Gut sieht sie aus, die A., denke ich, als die Tür schwungvoll erst auf- und dann wieder zufliegt. Groß und blond ist die A., mit einem unverwüstlichen Teint gesegnet, der auch nach einer durchgemachten Nacht nach Landluft und Junirosen aussieht, mit haselnussbraunen, riesengroßen Augen und einem giraffenlangen Hals.
„Alles gut?“, drücke ich die Freundin kurz an mich, und die A. zieht eine komische Grimasse. Dann müssen wir alle beide lachen und setzen uns hin. A. ist ein Sonnenkind, ich kann mich in ihrem Leben an kein einziges ernsthaftes Problem erinnern, wenn man mal von den Problemen absieht, die sie höchstselbst auslöst, aber die beeinträchtigen ja nur mittelbar sie. Heute aber scheint es ihr wirklich nicht so wahnsinnig gut zu gehen, deswegen trinkt sie nur ein bisschen Suppe und Sekt mit Sorbet. Die A. war nämlich beim Zahnarzt, und der konstatierte wohl schon eher ernsthafte Zahnschäden, weil die A. sich in den letzten Jahren wohl angewöhnt hat, die Kiefer ganz fest aufeinanderzupressen und nachts mit den Zähnen so stark aufeinanderschlägt, dass ein paar Zähne davon kaputt gegangen sind.
Erst bei A.s zweitem Drink erscheint auch die H. Ich kenne die H., weil wir fast zeitgleich Babies hatten, und habe erst später zufällig erfahren, dass sie mit der A. zusammen studiert hat. Damals, also 2012, hat sie bei mir um die Ecke gewohnt, aber inzwischen lebt sie in Lichterfelde West, hat noch ein Kind mehr, ein riesiges Haus, ständig Ärger mit ihren Kindermädchen, einen dauerhaft abwesenden Gatten, der ständig irgendwo wirtschaftsprüft, und einen Job, den sie aus Gründen der Selbstachtung nicht aufgibt, aber mit einem in fünf Jahren zehnmal operierten Ältesten schon eher selten so ausübt, wie sie sich das vermutlich einmal vorgestellt hat.
Die H. wirkt immer so, als habe sie gerade einen Marathonlauf hinter sich, und so lässt sie sich auch heute schwer atmend auf die Bank fallen, als sei sie aus Charlottenburg nach Mitte gerannt und nicht etwa gefahren. Die H., fällt mir auf, sieht nicht gut aus. H. ist Asiatin, nicht größer als so ungefähr 1,60, und irgendwann in den letzten Jahren ist sie zu einer Frisur übergegangen, die vermutlich sehr praktisch ist, mit der aber jede Frau aussieht wie eine Hommage an Ingrid Matthäus-Maier.
Schlank war die H. schon immer, erinnere ich mich. Inzwischen ist sie aber so dünn, dass man an ihrem Unterarm Elle und Speiche sehen kann, und ihr Kopf im Verhältnis zum Körper irgendwie unverhältnismäßig groß wirkt. Ich glaube, wir sind gleich alt, aber die H. ist inzwischen so dünn, dass auch ihre Haut irgendwie ausgemergelt wirkt, und als die A. und ich uns über den Tisch hinweg ansehen, weiß ich, dass auch sie dasselbe denkt wie ich.
So richtig ist aus der H. nicht herauszubekommen, was ihr eigentlich fehlt. Vielleicht ist es wirklich nur Zeit und die Sorge um das kranke Kind und der Umstand, dass sie sich um alle und keiner sich um sie kümmert. Oft, höre ich, isst sie erst abends, wenn ihr auffällt, dass sie gar nichts gegessen hat, die Reste des Abendessens der Kinder. Auch heute mag sie nichts essen und belässt es bei einer Kanne Tee. Ich esse meine Suppe allein.
Oh je, denke ich auf dem Heimweg nach über die A., die in allem Komfort und geliebt von ihrem freundlichen und nur ein klitzekleines bisschen langweiligen Mann sich an ihrem Glück offenbar gerade die Zähne ausbeisst, und an die H., die unter dem Druck ihres Lebens buchstäblich verschwindet. Was sie hätten anders machen können, grübele ich ergebnislos nach, als ich an der Ampel stehe und mir im zerkratzten Spiegel eines Second-Hand-Ladens zusehe, wie ich langsam über die Straße laufe, die rechte Hand im Nacken, der seit Wochen verspannt ist, aber wer will sich schon umsehen.
“Der Himmel versagt mir den Ruhm, das größte der Güter der Erde; ich werfe ihm, wie ein eigensinniges Kind, alle übrigen hin.” So die Prämisse des Heinrich von Kleist. Das sind Menschen, die nicht vergehen, selbst wenn sie es viel eher tun, als all die, denen jegliche Prämisse fehlt, die Handlung sind und Handlung, ohne sonderlichen Grund. Und als ich neulich im nächtlichen Krankenhaus vor dem grauen Leichnam eines nahen Verwandten stand, horchte ich vergeblich nach einer biblischen Stimme aus dem Off, welche mir die Pointe dieses gerade beendeten Lebens erklärte. Ich verblieb mit einem Schulterzucken, so traurig das auch war. Dennoch empfinde ich es als folgerichtig, wenn ein Leben ohne Prämisse auf der Kirchenbank vergeht. Vielleicht wäre das auch der A. und der H. ein Trost…
Am Ende lieben wir doch fast alle das Leben, nicht? Die kleineren Freude, frischer Kaffee, diese flirrenden Schatten auf den Bürgersteigen unter den Platanen, nächtliches Herumlaufen, all das. Pointen hin und her. Dass der arme Kleist das alles nicht gefunden hat, ist ein bisschen zum Jammern. Gerade vorgestern habe ich an ihn gedacht, weil ich verabredet war, um ihn zu besuchen. Ich liebe ihn sehr, und ich glaube, von der Liebe hat er schon etwas verstanden. Ich habe einmal über ihn geschrieben, das ist sehr lange her: http://modeste.me/2005/06/28/die-liebe-der-penthesilea/