücken auf dem Boden herum und trinken Tee. – Weil wir so unpolitisch sind, dass es uns ganz egal ist, wer am Sonntag irgendwo Ministerpräsident wird, lachen wir ausgewogen und abwechselnd über Frank Schirrmachers Fortpflanzungsappelle und Franz Müntefering an sich, und die B. erzählt von der Schönheit ihrer Fußpflegerin, die aus Rumänien kommt, und zum Film will oder einen Deutschen heiraten, wenn das mit dem Film nicht klappt. Sehr wild, sagt die B., sei ihre Fußpflegerin, und der T. lacht.

Weil uns langweilig ist, gräbt der T. einen Stapel DVD’s um und schiebt „Jules et Jim“ in den Player, den ich liebe und immerzu schauen könnte, und Jeanne Moreau lacht in die Kamera, als würde es solche Liebe wirklich geben in einem schwarz-weißen, wunderschönen, schwerelosen Paris, aber grau und regnerisch lastet Berlin auf meinen Schultern. „Ich muss jetzt etwas Süßes essen.“, sage ich, die nur Rosinenbrot gefrühstückt hat, und die B. fährt ins Lafayette, Kuchen kaufen.

Mit den Füßen gegen die Wand gestemmt fahre ich dem T. mit einer rot-goldenen Seidenquaste durchs Gesicht, weil ich seine Grimassen mag, wenn er versucht, die Quaste wegzuwischen. Die B. verteilt nach ihrer Rückkehr eine Tarte Citron auf drei Kuchenteller und wirft uns riesige, weiße Servietten an die Brust, auf denen gestickte Hasen bunte Eier tragen, die genauso groß sind wie sie selbst.

„Ich muss los.“, stehe ich irgendwann auf, gähne, und die B. gibt mir den Film mit für später. Mit der U2 fahre ich Richtung Westen, dränge mich über den Ku’damm, die Kantstraße entlang, um am Savignyplatz meinem Vater gegenüber zu sitzen, der Truffaut nicht mag, und die Nase kraust, wie er es manchmal macht, wenn ihm etwas nicht passt. Mein Vater erzählt lauter Geschichten, ich bestelle die Karte rauf und runter, und nachts, irgendwann sehr, sehr spät, ein Essen, eine Bar und zwei Parties später, schaue ich im Bett sitzend Cathérine dabei zu, wie sie ins Wasser fährt, und heule vor mich hin wie jedesmal bei dieser Szene.

Wie schön, wie nett & gerne wieder

Sehr toll, wenn auch wirklich erstaunlich, ist es ja, dass so gut wie alle Vorurteile, die man so über den Rest der Republik hat, sich bei eingehender Betrachtung aus nächster Nähe als vollkommen wahr erweisen. So sieht man in Hamburg tatsächlich am Sonntagvormittag riesige Blondinen mit großen Zähnen, die in grünen Barbourjacken überm Twin-Set an der Alster spazierengehen, Stuttgarter Rechtsanwälte teilen beim Mittagessen die Kosten ihrer Flasche Mineralwasser wirklich durch die Anzahl der Anwesenden und bringen Berliner Kellnerinnen, die tatsächlich Schauspiel studieren oder Bücher über ihre schreckliche Kindheit in Erlangen schreiben, damit zu händeringender Verzweiflung.

Auch Düsseldorf bleibt in dieser Beziehung so gut wie nichts schuldig: In den Auslagen der Schmuckgeschäfte locken ungeschlachte Gebilde aus Edelmetallen besetzt mit riesengroßen Steinen die Kundinnen, die wirklich in langen Pelzen über die Kö flanieren, und eine Düsseldorfer Bloggerlesung findet im Keller einer messingbeschlagenen Passage statt, in der ich vermutlich Donnerstagmorgen noch den einen oder anderen Euro gelassen hätte, wenn die Düsseldorfer nicht wirklich Weiberfastnacht feiern würden, und zu diesem Behufe ihre Geschäfte schließen.

Ebenfalls zutreffend scheint es zu sein, dass die Düsseldorfer, ja das Rheinland generell, einen herzlichen und freundlichen Menschenschlag hervorbringt, der mir die Lesung am Mittwoch wirklich angenehm gemacht hat, und meine Aufregung über den großen Raum, die vielen Leute und dieses ungewohnt professionelle Umfeld schnell beseitigt hat. Es hat Spaß gemacht.

Herzlichen Dank an das Handelsblatt mitsamt der saukomischen „Kleinen PR-Agentur am Rande der Stadt“, die sich der Herr Knüwer hält, an meine denkbar beste Reisegefährtin, die lustige Frau Nuf, die bekannten und bewährten Herren aus Berlin und Bayern und an alle, mit denen ich mich wieder viel zu kurz unterhalten habe können.

Und weil ich Lesungen mag, und gern andere Blogger treffe, freue ich mich über mehr Lesungen (demnächst in Frankfurt und München) und auf ein Blogmich 06.

(Felix hat Links gesammelt)

You are my death, you are my beauty

Später aber, als die Musik ausgegangen war, und nur noch die Boxen knackten, irgendwann nach dem letzten Rest von warmen Wodka, riss die Nacht auf, ihre Eingeweide quollen blau aus den offenen Flanken, und wir fuhren noch einmal los, die Torstraße entlang, die Friedrichstraße hinunter und weiter gegen Westen, der Nacht hinterher, die in unserem Rücken schon fadenscheinig wurde, trüb, als habe jemand einen Tropfen grauer Milch in den Himmel gegossen. Der Morgen drückte uns schwer in die Kurven auf dem Weg aus der Stadt. Irgendwo in der verbrauchten Luft im Fond des Taxis flossen meine Gedanken ineinander, verknoteten sich, verbanden sich neu, und mir verschwammen Namen, Orte und Zeit, während der Fahrer mit einer Hand am Steuer einen anderen Radiosender suchte und hin und wieder ohne Anlass auflachte, als glitte auch er dahin auf einem zähen Strom aus Müdigkeit und lauter Gegenwarten zugleich.

Das Fleisch des Mannes an der Tankstelle, bei dem wir Wein kauften und noch mehr Zigaretten, drückte sich aus seinem roten Overall, und unter dem gelben Base-Cap leuchtete seine Haut wie ein roher Schinken. Sein linkes Augen war verklebt mit einem krümeligen, gelben Sediment. „Da war ich mal als Kind.“, sagte mein Begleiter auf dem Weg zurück ins wartende Taxi und deutete auf das Etikett der Weinflasche, und ich nickte, schaute nicht einmal mehr hin, und trank von dem sauren, dünnen Wein, den er mir nach hinten reichte.

„Halten sie an.“, sagte er, und der Wind fuhr übers offene Feld, zog uns weiter zwischen die Bäume, und in der Feuchtigkeit eines Morgens, der der Sauberkeit entbehrte, als sei der Tag schon schillernd vor Fäulnis und verdorben von unserer Gegenwart geboren, stolperten wir zwischen den Grabsteinen entlang. Tief bohrte sich mein Absatz zwischen die Gehsteigplatten. Die Wände der Mausoleen rechts und links von unserem Weg schwitzten Vergänglichkeit und stinkendes Moos.

Wie Teehäuser bargen sich die Mausoleen im Wald, all die Teehäuser der Toten, die auf unser Verschwinden warteten unter den glitschigen Böden, und die kalte Nässe des Waldes drang zwischen Rock und Stiefeln durch die Strumpfhosen in meine Haut und durchtränkte erst meine Beine, um dann mich ganz und gar anzufüllen mit schwarzem, übelriechenden Wasser. Die letzten Tropfen Wein aus der ersten Flasche gossen wir den Toten als Miete auf ihr Grab, öffneten eine weitere Flasche und bliesen den Rauch unserer Zigaretten in die Luft wie ein Brandopfer für die, die vor uns da waren, und deren Namen in Stein gegraben sind, während uns, flüchtigen Passanten einer hastigen Zeit, keine Grabsteine für hundert Jahre mehr aufgestellt werden, wenn wir einmal so tot sein werden wie jene.

Als die Weinflaschen leer waren, gingen wir zur Straße zurück und fuhren heim durch den trüben Morgen, und wie von jeder unserer Nächte sollte uns nichts bleiben als die Gewissheit, das alle unsere Stunden nicht mehr enthalten würden als den Rausch vergeblicher Exzesse und eine Traurigkeit, die gleißend hinter den Dingen steht wie die Wände verrottender Mausoleen weit hinter der Stadt.

Die fünfte Farbe

Kinder, denke ich… nicht schon wieder. Aber weil Ihr es seid:

Four jobs I’ve had:

+ Mit zwei Kumpanen, wir waren fünf, für zwei Mark beim Kiosk um die Ecke Kaugummi und Abziehbildchen gekauft, ganz viele Zettel mit so vielen Kreuzen bemalt, wie wir Gewinne hatten, und noch mehr Zettel dazugetan. Alle zusammengefaltet, bei allen Nachbarn geklingelt und für einen Groschen pro Los verkauft. Gewinne größtenteils behalten gedurft, vom Erlös noch mehr Süßigkeiten gekauft. Alles aufgegessen und das – in meinem Fall eher amüsierte – elterliche Donnerwetter vorbeiziehen lassen.

+ Einige Wochen nach dem Abi, ich kam vermutlich gerade extrem überfeiert in den Morgenstunden nach Hause, ergriff meine Mutter eine der letzten Gelegenheiten zur töchterlichen Charakterbildung und schickte mich für vier Wochen in ein Altersheim, den Schwestern ein wenig assistieren, alten Damen vorlesen, sie in die Stadt begleiten und so. Es war hundstraurig, und wer mir heute erzählt, Menschen mit Kindern seien im Alter nicht allein, dem widme ich hiermit ein zehnminütiges hyänenhaftes Lachen aus purem Hohn.

Damals beschlossen, auf keinen Fall alt zu werden. Ich arbeite dran.

+ Aus dem Lateinischen übersetzt.

+ Tagungen organisiert, die tatsächlich und so gut wie pannenfrei stattfanden.

Four movies I can watch over and over:

„Lilli Marleen“, Ich liebe Fassbinder. „In the Mood for Love“ und überhaupt Wong Kar Wei. „Fargo“. Immer wieder sehr gelacht. „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“, ich bin nämlich ein bißchen sentimental, außerdem finde ich es großartig, wenn andere Leute heiraten.

…und noch viel mehr. Ich bin filmverrückt.

Four places I’ve lived:

Vierter Stock, zweiter Stock, Erdgeschoss, vierter Stock.

Four books I recently read and liked a lot:

+ G. K. Chesterton, „Orthodoxie“, das so gut ist, dass man auf der Stelle sehr katholisch werden möchte. Leider war gerade kein Priester zur Hand.

+ Antal Szerb, „Die Pendragon Legende“. Ein amüsanter Ungar in Wales, mit dem man gern ein paar Stunden verbringen möchte.

+ Bret Easton Ellis, „Unter Null“. Eine Leseliebe meiner früheren Jugend, wiedergelesen und immer noch großartig in seiner Beschreibung der würgenden Leere in der Mitte unserer Welt, deren Sog all das verschlingen wird, was wir lieben.

+ G. Lenotre, „Wenn Steine reden“…dann sprechen sie in dieser reizenden, von Friedrich Sieburg übersetzten Auswahl über das Paris der französischen Könige, der großen Revolution, der opulenten Mahlzeiten und vom Fließen der Seine.

Four places I’ve vacationed:

Marrakesch, Moskau, Chiang Mai, Jerusalem

Four of my favorite dishes:

Das Ma Po Tofu bei dem chinesischen Imbiss auf der Prenzlauer Allee. Ein Wiener Schnitzel mit ziemlich säuerlichem Kartoffelsalat mit ganz viel Zwiebeln. Gebratene Ente mit Pflaumen und Äpfeln gefüllt, dazu vielleicht Rotkohl und Semmelknödel in sahniger Sauce, die man zum Schluss mit einem Stück Brot auftupfen kann. Und Torten. Je üppiger, desto besser.

Four sites I visit daily:

Den Perlentaucher, Spiegel Online. Einen Haufen Blogs. Zur Zeit auch gern den Tonspion, aber das wechselt.

Four places I would rather be right now:

Wien, Saigon, Palermo, Paris

(und natürlich Berlin, Berlin, Berlin usw.)

Four bloggers to tag with this:

Frau Brittbee, Frau Arboretum, Frau Engl, Frau Kaltmamsell (sorry, zu spät gesehen)

Nun denn, meine Damen.

All die schönen Toten

Aber eines Morgens werde ich erwachen, und die Wände meiner Wohnung werden voller Leichenflecken sein, und von den Decken fällt der Stuck wie die mürben, gelben Zähne der Toten aus faulendem Fleisch. Vorbei wird es sein mit den guten Jahren in Berlin, und mein Schlaf wird unruhig und fahrig und ausgeschlagen sein mit dem Lärm rollender Räder. Durchsichtig werden dann die Silhouetten derer, die ich liebe, und der Himmel über der Stadt wird immer trüber werden, geschwollen erst, und dann nekrotisch von den Rändern her.

„Schön war’s hier.“, wird sich mein Berliner Leben beschweren, wenn ich die Sachen in die Kisten packe. „Du hast es doch einmal gut hier gehabt.“, füstert mein Berliner Selbst mir in die Ohren. „Erinnere dich“, beschwört mich mein Berliner Leben, „an die leuchtenden Nächte in Mitte, den gläsernen Glanz eines Morgens am Kleinen Wannsee, die warmen Abende in den Küchen der Freunde!“, und hält mich mit entfleischter Hand noch fest am Ärmel, damit ich wieder auspacke und noch ein Jahr bleibe oder zwei. „Wenn du jetzt gehst, wirst du niemals ankommen.“, wird sich mein altes Ich mir in den Weg stellen und mich anschauen mit seinen starren Augen, und ich werde es, sanft erst und dann erst kräftig, an den Schultern packen und beiseite schieben. „Du bist doch längst gestorben.“, schreie ich mich an und trete dieses Leben in die Dielenbretter vor meinem Bett. „Bleib doch einmal bei dir.“, brüllt mein verwestes Ich, und ich schlage ein mit meinen Fäusten auf all die Jahre, steche mich nieder, renne die Treppe herab in ein neues, reineres Leben und schieße mein Berliner Selbst mitten ins Gesicht, damit es liegenbleibt. Vorbei und vergangen.

Vielleicht schreibe ich noch ein paar Postkarten an die verblassenden Freunde. Vielleicht kommt noch ein Weihnachtsgruß von mir, vielleicht noch der eine oder andere Anruf, bis dieses Leben ganz vergessen, und ein neues Leben woanders so fleckig und faltig sein wird wie dieses hier an irgendeinem Tag.

Du aber sollst gerettet sein

Vorbei an den sterbenden Kriegern des Zeughauses, vorbei an den Kuroi des Altes Museums, die über die Museumsinsel lächeln, weiter die Schönhauser Allee hinauf, und die Streicher wogen salzig wie Meerwasser hinter meinen Schläfen. In der gläsernen Luft hallen die Sehnsucht der Senta und die Verdammnis des Holländers nach, singend von einer Treue, von der ich nicht einmal wüsste, wohin damit. „Sie sehen hübsch aus.“, unterbricht der Taxifahrer die Girlanden einer türkischen Sängerin aus seinem Cassettenrecorder und wünscht mir sieben Söhne an den Hals. „Im Handschuhfach sind Bonbons.“, lädt er mich ein. Ganz leer sind die Straßen, und der Winter vor meiner Tür lässt die Narben auf meinem linken Arm dunkelrot glühen, Blut und Granat.

Wie Honig zerläuft der Bonbon des Taxifahrers auf meiner Zunge und schließt sich um meine Zähne als eine zuckerige Haut, eine süße Membran zwischen mir und der Nacht, die zu kalt ist, um noch irgendwohin zu gehen, zu kalt, um noch irgendetwas zu tun als im Bett zu liegen, Genets Querelle zu lesen, und die großartige Verfilmung Fassbinders leider nicht im Haus zu haben: Fassbinder, der die schmutzige Sehnsucht in reine Bilder fassen konnte, deren Ahnung und Schatten meine Träume durchtränkt mit dieser ziehenden Musik einer Gier, deren Erfüllung nichts kostet als das Leben.

Dreizehn

So rein körperlich sah man wahrscheinlich großartig aus damals, auf den Bildern jener Jahre aber sieht man exakt nichts davon: In unvorteilhaften Jeans, mit viel zu großen T-Shirts schaue ich mir hinter einer roten Brille von irgendwelchen Photos entgegen und lächele überhaupt nie. Neben mir, einen guten Meter entfernt, sitzt mein allererster Freund mit einer Frisur, die es ihm ohne weiteres ermöglicht hätte, das Wet-Gel aus seinen Haaren herauszulutschen, und hat ein rotes Sakko an über einem T-Shirt, auf dem viel zu groß „BOSS“ steht. An den Füßen trage ich ein paar pinkfarbene Chucks, an den Schnürsenkeln sind kleine glitzernde Plastiksterne angebracht, und dass man die buntgeringelten Söckchen nicht sieht, die man bei ESPRIT kaufen konnte, ist ein Segen, für den man dankbar sein sollte.

Überhaupt ESPRIT, mein Blockstreifen-Sweatshirt in gelb und pflaumenfarben, mit weißem Kragen. Die Söckchen mit einer Rüschenreihe, die man sehen konnte, weil die Hosen eigentlich zu kurz waren. Das mintfarbene Sweatshirt, auf dem „UNITED COLORS OF BENETTON“ ganz groß draufstand, jeder Buchstabe in einer anderen Farbe, und natürlich Polo-Hemden von Lacoste, die auch so weit waren, dass man von einem angezogenen Mädchen nicht hätte sagen können, ob sie dick oder dünn war. – Der Prozess des Entkleidens muss in jenen Jahren einen wirklichen Überraschungseffekt besessen haben, aber für’s Entkleiden vor gegengeschlechtlichen Menschen waren wir ohnehin noch zu klein. Zum Händchenhalten reichte es, ein paar Küsse auf dem Bootssteg, ein wenig genierte Spaziergänge Hand in Hand, schlechten Gewissens, weil man sich eigentlich viel lieber als mit demjenigen, mit dem man sich tatsächlich traf, mit jemand anders getroffen hätte, aber der andere war schon 16 und schaute einen selbstverständlich nicht einmal aus Versehen an.

Duftkerzen und Bananentee. Bunte Gläser von Joy von Freundinnen zum Geburtstag, verpackt in irisierende Folie, Plastikstrohhalme in Spiralenform. Nachmittags mit der N., der allerbesten Freundin, zum Reitstall, und die Pferdeposter an der Wand nach und nach austauschen gegen Poster, auf denen Rick Astley abgebildet war oder INXS. Vor dem Spiegel feststellen, dass man niemals aussehen würde wie Kylie Minogue, und die erste Ahnung, dass man überhaupt nie aussehen würde wie Frauen, die irgendjemand auf Plakate druckt, wenn man einmal groß sein würde.

Die ganze Nacht lesen, und in der Schule immer schlechter werden und noch nicht wissen, dass man ab jetzt jedes Halbjahr versetzungsgefährdet sein würde wegen Mathe und eigentlich allen Naturwissenschaften. In die Umwelt-AG eintreten, weil man Umwelt schon irgendwie wichtig fand, und in die Redaktion der Schülerzeitung, wo man die Unterstufenseite vollschreiben durfte, die ohnehin keiner las.

Sich vorstellen, wie es sein würde, groß zu sein, also ungefähr 16, und langsam, unmerklich, auseinanderzufallen in ein Innen und ein Außen, sich auseinanderzufalten in etwas, das sich selber jahrelang fremd sein würde, und am Ende so weit weg zu sein von dem Mädchen auf den Bildern, zu dem man kaum mehr „ich“ sagen kann, dass alles, an das man sich erinnern kann, die fast unpersönliche Oberfläche ihres Lebens ist, ein paar T-Shirts, ein paar Geburtstagsgeschenke und kein einziger Augenblick.

Via Sven und Don Dahlmann.

Rausch und Traurigkeit

Immer hastiger fahren wir dahin auf dem Blut der Stadt, und hinter uns raucht der Schutt aller unserer Nächte. So hoch wachsen die Trümmer und arbeiten sich langsam durch unsere Haut, bläuliche Verfärbungen, Sendboten einer Zukunft, die schon nächstes Jahr, schon heute Nacht, anbrechen kann, und in der es vorbei sein wird mit jenem goldenen Glanz, jener Makellosigkeit der schimmernden Tage, für die wir aufstehen, wenn es fast schon dunkel ist. Und nur der Schnee auf den Dächern von Berlin leuchtet rein wie ein neues Leben.

Müde am letzten Tag des Jahres und überdrüssig der vielen Stimmen, des allzu lauten Lachens, so sehnsüchtig nach einer wunschlosen, schmerzlosen Ruhe, packen wir unsere Kisten, in der das Jahr verstaut sein wird für die späteren Tage, in denen alles, was uns durch die Adern dieser aufgedunsenen, schmutzigen Straßen treibt, nur noch eine Erinnerung sein wird: In Harz gegossen und leuchtend einmal für einen Nachmittag in vielen Jahren, wenn die Rosen blühen, und ich den Toten zuprosten werde mit einem Glas Wein aus einem falschen, späten Sommer.

Ach, die Heimkehr vom Flughafen Schönefeld am frühen Morgen, der Himmel gleißend vor Übermüdung. In der S 9 zu sitzen, die schlafende Freundin auf dem Nebensitz, und „Willkommen daheim!“, flüstert die Stadt mir ins Ohr: Eine Insel im Fluß der vielen Fluchten, eine falsche Heimat aus grauem Beton. „Hier bin ich.“, zu antworten, und nicht mehr weiter zu müssen für dieses Jahr und vielleicht für die nächsten. – Ein durchscheinender Septembernachmittag im Volkspark Friedrichshain, und im noch warmen, eben noch sommerlichen, gelben Licht am Schwanenteich zu sitzen und die Worte träge fließen zu lassen, müde wie der späte Sommer, und einem Pärchen zuzuschauen, dass sich küsst, vierzehn Jahre alt vielleicht, und einem Glück zuzulächeln, an dessen Kern alle Kugeln abgleiten werden. – Ein später Abend in der Oderberger Straße, Roseneis zu essen, bezaubert, hingerissen, und durch die Kühle der Nacht über die Kastanienallee nach Hause zu gehen. Im Taxi die Frankfurter Allee Richtung Osten zu fahren, der Grenzenlosigkeit entgegen. Der Duft weißer Lilien, vermischt mit dem Rauch indonesischer Zigaretten. Käse und Wein. Das Brummen der Espressomaschine am frühen Morgen, und mit geschlossenen Augen den Becher in Empfang nehmen, während sich langsam der Tag beschleunigt, und zwischen den roten Vorhängen das Licht helle Streifen auf die Tapete wirft. Der Rauch der letzten Zigaretten am Morgen, der entzündete Himmel über der Stadt. Der Geruch von Napfkuchen und Orangen, und alle Lügen der Welt fühlen sich glatt an, so seidig und neu.

Und dann noch einmal einen Blick in die Kiste, eine Schleife aus roter Seide, und das sich neigende Jahr in die Regale stellen für jenen Tag voll schimmernder Erinnerungen, wenn dieses Zeitalter vorbei sein wird, und wir immer noch da.

Ihnen allen ein gesegnetes Jahr 2006.