Alle Beiträge von Modeste

Tagebloggen (4.10.18)

Viel gearbeitet. Ich wünschte manchmal, ich wäre jemand, dem es gegeben ist, zart und elegisch in einem schilfgrünen Morgenmantel auf einem Sofa zu liegen, verträumt seine Blicke über das Meer schweifen zu lassen, und ab und zu elegante, kleine Törtchen zu verzehren. Flugs – das ist bei solchen Damen immer so – stellte sich jemand ein, der mich anbeten und mir die Törtchen kaufen würde. Vielleicht würde er mir mit einem Riesenfächer auch noch so ein bisschen Luft zuwedeln. Neben meinem Sofa läge ein Riesenstapel sehr guter Bücher. Freundliche Menschen läsen mir vor.

Tatsächlich esse ich mehrfach täglich Mengen, die einem Waldarbeiter angemessen wären, lese selbst, liege selten und arbeite eigentlich richtig gern. Man stelle sich mich also als so eine Art kräftiges Arbeitstier mit wilden, schwarzen Zotteln vor, in der einen Hand einen Telefonhörer, in der anderen eine überschwappende Kaffeetasse mit saurem Filterkaffee, und ungefähr zehn offene Fenster auf dem Bildschirm vor mir. Ich trage aus Phantasielosigkeit täglich blaue Kleider, gern mit Kaffeeflecken drauf. Kein Wunder, dass es so mit Anbetung und Törtchen und Fächer nicht funktioniert hat.

Was soll man machen. Man macht das Beste daraus. Radelt ins Büro, telefoniert gut gelaunt mehrere Stunden, brüllt freudig in Diktiergeräte, verschlingt mittags drei Semmeln mit Rinderschinken und Gorgonzola und Mayonnaise mit Ei, krümelt mit den restlichen Besprechungskeksen von vorgestern die Tastatur voll und radelt wieder nach Hause. Tröstet den kleinen Sohn, der am Boden zerstört ist, weil zwei Mädchen aus seiner Klasse schönere Zahlen malen, brät große Klumpen aus Lamm mit Pellkartoffeln und Mais aus der Dose, weil das mein Lieblingsgemüse ist. Schreibt einer lieben Freundin einen Geburtstagsbrief und malt sich wohlig aus, wie in dem sehr poshen Fitnessclub, in das man demnächst eintreten will, alle glauben, man sei als abschreckendes Beispiel engagiert

 

Tagebloggen (3.10.18)

Als es klingelt stehe ich noch unter der Dusche. Ich hatte den Besuch um 11:30 Uhr erwartet, obwohl ich die befreundete Familie um 10:30 Uhr eingeladen habe. Unsere Söhne sind befreundet, auch wir haben uns angefreundet, aber wir sind noch nicht so eng wie mit unseren anderen Freunden, die seit Jahrzehnten bei uns ein- und ausgehen. Terminkonfusionen sind also noch ein bisschen peinlich.

Ich befülle also etwas hastig Platten mit Käse und Wurst, schneide Brot, der J. füllt Sektgläser und kocht Kaffee und außerdem backe ich Waffeln. Im Wohnzimmer demonstriert Sohn F. seinem Freund seinen Roboter. Der ältere Sohn des Besuchs liegt auf dem Sofa und liest Comics.

Wir essen zu viel und trinken ein bisschen Sekt, die Stunden schwappen hin- und her. Wir sind uns sympathisch, aber noch nicht über den Punkt hinweg, an dem man weitere Selbstdarstellungen nicht mehr nötig hat. Wir zeigen uns also allseitig als Party Animals a. D., als Kinder aus durchweg westdeutsch gutem Hause mit vernünftiger Schulbildung, geistreich und gut im Geschäft mit exakt dem Maß an liebenswürdigen Schwächen, das man aufweisen sollte, damit Leute einen nicht für arrogant halten. Unsere Kinder berechtigen zu den schönsten Hoffnungen. Ob die – wirklich nette – andere Familie das eigentlich auch anstrengend findet? Wann fing das eigentlich an, dass man Jahre braucht, um sich anzufreunden?

Nachmittags geht der J. mit Sohn F. und einem neuen Schulfreund ins Kino. Der neue Freund wohnt im Nachbarhaus, das sich mit unserem den Hinterhof teilt. Sohn F. sieht in Ermangelung eines solchen Geräts kaum fern, deswegen sind Filme für ihn immer sensationell. Entsprechend euphorisch kehrt er wieder.

Kurze Zeit später taucht der Vater des neuen Freundes mit dem jüngsten Sohn im Babyalter und Kuchen bei uns auf. Die Kinder lärmen im Wohnzimmer, wir essen viel zu viel Zucker, tauschen mit dem noch neueren, reizenden Bekannten Eckdaten aus (Schwabe! Irgendwas mit Medien!), trinken zu viel Kaffee, um früh schlafen zu gehen, und erst gegen Abend sind wir zum ersten Mal am heutigen Tage allein zu dritt zu Haus,  essen Suppe und sitzen schließlich auf dem Sofa und ich lese vor. Kalle Blomquist, Kapitel elf.

Tagebloggen (2.10.18)

Ich friere und mein Sattel ist nass. Ob diese Stadt eigentlich keinen Herbst kann, habe ich mich aufgehört zu fragen nach all den Jahren, aber als ich an der Schule ankomme, habe ich diese Stadt verflucht und ungefähr die Hälfte ihrer Bewohner und ihre Verkehrsbetriebe dazu. Ich hasse heute alle. Ich will nach Hause, eine warme Decke, Champagner und die Godiva-Pralinen ohne alkoholische Füllung. Leider ist nichts davon verfügbar.

Mein Sohn ist dafür um so aufgeräumter. Er ist meistens glänzender Laune, heute aber ganz besonders, weil er seinen besten Freund aus dem Kindergarten trifft. Leider geht er nicht zur selben Schule, wie es überhaupt die ganzen Kindergartenkinder in verschiedene Richtungen verstreut hat. Um so herzlicher wird er umarmt, als die beiden sich in der Schule des Freundes sehen. Einige Meter vor mir laufen sie zu zweit zu uns nach Hause und erzählen sich etwas über Lehrerinnen, Essen, Schließfachsysteme, Banknachbarn und AGs.

An der Ampel werde ich hellhörig. Gerade ging es um die Sieben Weltwunder. Jetzt berichtet der F. vom offenbar achten Weltwunder: Dem Schokoladenbrunnen in einem All-Inclusive-Hotel auf Malta. Ja, genau. Da waren wir nämlich, der F. und ich, als ich im Frühling viel Zeit hatte und spontan einem Angebot im Internet gefolgt war. Die Reise war spottbillig, auf Malta waren wir noch nicht. Der geschätzte Gefährte, der ein solches Etablissement niemals betreten würde, hatte eh keine Zeit, und ich schwöre, es war nicht so erschreckend, wie man denkt, wenn man an All Inclusive Hotels denkt.

Tatsächlich war unser Zimmer groß, die Pools sehr okay, ich mochte das Essen und wir waren jeden Tag unterwegs. Allerdings kam es zu einer unvorhergesehenen Panne: Der F. fand das Hotel toll. Er fieberte jeden Tag auf die Shows am Abend hin, die ich mir mit jeweils zwei Gin Tonic schöntrank. Er liebte die Buffets und es tat ihm um jede Mahlzeit leid, die wir wegen Besichtigungen verpassten. Und am Sonntag, einen Tag vor Abreise, wurde er eines veritablen Wunders teilhaftig: Auf dem Buffet stand ein Schokoladenbrunnen und rundherum lagen Spieße mit Marshmallows und der F. durfte sich nehmen, so viel er wollte. Ich glaube, er stieß sogar kleine, entzückte Freudenschreie aus. Weil er weiß, dass Leute ungern Kinder freudenschreien hören, ging er zu diesem Zweck kurz vor die Tür.

Wir waren mit dem F. wirklich überall. Er kennt Bauernhöfe und Luxushotels, Ryokans und dänische Holzhäuser, er war in Kyoto ebenso wie am Tegernsee, an der Côte d’Azur und in der Toskana, in Split und Heiligendamm, auf Kreta und in Florenz, in San Francisco wie in Verona: Aber wenn Sie ihn heute fragen, was ihn auf Erden am meisten beeindruckt hat, dann ist es nicht ausgeschlossen, dass er Ihnen den Schokoladenbrunnen nennt. In dem Supersonderangebotshotel auf Malta. Seinem besten Freund hat er Hotel wie Schokoladenbrunnen jedenfalls angepriesen wie der Baedeker den Petersdom.

Tagebloggen (1.10.18)

So viele Briefe habe ich geschrieben. So wenige abgeschickt. Und die schönsten, die habe ich nicht mal behalten. So viele Stunden habe ich telefoniert. Auf dem Boden gelegen, unter dem Esstisch, das rissige, gräuliche Holz und von einem Thema zum anderen mäandert: Flüsse waren wir. Flüsse, Rinnsale manchmal und manchmal ein Strom.

So kurz sind meine E-Mails heute geworden. Drei, vier Sätze, Verabredungen, Kurznachrichten. 12.20 Uhr bei Tuan. 20.00 Uhr im Holmes Place. Mittwoch gern. Ja, ich hole ihn auch ab. Ja, ich auch.

Kein Raum bleibt mir mehr für das Ungefähre, keine Stunde für alles, was fließt. Nie zum Telefon greifen und nicht wissen, was ich wissen werde, wenn ich auflege. Ich bin ein gut gepflegter Garten, wusstest du das? Ich bin das reine Barock mit seinen schnurgeraden Alleen.

Ich bin das Aufstehen um 7:30. Ich bin der direkte Weg ins Büro. Ich bin der schattenlose Mittag, die Telefonliste, die Fristenzettel und die Wiedervorlagen. Ich bin der Anruf vom Alex bei Mami Camilla wegen dreier Pizzen. Ich werde nie wieder der Wind in den Haaren sein, die schmelzende Unschärfe, die Hitze im Schatten, und manchmal macht mich das traurig.

 

Herbst

Dann aber, als sei etwas über Nacht zerbrochen, wache ich eines Samstags auf und es ist Herbst. Es ist nicht nur ein bisschen kälter für ein paar Tage. Es sind auch nicht die kühleren Nächte. Es ist, als wäre die Erde unter unseren Füßen auf einmal schwerer und die Wolken aus Beton. In den Bäumen sackt nun Tag für Tag der warme Saft des Sommers in den Kapillaren nach unten, und an den Ampeln schauen die Leute aneinander vorbei.

Dein Sommerhaar, mein Lieber, treibt nun auf den schwärzesten Wassern. Deine Haut weht fleckig in Streifen im Wind. Ich aber, ich horte den Sommer aus Beeren und Bienen in Töpfen. Ich stapele Säcke voll Limo und Licht. Ich bin der hellere Himmel, der schimmernde Staub, und ich fliege des Nachts mit den Schwalben.

Im Frühtau

Ach, und damals im Winter: Viertel vor sieben los, der Sitz eiskalt und dann durch die Dunkelheit, vorbei am See, wo das Eis knackte und knisterte, der weiße Atem, und dann die Räder ins Gras werfen und schnell in die letzte Reihe. Im Sommer noch schlaftrunken am See vorbei, das kalte Wasser, wenn noch zehn Minuten Zeit waren, nass in die Kleider, und dann kurz vorm Lehrer durch die offene Tür.

Seit dem Abi nie wieder. Im Studium nie vor zehn aufgetaucht. Im Referendariat, im Beruf: Nie vor halb zehn irgendwo gewesen. Wenn ausnahmsweise einmal frühe Termine anstanden ächzend und stöhnend durch die Republik geschleppt.

2012 dann Sohn F. angeschafft. 2018 Sohn F. eingeschult. Aufgeregte Kinder mit riesigen Ranzen, Brunch mit den Großeltern, zu viele Süßigkeiten, und am Montag dann schlagartig eine Stunde früher los. Eine Stunde. Sechzig Minuten.

Jeden Morgen schlaftrunken ins Bad zu wanken. War nicht heute Sport? Wo bleibt denn der F.? F.! F.!!!! Wo ist deine Hose? Sind das die neuen Socken? Sind die Bleistifte angespitzt? Haferflocken stehen auf dem Tisch. Nein, heute Mischbrot, aber ich habe dir Rosinen eingepackt. Und zwei ganz kleine Salamis. Machst du bitte den Mund auf? Ja, nur ganz schnell nachputzen. Ihr müsst jetzt los! J., dein Schlüssel liegt auf dem Schrank. Ja, jetzt aber schnell. Nein, das schaffe ich nicht, Mama hat Fristen. Papa kommt. Nein, morgen aber. Ja, ich komme auch zum Judo. Ja, ich dich auch. Iss aber nicht nur die Rosinen.

Und dann ist es immer noch erst 7:25 Uhr.

Alle Engel

Schon färben sich die ersten Blätter, schon gibt der Sommer ein bisschen nach, nicht sehr, nur einen Hauch von Kälte spürt man spät auf den Wangen, und sitzt dann doch am nächsten Tag in kurzen Hosen vorm Stall, als würde dieser Sommer niemals enden.

Kein schöner Land flüstern die trockenen Kiefern, und die Wolkenfetzen schießen flink wie Fische über das klare Blau. Irgendwo hörst du dein Kind lachen, das springt mit zufälligen Gefährten über Mäuerchen, thront auf aufgetürmten Strohballen und hat am Abend sogar Stroh in den Ohren.

Du aber schwingst dich wieder auf dein Pferd, als hätte es keine Zeit gegeben, als du das nicht mehr konntest. Du reitest in den schimmernden Staub. Du bist gesegnet von den reisenden Vögeln, dein Pferd greift aus, dass die Kartoffeln fliegen auf dem abgeernteten Feld, und du würdest singen, wären da nicht die anderen Leute, und mehr Leben unterm Himmel als alle Engel und du.

Glänzen

Wie gesegnet wir sind, denke ich und schaue über den Park. Unter ein paar Bäumen laufen unsere Kinder hinter einem Ball her. Blonde Haare wehen, dünne Beine in Jeans oder Leggings strecken sich zu weiten Sprüngen, und um zwei große Decken herum stehen einige Erwachsene, essen Kuchen und sprechen über Reisen, Restaurants und ihre alternde Eltern.

Die C. hat Sohn F. einen Kuchen gebacken, mit einer Schultüte drauf und seinem Namen, und befeuert von mehr Zucker, als er jemals gegessen hat, springt er ausgelassen über das ausgedörrte Gras dieses viel zu warmen Sommers. Ab und zu höre ich seine Freunde und ihn lachen. Wir kennen uns alle seit immer, stelle ich einer neuen Freundin meine alten Freunde vor, und über unseren Köpfen schwingt ein heller, schon fast herbstlicher Himmel im Wind.

Vielleicht sind wir nicht mehr als der letzte Lidschlag des Friedens. Vielleicht geht ein paar hundert Kilometer südöstlich von hier unsere Welt in Hässlichkeit und Hass zuschanden. Vielleicht fällt aber all das, was uns heute erschreckt, wie Schorf wieder ab von der Welt, und auf unsere Kinder wartet Freude, Sorglosigkeit und Glanz: Wie auf uns.

Tagebloggen (13)

In einem Roman wäre es eine vermutlich etwas platte Symbolik, aber während im letzten Jahr nahezu jede Bahn, in der ich saß, zu spät, gar nicht oder nicht klimatisiert fuhr, läuft dieses Jahr alles wie am Schnürchen. Der ICE ist sauber und pünktlich, im Regionalexpress habe ich die erste Klasse komplett für mich, und als ich mir einen Kaffee bestelle, bietet mir eine freundliche ältere Dame ein Stück selbstgebackenen Kuchen an und erzählt von ihren Reisen als junge Frau in den Sechziger Jahren nach Frankreich, in die Türkei, nach Afrika und dass sie Theater gespielt hat in Tanger und Tel Aviv und Portugal kurz nach Salazar, und ich trinke mit ihr einen Kaffee auf Vergangenheit und Zukunft und hoffe, als ich aussteige, dass auch ich eines Tages etwas zu erzählen habe, wenn ich mal alt bin.

Auch wenn ich noch nicht weiß, was.

Tagebloggen (12)

Abends sitzen wir mit Freundin C. und Familie im Mami Camilla um die Ecke, essen Pizza und trinken sardischen Wein und sprechen über unsere Berufe und unsere Kinder und unser Leben.

Die C. arbeitet zuviel. Die C. hat immer zu viel gearbeitet, quasi vom ersten Tag unserer Freundschaft an, als wir in Speyer zusammen saßen, weil wir das Ballkommittee waren, das den Semesterabschlussball organisieren sollte. Das Semester war lustig, kalorienreich und sehr, sehr turbulent, der Ball war großartig, und in gewisser Weise sind wir immer das Ballkommittee geblieben.

Jetzt sind wir schon fast Mitte vierzig. Unsere Kinder laufen mit anderen Kindern die Hufelandstraße rauf und runter, wir sprechen über Urlaub und Möbel und Freunde und unsere langsam alternden Eltern, und als ich nach Pizza und einer geteilten Nachtischplatte ziemlich viel Rotwein spät im Bett liege, überlege ich, was ich auf dem Ball damals eigentlich anhatte, und es fällt mir nicht mehr ein.