10.04.2020: Was nicht

Immer angenommen, ich würde mich für mich vernünftig anziehen und bürsten, weil ich eben eine Person sein möchte, die vernünftig angezogen und frisiert ist. Nicht zu viel, weil ich dafür zu faul bin, und noch aus meinen optisch ein wenig unrühmlichen Jugendjahren Vorbehalte gegenüber zu gut frisierten Menschen zurückbehalten habe. Aber immerhin ordnungsgemäß, 6 Punkte auf einer Skala von 1 bis 10. Nach vier Corona-Wochen weiß ich:  Das ist alles Quatsch. Wenn es niemand sieht, also nicht mal Leute beim Lunch, nicht mal Kollegen oder so, dann muss ich mich schon disziplinieren, um alle zwei Tage zu duschen. Vermutlich geht’s allen so und die überbordenden VCalls dienen in Wirklichkeit nur als extrinsischer Reiz, damit die Deutschen nicht total verkommen.

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Hätte endlich Zeit, an all den Abenden, die ich zuhause bin, ein Buch zu schreiben oder wenigstens fertig zu schreiben, aber ich schaffe es tatsächlich nicht, auch nur eine ganz kleine Geschichte zu plotten oder eine schon geplottete zu Ende zu schreiben. Irgendwo sitzt sie also doch, die Angst oder die Unruhe, auch wenn ich sie nicht spüren kann.

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Nach zwei Wochen selbst gekochtem Essen schmeckt und bekommt mir das gestern gelieferte Restaurantessen nicht mehr.

 

 

22.03.2020: Ausgangsverbot

Ich stand einmal, das ist lange her, auf einem Laufband im Flughafen Amsterdam Schiphol und lief so ganz gemächlich in meine Richtung. Der Flughafen ist groß, ich hatte viel Zeit totzuschlagen: Ich beeilte mich rein gar nicht.

Auf einmal ruckte das Laufband unter mir und legte mächtig los. Ob es ein Fehler war oder Absicht, es wurde richtig schnell, und ich schwankte einen Moment, obwohl ich eigentlich fest stand, und wäre fast umgekippt vor lauter unerwarteter Geschwindigkeit: Ungefähr so geht es mir jetzt.

Von einem Moment auf den anderen kippt die Republik aus der kraftvollen Ruhe. In einem Lidschlag verschwinden die vielen offenen Stellen, Nervosität macht sich breit, Freunde führen Gespräche voller Verunsicherung, und Tag für Tag folgen Maßnahmen in einer Eile, wie ich es nie für möglich gehalten hätte: Die Schulen schließen, man darf nicht mehr reisen, die Geschäfte machen zu, die Restaurants. Nun folgt also der nächste Schlag, von dem wir hoffen, dass es der letzte, der entscheidende und befreiende ist: Man darf nicht mehr aus dem Haus. Nur noch zur Arbeit, zu ungern tolerierten Spaziergängen, zum Arzt, zum Supermarkt.

Wo ist meine Stadt, greife ich schwankend ins Leere. Was ist das, wo geht das hier hin. Und wann nimmt es ein Ende.

21.03.2020: Die Katze

Eins immerhin ist nun klar: Es liegt gar nicht an einer jeden Winter Monate währenden Dauerbronchitis. Es liegt an der Katze. Ist es warm, steht ganztags die Balkontür offen. Ist es kalt, haben wir alles zu. Dann beginne ich zu husten.

Die Erkenntnis ist allerdings nur eins. Was passiert denn nun mit der Katze? Rasieren ist keine Lösung, eine Desensibilisierung haut auf die Schnelle nicht hin. Kurz denke ich an meine Tante, dann erfahre ich, dass meine vor einigen Jahren verwitwete Tante gerade daran denkt, umzuziehen.

Nun stehen wir also da. Sobald die Katze sich schüttelt, fange ich erbärmlichst an zu röcheln. Und inmitten dieser unwirklichen Tage, in diesem falschen Frühling, ist es schon fast beruhigend, noch so gewöhnliche Sorgen zu haben wie eine Katzenhaarallergie.

Nach Kythera und zurück

Können Sie sich noch daran erinnern, wie wichtig Liebesgeschichten zu sein schienen, als sie so ungefähr 17 waren? Ha, hätten Sie mal französisch gelernt oder Klavier geübt, dann könnte Sie das heute, aber wer Ihnen damals mal wirklich wichtig erschien, den haben Sie heute aber sowas von vergessen. Ich hoffe, es geht Ihnen allen prächtig, aber konzedieren muss man ja schon: Die Drüse, die verliebt macht, hat ihre Produktion im Wesentlichen eingestellt. Das ist schön für die Stabilität bestehender Beziehungen, aber eher so mittelgut für den Content eines nicht unwesentlich auf Indiskretionen beruhenden Blogs.

Immerhin, es gibt Ausnahmen. Nehmen wir beispielsweise den G., netter Kerl so an sich, der sich nach einigen schrecklich langweiligen Jahren als Ehemann und Vater ausgerechnet in seine Nichte verliebte. Also eine große Nichte, irgendwie so Anfang zwanzig, und tatsächlich ein paar Monate mit der Nichte sehr glücklich war. Dann flog alles auf, Scheidung, drei Jahre Skandinavien an irgendeinem Krankenhaus am Ende der Welt, der G. ist nämlich Arzt, und als der G. nach Deutschland zurückkam, war er wieder in festen Händen. Sie war sehr still, sehr lang, sehr schlank, so ein Mädchen mit langen, glatten, braunen Haaren und sie war circa 27 und promovierte über irgendetwas mit Kunst. Unter Leuten, die ihn kannten, hieß sie nur die Madonna.

Auf die Madonna eins folgte die Heilige Therese. Sie war circa 27, sehr zart und sehr blond und zog eines Tages Knall auf Fall zu ihrem Doktorvater. Die Heilige Therese verließ zur Abwechslung also mal den G., so dass der G. sich für ein paar Monate wirklich schlecht fühlte, bis er die Heilige Barbara kennenlernte, die so hieß, weil sie in einem Turm arbeitet, in dem eine bekannte Großbank ihr Unwesen treibt. Sie war circa 24, Bankkauffrau, lang und schlank mit glatten braunen Haaren, und als sie ausgezogen war, hatte der G. keinen Hund mehr, kein Sofa, und er fühlte sich irgendwie erschöpft.

Zwei Jahre später sehen wir den G. nunmehr erneut in Skandinavien. Er hat ein Haus gekauft, einen neuen Hund, ein neues Sofa, sein ältester Sohn wohnt bei ihm, und er hat eine neue Freundin. Sie ist 47, Mutter von zwei erwachsenen Kindern, Lehrerin, und Leute, die ihn kennen, nennen sie bei ihrem Namen.

Teneriffa Tales 3

Der Typ beispielsweise da drüben in den roten Boxershorts. Nacken etwas zu ausrasiert, Nacken etwas zu dick. Vor fünf Jahren war er muskulös, in fünf Jahren wird er fett sein, aber heute ist er circa 40 und wirft seinen Sohn im Pool hoch und fängt ihn wieder auf. Immer so ein bisschen zu breitbeinig, und die Arme auch so ein bisschen ausgestellt, als hätte er Brust- und Oberarmmuskeln, die einer entspannten Körperhaltung entgegenstehen. Auf der rechten Wade hat er eine kleine Tätowierung. Ich bin mir sicher, er denkt nicht wesentlich differenzierter als ein Stein.

Die Frau da auf der Liege. Vielleicht 50, hager, sehr groß, lange Haare. Sehr gepflegt, anders als bei vielen nicht mehr ganz jungen Frauen sehen ihre Haare super aus, keine splitternden Spitzen, die Färbung ist extrem natürlich, und selbst wenn sie aus dem Wasser kommt, sehen ihre Haare schön aus. Ansonsten würde man ihr wünschen, ein paar Kilo zuzulegen, nicht viel, damit die rotgebrannte Haut nicht direkt über Muskeln und Adern läge. Sie sieht ein bisschen aus wie die präparierten Toten in dem Panoptikum am Alexanderplatz, und die tiefen Falten zwischen den Augen und die scharf eingeschnittene Nasolabialfalte tun mir ein bisschen leid. Dünne Frau, du hast es auch nicht immer schön, denke ich, während sie auf Espadrilles mit Keilabsätzen und einem wehenden, transparenten Kimono im Leopardenprint zur Poolbar schreitet.

Die kleine, fesche Mutter mit den beiden Töchtern dagegen gibt keinen Anlass für Mitleid. Sie ist ein Kugelblitz mit schwarzen Augen und dicken Haaren, piekt ihre Jüngste mit dem Zeigefinger in den Bauch und lässt sie fröhlich quietschen. Die Große sieht weder ihr noch dem Baby ähnlich, ein blässliches, zartes Mädchen von 12 oder 13, die auf ihrer Liege liegt und auf einem Kindle liest. Ob sie die Stiefmutter ist? Oder ist das Mädchen nur in der Vorpubertät und distanziert sich von der Mutter? Erst beim Frühstück ordne ich den Vater der Familie zu: Es ist ein sehr aufrechter, gegerbter Mann mit ein paar gelbgrauen Strähnen auf dem Kopf, der ein paar Schritte abseits unablässig telefoniert.

Oh, und wir. Mutter und Sohn, er liest, sie liest. Ab und zu wird gebadet. Sie wirkt leicht gelangweilt. Das Kind dagegen amüsiert sich königlich.

 

Teneriffa Tales 2

Ob es eigentlich einen Markt für Reverse-Influencer gibt? Also Leute, die einen Ruf für kritische bis vernichtende Beiträge in Sozialen Netzwerken haben, auf ihrem Twitter-Account ankündigen, dass sie beispielsweise nach Bad Reichenhall ins Hotel Aspen fahren, das Hotel bekommt das spitz oder wird gleich getaggt, und zehn Minuten später bekommt der Influencer Geld vom Hotelier, sagt alles ab und fährt in ein viel schöneres Hotel? Ab und zu lässt einer das ungerührt über sich ergehen, dann schreibt der Reverse Influencer, wie es im Hotel Aspen wirklich aussieht, und dann kann der Hotelier sehen, wie er das jemals wieder aus dem Netz gekratzt bekommt.

Wenn es das gibt: Mein Job. Ich nörgele gern und sogar umsonst und ganz von selbst. Wobei die Ängste, die die Hotelgruppe hier vor Reverse Influencern ausstehen würde, sich in Grenzen halten dürften. Denn tatsächlich ist hier alles ungefähr so, wie man es erwartet oder zumindest erhofft: Hotelboys, die Koffer auf silbernen Kofferwagen durch die Anlage fahren, die Blumenbeete sind absout unkrautfrei, verblühte Blüten werden sofort von den Büschen entfernt, und die Brotkollektion im Restaurant Verona ist perfekt. Dafür kostet die Pizza 17 EUR und ein Glas Hauswein 8. Wenn man nur zwei Gänge bestellt, wird man im Minutentakt gefragt, ob man nicht noch etwas ordern möchte, und am Nachbartisch sitzen bekannte britische Publizisten und freuen sich über den Brexit. Immerhin sieht man beim Essen Kois.

Weil es haufenweise Leute geben muss, die Teneriffa nicht so öde finden wie ich, ist das Hotel nicht nur voll, sondern auch riesig. Es sieht ein bisschen aus wie die Kulissen von Metropolis, wenn sie rot wären, und das Rot ist exakt dasselbe wie das Rot, in dem das Alexa gestrichen ist, eine Berliner Shopping Mall für Menschen, die Ästhetik hassen. Weil man von der Lobby bis zum Strand fast einen Kilometer unterwegs ist, fährte eine Kleinbahn hier herum, wie sie in leicht aus der Mode geratenen Kurorten zwischen Kurmuschel und Kurhaus, Grand Hotel und Pension Sorgenfrei verkehrt.

Der Kinderclub ist leider irgendwie nie besetzt, vermutlich, weil es gerade kaum ältere Kinder hier gibt. Am Main Pool haben wir die Umkleiden nicht gefunden und er ist nach einhelliger Ansicht von Sohn und mir ein bisschen zu warm. In der Umgebung gibt es nichts, und weil es keinen Bürgersteig gibt, kommt man ohne Mietwagen nur weg, wenn man ein Taxi ruft, aber auf Teneriffa gibt es, meine ich, eh nichts zu sehen.

Das Meer, immerhin, ist herrlich, und der Himmel wolkenlos und von makellos überwältigendem Blau und die Felsen ragen aus dem Wasser wie schwarze Kathedralen Poseidons.

Teneriffa Tales

Sie sind kinderlos, Sie haben kleine Kinder, oder Sie sind durch mit der ganzen Sache und haben ganz große: Sie fahren im Januar nach Asien und im Herbst ans Mittelmeer. Sie sitzen in warmen Mainächten in Trastevere beim Wein und im September in Pacific Heights. Wenn Ihnen danach ist, stehen Sie im Februar zu Füßen der Prager Burg, es liegt Schnee und die Schatten sind so schwarz wie die Augen des Golem. Reisen kostet fast nichts.

Dann schwingt die böse Fee der Schulpflicht dreimal ihren Zauberstab und fortan ist alles anders: Im Winter können Sie nicht nach Asien oder Afrika, denn da haben Sie nur zwei Wochen Zeit und wenn Sie die voll ausnutzen, müssten Sie Ihren Erstgeborenen verkaufen, und den füttern Sie jetzt seit sieben Jahren, den behalten Sie jetzt. Über Ostern fahren Sie nach Griechenland oder Italien und frösteln ein bisschen im knallvollen Speisesaal zwischen lauter anderen Familien mit erstaunlich lautem Nachwuchs. Im Sommer bereisen Sie ausführlich Nordeuropa, eine Gegend, bei der Sie sich schon ab und zu fragen, wieso die Menschheit sich eigentlich auch dort angesiedelt hat. Und in den Berliner Winterferien, dieser ersten Woche im Februar: Ja. Was machen Sie da?

Das nördliche Mittelmeer ist zu kalt. Frieren kann man auch in Berlin. Karibik, Asien: Nicht in einer Woche. Ägypten, Tunesien, Marokko an sich gern, aber die örtlichen Gepflogenheiten sind ein bisschen zu geräuschvoll, um erholsam zu sein, und außerdem verträgt nicht jeder das örtliche Essen. Irgendwann spricht einer es aus: Wieso nicht Kanaren. Ja, wieso nicht.

Tatsächlich stellen Sie sich die Kanaren ungefähr so unterhaltsam vor wie ein Wochenende in Bottrop. Sie finden die spanische Küche fad, Sehenswürdigkeiten gibt es offenbar keine, bis auf Natur, und Sie sind der an Natur vermutlich am wenigsten interessierte Mensch südlich des Nordpols und können sich in dieser Beziehung nichts merken, wirklich gar nichts, höchstens Störche oder so.

Weil Sie sich von einer Freundin überreden lassen, buchen Sie am Ende dann doch. Teneriffa, eine Woche. In einem Riesenhotel, das die Freundin ausgesucht hat. Außerhalb eines Ortes. Das Hotel sieht aus wie eine ganze Stadt und verströmt auf Fotos den Charme einer 5-Sterne-Dystopie. Als zwei Wochen vor Abreise die Freundin verkündet, sie komme krankheitsbedingt nun doch nicht mit, sind Sie kaum überrascht: Sie haben auch keine Lust. Leider sind Sie zu gesund, um auch abzusagen, und ihren Sohn tödlich zu enttäuschen.

Drei Tage vor Abreise schauen Sie ins Internet. Das Hotel ist nicht nur teuer, sondern offenbar auch quasi nichts inklusive, nicht mal die Sauna oder ein Kinderclub oder so. Es gibt auch keine Buffets, was ohne Kinder super wäre und mit Kind eher so lala. Sie überlegen ganz kurz, einfach alles verfallen zu lassen, Hotel, Flug, ach, auch egal. Und dann packen Sie, fluchen leise und fahren los.

Und da sitzen Sie nun: Es ist 22:19 Uhr. Sie sind unterwegs. Ihr Kind malt Bilder, auf denen Drachen Ritter zerfleischen, und Sie fragen sich:

Wieso. Das. Ihnen.

Kleines Mädchen

„Was hast du in der Tüte?“, fragt mich das kleine Mädchen auf dem Bahnsteig, vielleicht fünf Jahre alt, und hofft vielleicht auf Schokolade oder etwas sehr Aufregendes wie den Krönungsmantel einer Prinzessin, deren Gouvernante ich bin, aber leider ist sie entführt worden, und bis sie wieder da ist, hebe ich den Mantel für sie auf.

Tatsächlich ist leider nur Haarseife in der Tüte. Und Strumpfhosen und eine runde Packung von diesen, na, wie heissen sie noch, Zupftaschentüchern, also denen, die man so nach und nach aus einer kleinen ovalen Box zieht, und ein Deostift von balea, das sind die dm-Deostifte für 89 Cent. Für das kleine Mädchen interessant sind höchstens die Pfefferminzbonbons, aber vermutlich nicht einmal die, denn mein kleiner Junge isst Pfefferminzbonbons erst seit dem diesem Jahr, vorher waren sie ihm zu scharf, und als er fünf war, hätte er sie sofort ausgespuckt.

Nichts, sage ich deswegen und öffne meine Tasche weit, damit sie hineinschauen kann. „Oh!“, ruft sie und zeigt auf einen kleinen Kamm, zehn Zentimeter lang mit einem Werbeaufdruck und eine Mini-Weihnachtsbaumkugel von unserem Adventskranz, die heute morgen aus unerklärlichen Gründen vorm Empfangstresen des Büros lag.

„Ich mach dir einen Zopf.“, biete ich der Kleinen an, teile ihre langen Haare mit dem Kamm, flechte, ziehe ein Haargummi aus meiner Tasche und binde die Haare hoch und schlinge den Weihnachtsbaumkugeldraht einmal über den kleinen, dünnen, seidigen Knoten. Sie hat starke, schwarze Haare.

„Schön siehst du aus!“, sage ich, als die S 9 endlich kommt. Sie freut sich, nimmt den entgegen gehaltenen Kamm, bedankt sich und winkt mir noch einmal, und dann läuft sie zu ihrer Mutter, die auf dem Treppenabsatz auf einer Decke sitzt und bettelt, und dreht sich nicht mehr um.

Mach es gut, kleines Mädchen, denke ich. Und wenn Sie an der Warschauer Straße vorbeikommen: Seien Sie nett zu ihr.

Nächtliche Gedankenfahrt

Schwer erkältet. Wer hier schon ein paar Jahre mitliest, wird nun gelangweilt den Mund verziehen, denn ich bin nicht nur dieses Jahr über den Jahreswechsel von der Stirnhöhle bis zu den schmerzenden Fußgelenken infiziert, nein, ich falle jedes Jahr einem Virus anheim, der mich kurz vor Weihnachten anspringt, wenn es im Büro besonders hektisch ist, und meine ohnehin etwas fragile Immunabwehr überwältigt, wenn die sich über die Feiertage ein bisschen entspannt.

Über Weihnachten habe ich also viel im Bett gelegen, für meine Verhältnisse viele Filme gesehen, und unvernünftig viel gegessen. Cleverere Leute als ich hätten die erkältungstypische Appetitlosigkeit genutzt, um sich zumindest den Gewicht vom letzten Jahr Weihnachten wieder anzunähern, aber ich habe einfach stumpf weitergestopft. Ich trage jetzt nur noch elastische Kleider, da fällt das nicht so auf.

Warum erzähle ich Ihnen das? Mittelalte Frauen mit roten Augen und triefenden Nasen sind schließlich nicht so sonderlich interessant? Nun, vor lauter Husten und trockenem Mund, Kopfbrummen und Gliederschmerzen schlafe ich derzeit natürlich auch ganz, ganz erbärmlich. Nachts wache ich zwischen 3 und 4 Uhr einfach auf. Dann liege ich möglichst bewegungslos im Bett, versuche, den geschätzten Gefährten nicht zu stören, und dämmere so vor mich hin.

Kennen Sie diesen Zustand, in dem man einerseits sehr wach ist, andererseits die festen Bahnen, auf denen die Gedanken tagsüber auf Schienen laufen, gerade nichts halten? Wenn die Gedanken vom warmen Schlafanzug, den man gerade gern hätte, zum Weihnachtsfest laufen, an dem die Tante M. den Schlafanzug geschenkt hatte, den man so mochte, oh, war der kuschelig. Aber schade war es schon, dass auf der Beerdigung der Tante M. ausgerechnet die Frau T. einen Schlaganfall erlitten hatte, und so stand die Tante nicht einmal auf der eigenen Beerdigung im Mittelpunkt. Was wohl der hübsche Neffe der Frau T. heute macht? Dunkelblond war der, aber ganz schwarze Augen. Irgendwann haben wir uns einen Nachmittag lang geküsst. Aber wieso eigentlich nicht wieder? War das des R. wegen? Oder fuhr ich anderntags in Urlaub, und wenn ja, was für ein Urlaub war das? Frankreich? Dänemark? Schweden? Ach, Urlaub wäre gut, aber Herumfliegen soll man ja nicht mehr, und in Deutschland ist es gerade so schlimm kodderig.

So fahren die Gedanken entgleist von des Tages festen Bahnen schlingernd hin und her, ab und zu erscheint mir ein einzelner Gedanke gut und sinnvoll, soll festgehalten werden, macht sich wieder los, und dann reisst sich das ganze Floß des Bewusstseins los vom Ufer, treibt wieder dem Schlaf entgegen, und wenn ich das nächste Mal die Augen aufschlage, ist es morgens und ich sehr, sehr müde.

Sharknado by IKEA

Das ganze Internet hat den ganzen November Adventskalender für seine drei Kinder und vier Patenkinder handgeklöppelt, nur der J. und ich und Leute, die Kindergeburtstage bei Mac Donalds feiern, haben einen gekauft. Mit Schokolade. In unserem Fall auch noch bei IKEA. Aber wir können das erklären.

Tatsächlich war der selbstgefüllte Adventskalender vor zwei Jahren kein Erfolg. Entweder steckte Schokolade drin, dann freute Sohn F. sich sehr. Oder es waren Zungentattoos, Luftballons, ein Minikreisel, ein Jo-Jo, also so Sachen, die man ansonsten in Geburtstagstütchen tut, und die wurden nur flüchtig angesehen und verwandelten sich flugs in Dinge, die die vielen Spielzeugkisten des Sohns verstopfen. Seitdem also Schokolade. Die isst zwar auch nicht immer der Sohn, aber irgendwer hier wird sich schon opfern.

Neben 22 Stück Schokolade enthält der IKEA-Adventskalender auch noch zwei Gutscheine: Am sechsten und am 24. Dezember gibt es je einen Gutschein mit einem Nennwert von mindestens fünf, maximal 1.000 EUR. Mindestens zehn EUR vom Kaufpreis bekommt man also zurück. In unserem Fall: 10 EUR schenken wir dem F., der sich dafür bei IKEA etwas kauft.

Im vergangenen Jahr blieb es bei den zehn EUR. Nun sind zehn EUR bei IKEA durchaus Geld. Man kann eine Pizza aus Plüsch kaufen, die des F. Lieblingsbär sehr gern isst. Oder einen Plüschpanda, damit der Lieblingsbär endlich Babies bekommt. Oder zwei große Dosen Bügelperlen, wenn man geheime Aggressionen gegen seine Eltern hegt. Der F. kaufte aber nichts davon. Der F. legte noch drei EUR drauf und kaufte Hai.

Hai ist einen Meter lang und aus Plüsch. Sein Bauch ist weiß, ansonsten ist Hai blau. Er verfügt über eine imposante Rückenflosse und viele Zähne. Die sind allerdings auch aus Plüsch. Hai ist nicht so doll gestopft, daher ziemlich weich, ungefähr so wie ein Kissen, deswegen kann man gut auf Hai schlafen oder man lehnt sich gegen Hai oder man legt zumindest seinen Kopf in die Kuhle zwischen Hais Schwanz und seinem Rücken.

Der F. liebt Hai also sehr. Ab und zu spricht er mit Hai. Hai und er sind sich oft einig: Beide essen zum Beispiel gern Fisch. Sie finden den Sportlehrer unsympathisch, lesen aber gern. Abends sind sie noch nicht müde, finden morgens aber nicht aus dem Bett. Beide haben viele Freunde, die im Falle des F. aus Fleisch und Blut, im Falle des Hai auch aus Plüsch bestehen, aber manchmal fühlen sie sich einsam.

Nun aber naht die Rettung. Am 24. Dezember wird der F. Eigentümer von zwei IKEA-Gutscheinen sein. Zwischen den Jahren will er die Gutscheine einlösen. Er hat Hai mindestens einen Gefährten versprochen, denn auch dieses Jahr soll gegen eine Zuzahlung von nur drei EUR ein – diesmal weiterer – Hai erworben werden. Und vielleicht, so hat der F. dem Hai offeriert, hätten beide ja Glück und würden einen großen Gutschein im Adventskalender finden. Und dann würden für 105 EUR sieben Haie gekauft und noch ein bisschen Zuckerzeug dazu. Oder der F. gewinnt das große Los und kann 77 Haie kaufen.

Zumindest im letztgenannten Fall behalten der J. und ich uns allerdings vor, dem F. seine nur beschränkte Geschäftsfähigkeit gem. § 106 BGB entgegenzuhalten und ihm mitzuteilen, dass wir einem entsprechendes Geschäft keineswegs zustimmen.