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Die Liebe in Gedanken

Waren einmal ein junger Mann und eine Frau, lebten irgendwo in einem kleinen Dorf, und vielleicht wären sie damals zusammengekommen und hätten geheiratet, wenn sie nicht weggegangen wäre als einziges Mädchen aus dem Dorf und Lehrerin geworden wäre, und er blieb und wurde Installateur. Wenn sie in den Semesterferien nach Hause kam, traf sie ihn und sie sangen gemeinsam und er spielte Akkordeon.

War eine junge Lehrerin, die sang im Chor in der Kleinstadt, in der sie das Kultusministerium geschickt hatte, und traf einen Arzt, der Witwer war und drei Kinder hatte und heiratete ihn und bekam noch ein weiteres Kind. Gab ihren Beruf auf, erzog vier Kinder, und als der Arzt starb, war sie 40 und ging wieder unterrichten. Im Urlaub fuhr sie mit den vier Kindern in die Berge zelten oder setzte sie in den Zug in das Dorf, aus dem sie kam. Urlaub bei Oma.

War ein Installateur, der heiratete erst ein Mädchen aus dem Dorf, dann eine Frau aus dem sehr fernen Osten, die ihn beide verließen. Trank ein bisschen zuviel, hörte dann ganz auf zu trinken, wurde ziemlich wohlhabend und spielte abends allein im Garten seines sehr großen Hauses Akkordeon vor einem Brunnen.

Trafen sich der Mann und die Frau Jahr für Jahr in der Weihnachtsmesse, sie mit Eltern und vier Kindern. Er erst mit seiner Mutter. Dann allein. Freute sie sich irgendwann schon auf dem Weg ins Dorf auf den kurzen Schwatz. Trafen sie sich am ersten Weihnachtstag zum Weihnachtsbaumloben. Verabredeten sie sich irgendwann, als ihre vier Kinder schon recht groß waren. Spazierten sie einmal, zweimal, dreimal um das Dorf und fanden kein Ende. Saßen sie zu Silvester in ihrem Elternhaus und sangen gemeinsam zum Akkordeon.

Verkaufte sie das Haus ihrer Eltern. Verkaufte er die Firma und sein Haus. Kaufte er ein Haus am Mittelmeer und eine Wohnung in der Stadt, in der sie auch lebte. Wurde sie pensioniert. Fuhr sie mit ihm ans Meer. Zogen sie in der Stadt zusammen. Heirateten sie kurz vor Weihnachten vor drei Jahren.

Jetzt haben sie sich wieder getrennt. Ihre Mutter, meint meine Freundin, bleibe die letzten Jahre wohl lieber allein.

Tänzer

Ach, denke ich. Mal wieder tanzen. Nicht in irgendeiner fensterlosen Halle mit Leuten, die schrecklich schwitzen. Nicht im Dunklen. Vielleicht am Meer, am Abend auf einer weißen Terrasse über schimmerndem Sand. Vielleicht auf einer Wiese. Ich würde ein langes Kleid tragen, mit Blumen drauf, meine Schuhe ausziehen, damit meine Absätze nicht einsinken, es sollten Männer in Anzügen spielen, und ich würde die Augen schließen und solange tanzen, bis ich mich vergesse, verliere, mich auflöse in Sommer und Nacht, und käme am nächsten Morgen müde und frierend nach Hause, meine Schuhe ramponiert in der linken Hand.

Der Wasserstand in Spinimbecco

Das südliche Veneto ist sozusagen das Niedersachsen Italiens: Irgendwie nördlich, irgendwie flach,  keine Gewässer und keine Berge und alle haben Hunde. 70% der hiesigen Bauwerke sind in den Fünfzigern entstanden und haben bis heute die charakteristischen Fenster und Türen.

Das Essen ist natürlich besser als in Niedersachsen. Himmel, ich wünschte, die Römer hätten die Schlacht im Teutoburger Wald gewonnen und ganz Germanien romanisiert. Dann könnte man heute auch in Cloppenburg oder Neumünster etwas Genießbares essen.  So muss man sich im Urlaub schadlos halten. Seit unserer Ankunft habe ich deswegen ungefähr 1 kg italienischen Käse gegessen, überhaupt beginnt sich die Region von meinem Appetit zu fürchten. Und was ich nicht esse, isst mein Sohn.

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Fürchte dich nicht

Vielleicht hat er’s von mir. Ich bin bis heute außerstande, einen Horrorfilm zu sehen, ohne mich in den Unterarm meines Nachbarn zu krallen, bis der glaubt, ich sei von der Dunklen Seite entsandt, um ihn zu zerfleischen. Oder es liegt an mangelnder Abhärtung, weil wir keinen Fernseher haben und in F.’s Anwesenheit auch keine Filme auf dem iPad sehen. Wie auch immer: Letzte Woche hätte der sechsjährige Sohn fast den Kinofilm „Biene Maja“ verlassen, weil die Aussicht, dass Majas Bienenstock den Sommerhonig herausgeben hätte müssen, fertig gemacht hat. Ungefähr die Hälfte des Films saß der F. stocksteif vor Aufregung auf meinem Schoß.

Im Flugzeug nach Thailand sah der F. dreimal hintereinander „Puh der Bär“, weil die ersten fünf Minuten Lego Ninjago genauso unerträglich spannend erschienen wie die von „101 Dalmatiner“. Und bei den von ihm geliebten Hörspielen kommt nur Wssstwsss gut an, die komplett ohne Spannungsbogen auskommen. Aber auch bei Büchern äußert sich eine gewissermaßen gesteigerte Empfindsamkeit. Die Sache mit den Drei Fragezeichen zum Beispiel ist ebenso wie die Geschichte mit Jesus, Pontius Pilatus und dem Kreuz nicht gut aufgenommen worden.

Letzt Woche dann beschloss ich, dass es so nicht weitergehen könne. Vermutlich ist es F.’s Ansehen nicht förderlich, wenn er im Kindergottesdienst schluchzt, wenn Gott, der Allmächtige und Allwissende, die Städte Sodom und Gomorrha mit Mann und Maus vernichtet. Ich zog also los und erwarb den ersten Band der Kinderbuchreihe „Der kleine Vampir“. Die älteren unter Ihnen kennen das Buch.

Am selben Abend setzte ich mich an des F. Bettrand, zückte das Buch und begann. Nach wenigen Zeilen bat der F. mich um den sofortigen Wechsel zu Bullerbü. Nach einigen Zeilen mehr versteckte er sich unter der Bettdecke. Zwei Stunden später stand er mit seiner Decke über dem Arm vor unserem Bett, kroch in die Mitte und ist bis zum heutigen Tage nicht mehr aus unserer Schlafstatt zu vertreiben.

Und um ganz sicherzugehen, kuschelt der F. seit neuestem mit Knoblauch.

Das Glück

Weil Freundin I. Schwangerschaftsdiabetes hat, habe ich schon am Freitag eine chinesische Tomatensuppe geplant, also so eine angedickte Hühnerbrühe mit Tomaten und verschlagenem Ei und Sesamöl, und danach Rindfleisch mit Paprika und Austernsauce aus dem Wok. Ananas und Zitronensorbet geht nur ganz wenig.

Weil am Samstag nach Leipzig keine Züge fahren, können M. und M. mit den Kindern nicht zum Familiengeburtstag fahren und melden sich kurzerhand auch noch bei uns an. Wir kennen uns alle ganz lange und so gut, dass wir in den Küchen der jeweils anderen bedenkenlos die Kühlschränke aufreißen und wissen, wo was in den Schränken steht, deswegen wundere ich mich überhaupt nicht, sondern kaufe einfach noch Tofu und Rindsgehacktes hinterher. Mit Knoblauch, Ingwer, Miso und Gochujang köchelt mein Mapo Tofu kurz vor vier auf dem Herd. Reis und Suppe stehen fertig in der Loggia.

Neben mir schneidet der F. sehr exakt und konzentriert Lauch in schmale Streifen. Der F. ist jetzt sechs und viel, viel geschickter als ich. Ich glaube, ihm ist noch nie etwas kaputtgegangen, und er hackt Ingwer, deckt Tische und verteilt Servietten durchaus gekonnt und mit beständig guter Laune. Das halbe Internet ist voll von Texten, in denen Eltern mit einem merkwürdigen Stolz auf ihre ungezogene Brut von lauthals plärrenden Gören berichten, die alles zertrümmern, was ihnen zu nahe kommt, bevor sie allnächtlich lautstarke Parties feiern, aber der F. isst und schläft wie eine eins, ist quasi nie krank und hilft bereitwillig im Haushalt. Auf einem Hocker steht er schließlich am Herd, rührt mit Stäbchen in einer Pfanne Rindfleisch und Paprika, damit sie nicht ansetzen, und schüttet mit der linken Hand gekonnt den ganz fein gewiegten Ingwer dazu.

Als ich noch klein war, mussten die Kinder in der Küche essen und die Erwachsenen saßen im Esszimmer. Bei mir sitzt jeder in der Küche, die Kinder lärmen direkt neben uns an einem Campingtisch, und verschlingen unglaubliche Mengen Reis mit Sojasauce und mikroskopisch kleine Portionen aller anderen Speisen. Der ganze Rest geht auf uns.

Urlaubsbedingt haben wir uns wochenlang nicht gesehen. Es geht um Urlaubsziele und Essen, alte Freunde und noch ältere Feinde, große und kleine Politik, Pläne für demnächst und später, und ab und zu rennt – längst sind die Kinder aufgestanden – ein einzelnes Kind in aberwitzigen Verkleidungen durch den Raum. Der M. holt beim Späti noch mehr Bier, ich trinke ein drittes Glas Scheurebe und der F. jagt eigenem Bekunden nach mit den beiden Kindern von M. und M. in seinem Zimmer eine Mücke.

Kurz vor acht ist Schluss. Der Besuch verabschiedet sich, der F. gähnt und während der J. in der Küche die Spülmaschine einräumt, lese ich dem F. vor. Der kleine Vampir, gestern frisch gekauft, wird als „zu spannend“ abgelehnt, Bullerbü soll es sein, und so liegt der F. mit roten, runden Wangen gelöst auf meinem linken Arm, während ich Lisa und Britta auf Oles kleine Schwester aufpassen lasse, und der F. auf meinem Arm langsam schwerer und schwerer wird, bis sein Kopf zur Seite fällt. Leise gehe ich raus.

Schön, schreibe ich meiner Mutter auf WhatsApp, die wissen will, wie mein Wochenende war. Dass ich im Kino war, zweimal, und spazieren, und Freunde gesehen habe und Besuch hatte, und dass es mir sehr, sehr gut geht, und vielleicht ist das schon das Glück.

Wenn Shiva tanzt

Die indische Mythologie ist wahnsinnig verwirrend. Vermutlich stehen Inder ebenso fassungslos vor den Erzählungen eines Wüstestammes, der im Laufe der Jahrhunderte viel Ärger mit seinem ausgesprochen rachsüchtigen Gotte hatte und im Nahen Osten bedingt durch seine rauhbeinigen Nachbarstämme ganz gut rumgekommen ist. Aber bei den alten Indern erinnere ich mich im Wesentlichen nur noch an die vielarmige Göttin der Zerstörung und den tanzenden Shiva. Der stand aus Messing in einem Rad auf einer Fensterbank, die der Mutter des S. gehörte, einer immer leicht theatralischen Dame, Therapeutin, gern gekleidet in sackartige Tuniken mit Mustern wie englische Tapeten.

Diese ständige Präsenz des indischen Gottes der beständigen Wiederkehr muss auf den S. irgendeine hypnotische Wirkung ausgeübt haben.  Ich weiß aus sicherer Quelle, dass sein Mittelinitial „W.“ für Widukind steht und nicht für Wiederholung, aber Shiva scheint das anders zu sehen. Aber urteilen Sie selbst.

*

Der S. ist – wie die meisten von uns – Jurist. Er ist mittelmäßig attraktiv, durchschnittlich intelligent, normal freundlich und von mittlerem Temperament. Anders als andere Juristen, die erst mit Ende 30 allerfrühestens zur Familiengründung schreiten, heiratete der S. völlig überraschend mit 28  und wurde im gleichen Jahr Vater. Seine Frau kenne ich nur von Bildern, aber sie wurde mir als blond, sanft und ein bisschen dumm geschildert. Es handelte sich um eine Krankenschwester.

Der S. promovierte, wurde Anwalt, arbeitete sehr viel und fing eine Affäre mit einer Sekretärin an. Irgendwann wurde die Sekretärin schwanger, der S. musste sich entscheiden, der S. entschied sich für die neue Frau, die mir als blond, sanft und ein bisschen dumm geschildert wurde. Der S. war damals 37.

Der S. blieb Anwalt, wurde Notar, Partner der Kanzlei in der beschaulichen Universitätsstadt, in der er er sich ein Haus renovierte. Grüne Fensterläden, Rosen im Garten, noch ein weiteres Kind. Der S. wurde etwas stark in dieser Zeit, vor allem um die Hüften, aber auch seine Frau wurde wohl etwas mollig und noch behäbiger als zuvor. Es nahm also niemanden wirklich wunder, dass der S. irgendwann den Verlockungen der ihn umgebenden Weiblichkeit nicht mehr widerstand, höchstens, dass es diese Verlockungen überhaupt gab, aber wie auch immer: Der S. fiel in Liebe mit einer Physiotherapeutin, die mir als – ja, ja – blond, sanft und ein bisschen dumm geschildert wurde. Seine Frau zog zurück zu ihrer Mutter und fordert einen Haufen Geld, den sie vermutlich nicht bekommen wird. Die Physiotherapeutin zog bei ihm ein.

Und nun wartet die Welt auf das Kind. Auf die Scheidung. Und auf die nächste blonde, sanfte und ein bisschen dumme Frau an des S. Seite.

*By 23 dingen voor musea from Nederland (Shiva Nataraja) [CC BY-SA 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)], via Wikimedia Commons

Schon morgen

Auf einmal wach. Durch die Holzlamellen der Jalousie wirft der Pool zitternde Schlieren aus weißem Licht an die Schlafzimmerdecke, und irgendwo sprechen zwei Männer leise in einem fremden Idiom miteinander, das ich nicht einordnen kann. Es ist sieben Uhr früh.

Die heiße Nacht hat meine Haut mit einem Film aus Schweiß überzogen, und meinem Sohn F. klebt der hellbraune Pony feucht in der Stirn. Sehr klein und sehr friedlich sieht er aus, wie er so neben mir schläft, die Hände geöffnet und das Gesicht ganz still. Rotwangig wie ein Apfel. Auf seinem T-Shirt fährt ein VW-Bus durch ein Gebirge. Ob er in seinen Träumen wohl auch durch die Berge reist, den Wolken so nah wie nirgendwo sonst?

Morgen mittag schon werden wir unsere Koffer packen und fahren nach Bangkok. Morgen Abend sitze ich irgendwo im sechzigsten Stock auf dem Dach und unter mir glitzert die Stadt. Heute ist unser letzter Tag am Meer. Noch einmal durch den Pool schwimmen, über den sich die Kokospalmen neigen, als würden sie mich beschenken wollen mit Süße und Duft, noch einmal am Meer, wenn der Himmel in tausend Farben schwelgt wie die Wellen, und noch einmal der Wind, der landeinwärts weht wie die Winde es nur am Meer vermögen, wenn sie sich nach dem Frieden der Wälder verzehren.

Wsssssstwsssssss

Der F. ist – man kann das nicht beschönigen – hörspielsüchtig. Das Leiden begann vor zwei Jahren mit Conni, einem kleinen Mädchen, das in einer Vororthölle der Achtziger mit bemerkenswert spießigen Eltern aufwächst, und (Conni, Conni, meine Freundin Conni) noch viel weniger erlebt als Großstadtkind F., dessen Eltern sich am Gartenzaun erhängen würden, wären sie zu der Existenz von Connis Familie (mit der Schleife im Haaaaar) verdammt. Zum Glück geht alles im Leben vorbei, also auch das.

Versucht haben wir es dann mit Käpt’n Sharky, mit Pumuckl (neckt, Pumuckl versteckt, und nieeeemand …), aber nichts davon hielt lange vor. Statt dessen ist der F. seit mindestens einem satten Jahr der Hörspielreihe Was ist was verfallen, in unserem Haushalte nur als Wssssssstwssssss bekannt, was sehr schnell und komplett ohne Vokale so lange auszusprechen ist, bis ein extra zu diesem Zweck mitgeschlepptes ehemaliges Diensthandy seufzend rausgerückt wird. Die bekannten Kindersachbücher gibt es nämlich auch zum Hören, und zwar mit Besserwisser Theo, dem weiblichen Satzzeichen Tess, das keine Ahnung hat und Sängerin werden will, und Quentin. Zur Abwechslung sind das mal keine Kinder, sondern Punkt, Ausrufe- und Fragezeichen. Es gibt über 70 Hörspiele, die kann man bei iTunes Match laden. Ich glaube, ich kenne sie (Archäologen haben im nachgebauten Stonehenge viele Experimente gemacht) alle.

Der F. tut nahezu nichts anderes (Vor ungefähr 550 Mio. Jahren begann das Kambrium). Oder besser: Er tut so gut wie nichts, ohne dass ein Hörspiel läuft. Er malt einen bemerkenswert missgestalteten Elefanten (In Hamburg kam es im Jahre 1842 zu einem Brand in einem Speicher). Er springt trotz strengstem Verbot auf dem Bett (Milchprodukte und Fleisch dürfen niemals vermischt werden). Er lässt seine Playmobilmännchen gegeneinander kämpfen (Ein Agent muss immer damit rechnen, dass er selbst beobachtet wird).

In Berlin stört das nicht weiter. Der F. bewohnt die ehemalige Mädchenkammer unserer Wohnung, die ist weit genug weg, um nicht ständig (Die Sprachexperten haben ein feines Gehör und darüber hinaus viele Spezialgeräte und Computersoftware) alles mitzubekommen, was er gerade tut oder hört. Im Urlaub aber wird wssssstwsssss zum ernsthaften Problem. In einem Hotelzimmer mit dem F. will der J. nach dem letztjährigen Trip nach Japan nie wieder zum Opfer seiner Hörspiele werden. Aber auch in einer Ferienwohnung ist es so gut wie unmöglich (Die erste vollständige Liste der sieben Weltwunder wurde im zweiten Jahrhundert vor Christus von dem Schriftsteller Antipatros von Sidon geschrieben), dem F. und seiner Leidenschaft zu entkommen.

Kopfhörer hat er nicht, weil wir fürchten, dass er wssssstwsss dann so laut macht, dass er noch vor seiner Einschulung nicht mal mehr das hört, was er wirklich hören will. Wir leben also mit unserer persönlichen Geißel Gottes (Ein Wolf ernährt sich hauptsächlich von Fleisch). Bis vor kurzem war wenigstens am Strand Ruhe. Oder im Pool. Oder wenn wir unterwegs waren, in einem Elefantencamp oder auf dem Nachtmarkt. Kürzlich allerdings, wir drückten uns gerade an einem Stand mit gefälschten Sonnenbrillen vorbei, huschte eine kleine, magere, weiße Katze an uns vorbei. „Ein Kätzchen!“, jubelte der F., lief hinter dem Tier her, kehrte an meine Hand zurück, sah mich an und sprach: „Ist eine Katze auf der Jagd, so bewegt sie sich äußerst vorsichtig. Sie hält sich nah am Boden und nutzt die natürliche Deckung.“

Vielleicht kündige ich iTunes Match auch einfach wieder.

Vom Markt

Schwer atmend hängen der J. und ich am Küchentisch in den Seilen. Es ist kurz vor acht und eigentlich könnte ich jetzt unproblematisch bis morgen schlafen. In Rückenlage wohlgemerkt. Unter mir biegt sich ganz leicht der Boden, rechts und links von meinen Hüften geben die Lehnen meines Stuhls ein bisschen zu den Seiten nach. Hinter der verschlossenen Tür des Kinderzimmers unserer Ferienwohnung schläft der F. den Schlaf des Gerechten. Wir wollten eigentlich essen gehen, aber als der F. bei der ungefähr 25. Wiederholung seines Hörspiels „Was ist Was – Bienen“ gegen 18.00 Uhr einfach einschlief, musste der J. das Kind des Hauses bewachen und ich war auf dem Markt gegenüber.

Der Markt besteht aus vielleicht 30 Buden. Wir sind ziemlich weit weg von der Innenstadt, deswegen gibt es kein Kunsthandwerk und keine Andenken, sondern Fisch auf großen, metallenen Platten, Fleisch, das der Metzger mit einem Beil in Stücke haut, Gemüse und Obst, und ansonsten fertige Speisen. Es wird gegrillt, panierte Hähnchen werden wuchtig zerteilt, Salate gestampft und gemischt, in großen Schüsseln gibt es Curries, gedämpfte Bananenblätter mit irgendwas drin, und einige ausgesprochen schwer definierbare Speisen. Wenn man dreimal da war, grüßen die Leute einen und reden auf Thai auf einen ein. Wenn man nichts versteht, reden sie noch lauter.

Es ist gar nicht so leicht, sich in Thailand zu überfressen. Ein bisschen Reis, ein paar gegrillte Hähnchenspieße, ein Maiskolben: Das ist ja quasi noch für den hohlen Zahn. Darauf eine Runde Frühlingsrollen, Wachteleier in Wantanblättern, ein bisschen scharfen Glasnudelsalat mit Tofu: War was?

Gut, die Schnitzelspieße. Und die Rindsbulettenspieße in der scharfen Sauce. Und den Hackfleischsalat mit Tintenfisch und den grünen Bohnen und sehr, sehr viel Chili. Und den Sticky Rice mit ganz gelber, triefender, duftender Mango. Die Onigiri mit Thunfisch drin. So kleine Reismehlküchlein mit Kokosmilch. Frische Ananas. Und dazu Chang Bier.

Das Rosinenbrot und die Windbeutel stellen wir für morgen früh in den Schrank. Melone gibt es auch erst wieder morgen. Heldenhafterweise habe ich auf den Anlauf weiterer Chips in der Geschmacksrichtung Wasabi verzichtet, vermutlich ginge es auch gar nicht mehr, denn hier sitzen wir nun: Zu satt für jede weitere Regung, uns gegenseitig matt versichernd, dass das hiesige Essen unmöglich fett macht, und mit dem vagen Plan, den großartigen Besuch in einem Elefantencamp für alte Elefanten heute morgen demnächst noch einmal zu wiederholen. Wenn wir uns bis dahin wieder bewegen können.

Tigermückenmutter

Der F. und ich werden immer gestochen. Wenn wir irgendwo, wo’s warm ist, ankommen und aus dem Flugzeug steigen, erwacht mit der ersten Berührung fremder Erde auch die letzte Mücke des Landes und wirft sich noch vorm Gepäckband genießerisch auf uns, um uns bis auf den letzten Tropfen auszusaugen. Der F. ist ein wenig allergisch und schwillt dann schrecklich an. Das nervt schon in Deutschland. In Südostasien sehe ich quasi nur noch Tigermücken randvoll mit Dengue-Viren meinen armen kleinen Kerl gierig umschwirren. Ich würde öffentlich immer schwören, das Gegenteil einer Helikoptermutter darzustellen. Was ich niemals zugeben würde: Ich bin Tigermutter. Tigermückenmutter, besser gesagt. Ich bin die Irre mit dem Elektrotennisschläger, die hinter der Glasfront unserer Ferienwohnung ein leicht verrücktes Mückentennis aufführt, und Tennisspielerinnentriumphschreie ausstößt, wenn die Mücke elend verschmort.

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In Thailand führen alle möglichen Religionen eine leicht verschwommene, friedliche Koexistenz. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist man hier meistens Buddhist, aber die Sorte mit dem dünnen Buddha, glaubt aber auch an Dämonen, zum Beispiel an so einen blauen Kerl mit Eberzähnen, den Elefantengott und noch einige andere HIndugötter. Weihnachten wird aber auch gefeiert. Mich persönlich irritiert das überhaupt nicht. Ich stutze weder bei thailändischen Buddhisten mit baumelnden Bildern von Mutter Teresa am Taxirückspiegel. Noch denke ich über die ganzen Buddhas in den Gärten deutscher Weihnachtschristen nach. Ich bin sozusagen spirituell gründlich abgestumpft. Der F. hat diesen Abstumpfungsprozess aber noch vor sich, und die bohrenden Fragen eines Sechsjährigen, der Religion tatsächlich noch ernst nimmt, verschönern, man könnte sagen, nicht jede meiner Lebenslagen.

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Heute findet das chinesische Neujahrsfest statt. Vor der Mall Blueport dreht sich ein blinkender Drache. Eine kleine Combo haut kräftig auf die Pauke, kleine Mädchen tanzen in rot und Verkäuferinnen verschenken Ballons und Schokolade. Schön ist das, freut sich der F. über seinen knallroten Luftballon. Aber er, fährt er sehr ernsthaft mit gekrauster Nase fort, mag nur sehr leise Religionen, am besten solche mit schöner Musik.

Dann steigen wir ins Taxi.