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Drückten deine schönen Hände

Sogar er hat aufgehört zu rauchen. In seiner Wohnung riecht es jetzt nur noch nach Bienenwachs und alten Büchern und ein ganz bisschen auch nach Minzöl und Verbenen. Es ist kurz nach elf, aber alle Vorhänge sind zugezogen, und auf dem Tisch brennen drei Kerzen.

Er ist seit einigen Wochen pensioniert. Er muss damals viel jünger gewesen sein, als wir dachten, wenn man sich denn überhaupt Gedanken über das Alter von Lehrern macht, dazu sah er schon damals aus wie ein alter Mann. Manchmal sehe ich ihn auf Bildern der Renaissance: Er ist ein magerer, strenger, florentinischer Mönch.

Er hat jetzt Zeit. Er lese viel, sagt er. Sitzt mir auf dem Diwan gegenüber, knetet seine Hände, als sei er – merkwürdig, das zu denken – verlegen, springt immer wieder auf und bringt mir schwarzen Tee in schweren, grob getöpferten Schalen. Er habe gebacken für den Besuch, er habe ja sonst nichts mehr zu tun, sagt er, und stellt ein Tablett mit Scones, Clotted Cream und selbstgekochter Marmelade auf den Tisch.

Reisen, sagt er, werde er nicht mehr. Reisen lenke ihn ab. Er sei noch nie gereist, mal abgesehen von den Kursfahrten, die unumgänglich seien, wenn man einen Leistungskurs unterrichte. Es sei ja auch schön gewesen, damals in Rom, sagt er zu mir, und jetzt lächelt er tatsächlich, springt wieder auf, sucht irgendetwas im Regal, findet es nicht, setzt sich wieder, steht wieder auf und sitzt am Klavier.

Er singt noch immer Bariton. Er spielt sicher, ohne Noten, zarter, leichter, als ich angenommen hätte, und schaut alle paar Momente auf den entfleischten Körper Jesu am Kreuz an der Wand hinter mir. Bist du bei mir, singt er, und unterbricht sich in den letzten Takten. Du magst ja gar kein Bach, sagt er zu mir, und spielt sehr schnell und ohne Blick auf seinen hölzernen Erlöser zwei Volkslieder. Lieb ich dich doch, singt er, und schaut Richtung Fenster, wo er den See sehen könnte, wenn die Vorhänge nicht zugezogen wären.

Ich muss los, sage ich und er nickt. Es ist kalt, bietet er an, mich zum Bahnhof zu fahren, aber ich bin schon an der Tür. Komm mal wieder, sagt er, und ich lächele, entziehe meine Hand seinem Griff und laufe am Ufer durch einen Vorhang von feinem Regen dem Bahnhof zu.

Bei Nacht

Wie ein Gemisch aus Lehm und stumpfen Steinen schlägt der Regen hart auf die Dächer. Das ist kein leichter, lauer Sommerregen, das ist noch nicht einmal der warme Monsun in den Straßen Bangkoks, wo ich vor fast 15 Jahren im weissen Kleid vor dem Seven Eleven in der Sathorn Soi 16 stand, dampfend durchnässt bis auf die Knochen, lachend mit einer Flasche Bier in der Hand.

Der Boden ist von den Niederschlägen der letzten Tage schon so durchtränkt, dass die trübe, braune Brühe auf der Straße steht wie ein schmieriger Strom aus Schlamm. Es ist kurz nach drei. Dunkel sind die Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Nutzlos, sich selbst genug, beleuchten nur die Schaufensterlampen Schmuck, Möbel und Kleider.

Als ich klein war, erzählte meine Mutter mir, dass bei Nacht die Dinge zu einem eigenen Leben erwachen, aber so lange ich auch am Fenster bleibe: Schlaff hängen die Ketten des Juweliers vom Regal, und die Beine der Betten des Tischlers zucken nicht einmal ein winziges bisschen.

Kalt ist es, als ich schließlich in der Loggia stehe, einen Trenchcoat über dem Nachthemd und mit nackten Füßen. Schon entfärbt sich die Nacht, der Himmel wird bleich wie ein Fischbauch und ich lege mich wieder ins Bett und male mir warme, goldleuchtende Nächte aus, raschelnde Kleider, Haut, Wodka aus eiskalt beschlagenen Gläsern und Lampions in den Bäumen.

Konfetti, 6

Am letzten Abend sitzen wir in einer ganz kleinen Sushibar ein paar hundert Meter vom Tokyo Skytree – so einem riesigen Aussichtsturm – entfernt. Die beiden Sushiköche sind steinalt, sicherlich mindestens 70, es gibt drei oder vier Tische, und als die Köche unsere Antworten auf unsere Fragen nicht verstehen, übersetzt ein anderer Gast, der als Augenarzt, erzählt er, schon einmal in Berlin war. Auf einem Kongress an der Charité.

Ich esse so viel ich kann, weil man rohen Fisch leider so schlecht mitnehmen kann, und frage mich, warum um alles in der Welt es in Berlin eigentlich nichts Vergleichbares gibt. Stehen dem optimalen Sushi in Berlin irgendwelche objektiven Sachzwänge entgegen? Oder liegt das schlicht an einem niedrigeren Qualitätsmaßstab? Wie dem auch sei: Ich vermisse diesen Fisch schon jetzt. Vielleicht heirate ich beim nächsten Mal einen Thunfisch.

***

Der F. schaut fern als gebe es kein morgen, was insofern natürlich auch zutrifft, als dass er zu dermaßen hemmungslosen Konsum außerhalb von Flugzeugen keine Gelegenheit hat. Ich dagegen schaue ein bisschen lustlos erst „The King’s Speech“, den ich mag, und fange dann „Belle de Jour“ an, den ich als einziger Mensch der Welt noch nicht kenne, und leider nicht zu Ende sehen kann, weil ausgerechnet nach einer Stunde Film der neben mir sitzende F. eine Filmpause einlegt und sich mit mir unterhalten will. Was aus Séverine wird, werde ich also nicht erfahren.

***

Ist Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, eigentlich schon einmal aufgfallen, wie intensiv die Berliner riechen? Ich meine jetzt nicht Schweiß. Das riecht man auch manchmal, aber eigentlich ja schon eher selten. Nein, ich meine so eine spezielle Mischung aus Waschmittel, Parfum, durchaus sauberer Haut und diesen speziellen Talggeruch von jedenfalls nicht ganz frisch gewaschenen Haaren. Ist mir noch nie aufgefallen. Aber offenbar riechen die Menschen in Japan so dermaßen nach gar nichts, dass ich nach einer halben Stunde Fußweg durch Prenzlberg olfaktorisch dermaßen zu bin, dass ich mich gern für ein paar Tage an die Nordsee setzen und die Wellenkämme anstarren würde. Statt dessen muss ich zur Kosmetik und höre mir in einer dicken Wolke aus Duftstoffen die lustig dauerplaudernde Kosmetikerin an, die von ihrem älteren Freund (demnächst 36!), ihrem Engagement auf Kreuzfahrten und ihren Lieblingsbeautybloggern erzählt.

Ihr Angebot, mir Wimpernextensions zu machen, lehne ich ab.

Geld

Erschreckt sehen wir uns an. Das – sehr empfehlenswerte – Ryokan nimmt keine Karten. Unter vielfältigen Entschuldigen und Erklärungen, die wir alle nicht verstehen, reicht man uns die Karte zurück. Wir müssten, so erscheint es auf dem Display des Handys, das man uns entgegenhält, im nahegelegenen Ort Geld holen und zurückkommen.

Kein Beinbruch, versichern wir uns. Man ruft uns ein Taxi, wir steigen in dasselbe, lassen uns zwischen Reisfeldern und kleinen Holzhäusern zehn Minuten in die nächste Kleinstadt fahren und steuern einen Supermarkt an. Da gibt es meistens Geldautomaten.

Leider kann auch der Fahrer kein Englisch. Eigentlich kann in dem Ort überhaupt niemand englisch, das stört aber niemanden. Alle haben Handys, in die sprechen sie und lassen dann Google Translator übersetzen. Das funktioniert ganz gut. Auch der nette, ältere Taxifahrer versteht nicht sofort, aber so nach und nach, was wir wollen.

Vorm Supermarkt sind wir noch ganz optimistisch. Leider kommt der J. nach zwei Minuten zurück. Anderer ATM. Dieser nimmt nur japanische Karten. Der Taxifahrer fährt also weiter. Auch der nächste ATM funktioniert jedoch nicht mit VISA. Und der übernächste auch nicht. Wir diskutieren, ob vielleicht Paypal funktioniert, ob man überweisen kann, wie wir das verständlich machen, wenn wir uns so schon kaum verständlich machen können, und dann beschließen wir, dass wir jetzt einfach zum Hotel zurückfahren und den besten Weg irgendwie mit denen klären. Mit starker Betonung auf irgendwie.

„Halt!“, rufe ich nach ein paar Kilometern. Eine Post. Postunternehmen liegt so eine gewisse Internationalität im Blut, die wissen bestimmt was, und ganz richtig klebt an den beiden Geldautomaten im Vorraum ein Schild. Visa. Gottseidank, lobe ich meinen Schöpfer und schiebe meine Karte in den Schlitz, der sie laut schnalzend verschlingt.

Leider gibt es für meine Karte auch hier keinen Service. Ich fluche. Vielleicht komme ich für die Flüche des heutigen Vormittags eines Tages in die Hölle. Weil auf der mir zuletzt gezeigten Seite steht, man solle mal fragen, gehe ich, als ich fertig geflucht habe, rein. Natürlich kann auch hier niemand englisch, in diesem ganzen Ort kann niemand englisch, wozu auch, aber schließlich kommt doch jemand mit mir vor die Tür, schiebt feierlich meine Karte in den Schlitz und es passiert| nichts. Mit beiden Händen und einem freundlichen Lächeln wird mir meine Karte wieder überreicht.

Inzwischen stehen auch der J. und der F. neben mir. Wir schieben nun hintereinander alle Karten, die wir überhaupt haben, in den verdammten Automaten. Höflich steht der Postangestellte neben uns und erklärt etwas, was wir auch nicht verstehen. Die Situation ist insgesamt schon eher so mittel.

Irgendwann aber stöhnt der J. erleichtert auf. Kreditkarten verweigert die höllische Maschine nach wie vor. Aber er erkennt – an dieser Stelle ertöne ein Tusch – VPay.

(Ja. So habe ich auch geguckt.)

Das Abhebungslimit von VPay zwingt uns zwar, gleich alle unsere ec-Karten hintereinander in den Automaten zu stecken. Aber immerhin: Erleichtert sitzen wir zehn Minuten später im Taxi. Irgendetwas sagt mir, dass der Taxifahrer sich über uns Anfänger herzlich amüsiert, während er uns wieder zum Hotel fährt, wo wir unser Gepäck einladen, bar bezahlen, und dann zum Bahnhof fahren, wo der Taxifahrer uns fröhlich winkend entlässt.

Der Welt abhanden gekommen

Damals zum Beispiel. 1994, eine Kleinstadt in Italien. Ich im Doppelstockbett, neben mir die N., die trockene, riesige Semmel zum Frühstück, Aprikosenmarmelade und Kaffee. Eine Woche lang zuhören, dass die N. den F. liebt und deswegen den D. nicht lieben kann, und dann ist die N. doch mit dem D. zusammen, dessen Tante irgendwo am Meer eine Villa hat, und fährt mit ihm dorthin. Ich könnte auch mitkommen, bin aber nach einer Woche Verständnis für die immergleichen Klagen der N. dermaßen müde, mir die erwartbaren weiteren Klagen anzuhören, dass ich meine Sachen packe und verschwinde. Da stehe ich nun am Bahnhof und weiß nicht weiter.

25 Jahre später würde ich aufs Handy schauen und wüsste, wohin. Vermutlich hätte auch die N. mich schon dreimal angerufen und ich wäre zurückgekommen. So aber fahre ich erst ans Meer, treffe zwei Mädchen aus Marburg, die ich von einer Party flüchtig kenne, fahre mit denen nach Rom, treffe dort – er ist seit Wochen da – immer noch den J.2 und fahre weiter mit ihm nach Süden. Weil wir nur zu Lesen haben, was wir haben, liest mir der J.2 aus seinem Xenophon vor und rezitiert Gedichte. Er liebt die Expressionisten, damals, und der schnelle Puls der „Menschheitsdämmerung“ mischt sich mit dem ratternden Zug und dem Film aus Schweiß und Staub auf meiner Haut. Wo wir ausgestiegen sind, habe ich vergessen. Es war ein kleines Dorf, weitab vom Meer, inmitten von Wäldern. Eine Abtei gab es, wo die Mönche sehr schön sangen.

Ob der verwilderte Aprikosenhain am Rande des Dorfes hinter der ausgebrannten Ruine eines Hauses noch steht? Die überreifen, im hohen Gras gärenden Früchte, umsummt von den Wespen. Zwischen den Bäumen das weiche, leicht faulig riechende Moos. Meine zerstochenen Beine. Die schwefelgelben Flechten auf der Schattenseite der Mauern. Die alte Frau im Laden neben der Kirche, die keine Sprache sprach außer Italienisch, und wie überrascht wir waren, dass sie unser Latein irgendwie verstand. Vielleicht tat sie auch nur so. Die sauren, länglichen Tomaten und der stumpfe Ricotta, der Gottesdienst am Sonntagmorgen, und wie selbstverständlich es uns erschien, in diesem Nest komplett aus der Welt gefallen zu sein, unerreichbar für jeden,  auf eine Art, die es jetzt nicht mehr gibt, wie weit wir auch fahren.

Stepford Kids

Bei Erwähnung der Côte d’Azur denkt ja jeder an kleine Hündchen, die Gucci tragen, und gewaltbereite Islamisten, die gern Gucci tragen würden. Die Côte d’Azur ist dem entsprechend eigentlich gerade umfassend passé, dabei trotz dieses Umstandes nach wie vor unfassbar voll, und zu den vielen Menschen, die dort ihre Sommer verbringen, gehören auch nach wie vor ziemlich viele Kinder.

Drei Jahre hintereinander waren auch wir mit dem erst sehr kleinen, dann größeren F. immer mal wieder in eher etwas kleineren Orten der Côte d’Azur, einen Sommer mit einer Horde Freunde, die auch ihre Kinder mithatten, und je älter die Kinder wurden, um so peinlicher wurde der Gegensatz zwischen unseren Kindern, die man immerzu hört, und den Kindern der französischen Bourgeoisie, den vermutlich bestdressierten Kindern der Welt. Ich weiß, dass es Bücher darüber gibt, wie man auch das eigene Kind dazu bringt, in gedämpftem Ton vernünftig angezogen zu sprechen, ohne andere zu unterbrechen, und durchgängig sitzend vier Gänge zum Abendessen zu verzehren.

Doch nicht nur Frankreich ist bekannt für die Kunst der Kinderdressur. Auch den ostasiatischen Ländern sagt man nach, ihre Kinder so gut zu erziehen, dass die mit 18 das gesamte Schulpensum Asiens, Amerikas und Europas aufsagen können und fehlerfrei Schubert spielen, und so rechnete ich, ich gebe es zu, durchaus damit, unter den missbilligenden Blicke der asiatischen Eltern das am schlechtesten erzogene Kind ganz Japans durch dessen gastronomische Betriebe zu ziehen, denn der F. ist zwar einerseits ein reizender Kerl, andererseits ist er ein ununterbrechbarer Dampfplauderer, grauenhaft indiskret, immer fällt ihm irgendwas aus dem Mund, und außerdem wirkt die Schwerkraft aus schwer verständlichen Gründen in seiner Umgebung doppelt so intensiv wie woanders.

In Tokyo und Kyoto sind wir kaum Kindern begegnet. Gestern jedoch, am Meer in Obama, saßen wir in dem sehr hübschen Speisezimmer des Ryokans, in dem wir wohnen, also so einer traditionellen Herberge. Es gibt sehr edle Ryokans, die haben wir schon wegen des F. Schwerkraftproblem nicht genommen. Unser Ryokan am Meer ist also eher familiär. Entsprechend war also alles voller Kinder, die von ihren hübsch angerichteten Kindermenüs alles außer dem Salat aßen, laut sangen, herumliefen, kreischten und kieksten. Es war fürchterlich laut. Unter normalen Umständen wäre man gelinde genervt, aber so lächelten wir uns entspannt an, bestellten mehr Bier und Sake, aßen sehr langsam unser hervorragendes Dinner und betrachteten wohlgefällig unseren weltraumwaffenimitierenden, sojasaucenverschmierten, schmatzenden Sohn.

Konfetti, 5

Grossartig, diese heißen Bäder. Man zieht sich komplett aus, begibt sich in einen Duschraum, in dem die Leute auf kleinen Plastikschemeln hocken und wäscht sich sodann so gründlich, dass nicht einmal dann, wenn man sich unmittelbar im Anschluss auf einem Riesenstreifen Tesafilm wälzen würde, auch nur ein einziges Hautschüppchen klebenbleiben würde. Sodann steht man auf, begibt sich zu dem Bassin, in dem sich das Quellwasser befindet und steigt hinein.

Nach wenigen Minuten ist man krebsrot. Das Wasser ist ziemlich warm, also gerade noch so angenehm bis erträglich. Da liegt man also herum und dämmert so vor sich hin. Hinter einer Scheibe liegt eine Art unbegehbarer Ziergarten en miniature, sehr hübsch mit Steinen und Moos, flackernd beleuchtet, an der Decke über mir blitzen ein paar Reflexionen des ganz leicht salzigen, etwas eisenhaltigen Wassers, und kurz bevor ich schlafend ins Wasser rutsche, stehe ich auf und trockne mich ab.

Dann sollte man sehr, sehr lange schlafen.

***

Kultur schlägt Natur natürlich immer, und es gibt, das haben wir gelernt, keinen natürlichen Körper, also auch keine Stimme, die wir einfach hätten oder auch nicht. Die hohen Stimmen vieler asiatischen Frauen sind also auch nicht auf andere Stimmbänder zurückzuführen, sondern auf eine kulturelle Vorstellung von Frauenstimmen.

Ich habe an sich keine hohe Stimme. Ich singe scheußlich, aber das im Alt, und wenn ich eigene Diktate höre, bin ich manchmal etwas erstaunt, dass ich tatsächlich deutlich tiefer spreche, als ich mich selbst höre. Insofern ist es schon etwas erstaunlich, wie wenig Zeit in Asien erforderlich ist, um meine Stimme doch ganz spürbar zu verändern. Ich spreche höher. Ich habe das in Bangkok bemerkt, wo ich vor ziemlich vielen Jahren nicht nur ein paar Monate gelebt, sondern auch gearbeitet habe, in Vietnam, und nun auch hier. Wenn Sie mir also in den ersten Tagen nach meiner Rückreise begegnen: Wundern Sie sich nicht. Ich bin es wirklich.

 

Kitsune

Füchse, lese ich dem F. aus Wikipedia vor, sind in Japan ziemlich wichtig. Sie verbinden als so eine Art übernatürliche Postboten die menschliche Welt mit der Geisterwelt, und damit sie diesen Job machen können, können sie jede Gestalt annehmen, bevorzugt die schöner Frauen.

Der F. jubelt. Auch er würde gern alle möglichen Gestalten annehmen, das Konzept überzeugt ihn, auch wenn er als Kitsune an rötlichen Haaren und dem schwer zu versteckenden, weil nicht wegzauberbaren  Fuchsschwanz immer noch gut erkennbar wäre, aber irgendwas ist schließlich immer.

Auch ich fände eine Spontanverwandlung gerade ganz gut. Es ist nämlich fast 35 C warm, außerdem ist es hier am Fuße des Fushimi Inari Schreins, bekannt für die Tausende roter Tore, die einen Rundweg über einen kleinen Berg säumen, dermaßen voll, dass es nicht übel wäre, jetzt eine Verwandlung in jemanden vorzunehmen, der klein und temperaturunabhängig wäre. Zum Beispiel einen Frosch. Ich dagegen bin knallrot, schwitze, und beneide die überraschend zahlreichen Frauen in ihren eleganten Kimonos heftig, die irgendwie hitzeresistenter zu sein scheinen als ich.

Auch der J. flucht. Der J. photographiert gern, auch hier steht er in voller Ausrüstung zwischen Horden anderer Touristen und sucht den besten Blick auf Schrein und torgesäumten Weg. Ich schlängele mich mit dem F. an der Hand zwischen den anderen Reisenden hindurch, versuche, den J. nicht ganz zu verlieren, halte den F. mit kleinen Fuchsgeschichten bei Laune und winke ab und zu, damit der J. weiß, wo wir sind.

In hellen Heerscharen anderer Leute geht es aufwärts. Irgendwo hinter uns wartet der J. auf den richtigen Moment, um ein möglichst menschenleeres Bild anzufertigen. Neben mir plappert der F. ununterbrochen. Man muss immer ein bisschen aufpassen, damit man nicht den richtigen Moment verpasst, in dem er weder mit seinem Plüschdrachen noch mit sich selbst spricht, sondern Antworten erwartet, deswegen sage ich schon rein präventiv ab und zu etwas wie „wirklich?“ und ziehe ihn immer wieder auf dem Fokus anderer Kameras. „Da!, ruft er auf einmal. Ich schaue auf und sehe ein hübsches Mädchen mit halblangen Haaren und einem grünen, engen Kleid. Unverkennbar. Rote Haare, auch ein wenig fuchshaft spitzes Gesicht. Es ist die Kitsune.

Doch der F. ist schon weiter. Kein Fuchsschwanz, bedauert er. Und unter dem engen Kleid auch nicht zu verstecken. Enttäuscht schaut er weg. Das fremde Mädchen, entkleidet seiner dreiminütigen Fuchshaftigkeit, läuft unbeachtet weiter.

Jetzt hat den F. das Jagdfieber gepackt. Wo, wenn nicht hier, sollen sie sich aufhalten, die Kitsune, zieht er mich an der Hand den Berg hinauf. Doch jenes Mädchen dort mit der Ledertasche entbehrt der roten Haare, diese drei dort hinten können beim besten Willen keinen Fuchsschwanz verstecken, und schon fast etwas enttäuscht stehen wir irgendwann an einer Weggabelung und schöpfen uns kaltes Wasser über die Arme. Den J. haben wir schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.

Hier oben sind deutlich weniger Menschen als unten. Vielleicht ist es den meisten dann doch zu heiß und zu anstrengend, oder ein Photo unten reicht ihnen. Nur noch eine Handvoll Personen steigt weiter den Pfad hinauf.

„Da! Endlich.“, kreischt und springt an meiner Seite nun endlich der F., zeigt so unauffällig, wie er eben kann, auf einen Jungen und läuft ihm hinterher. Der Junge ist circa 14, seine Haare sind mit viel gutem Willen rötlich, und auf dem Rücken trägt er einen riesigen Rucksack. Dahinter tarnt sich der Fuchsschwanz, erfahre ich, und die übernatürlichen Botschaften befinden sich in der am Rucksack angebrachten Tasche. Als der Junge sich einmal umdreht, winkt der F. ihm zu. Kitsune winkt lächelnd zurück.

Glücklich springt der F. talwärts. Nicht jeden Tag grüßt die Geisterwelt einen dermaßen freundlich, nicht einmal, wenn man fünf ist. Kitsune trabt auf dem Bergpfad weiter, dem Geisterreich entgegen, der F. läuft glücklich einem kleinen Stofffuchs und einem großen Eis zu, und sogar der J. hat das menschenleere Bild, man weiß nicht wie, am Ende nach Hause getragen.

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Konfetti, 4

In der Burganlage Nijo-ji stehe ich ein weiteres Mal wie der letzte Depp vor diesem vollendet schönen Bau. Ich weiß einiges über europäische Atchitekturgeschichte, ich kann auch über die zumindest großen Linien der europäischen Geschichte ein bisschen was erzählen, aber auf die Fragen von Sohn F.  in dieser Burg des Shōgun hebe ich eins- ums andere Mal etwas hilflos die Achseln und fasele ziemlich wirres, frisch angelesenes Wissen. Vielleicht sollten sich diejenigen, die regelmäßig den Schulunterricht umgraben, mal um eine stärkere Berücksichtigung der nicht europäischen Geschichte kümmern.

Abgesehen von diesen etwas peinlichen Momenten ist die Burg super. Sie wirkt gleichzeitig wohnlich wie majestätisch, elegant wie ein Rokokoschloss, aber nicht so töricht verspielt, und im Garten möchte ich sofort mehrere Stunden schweigend auf und ab laufen und einfach nur jeden einzelnen Busch anstarren und Schönheit inhalieren.

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Sake ist eigentlich ein ziemlich überzeugendes Getränk. Nach tagelangem Überlegen, wie man den Geschmack von Sake beschreiben soll, tendiere ich gerade dazu, die Ähnlichkeit zu Wodka zu betonen, aber ohne den Spritgeschmack, weil viel, viel weniger alkoholisch. Ansonsten gibt es sehr gute, weiche, sehr klare, etwa ölige, und uninteressante bis schwer trinkbare gibt es natürlich auch.

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In Kyoto fällt einmal mehr auf, dass der J. und ich nur Großstadt können. Sobald nicht die ganze Stadt mit einem soliden ÖPNV-Netz überzogen ist, laufen wir eigentlich nur noch wirr durcheinander und beschuldigen die jeweilige Stadtplanung, den lieben Gott und einander, wieso wir bei 31 C eigentlich seit 40 Minuten kopflos durch unbekannte Straßen laufen. In Tokyo lief es eigentlich super. In Kyoto fahren wir nur noch Taxi, nachdem wir Kind F. hoch und heilig schwören mussten, ihn nie wieder in so grauenhafte Situationen der Orientierungslosigkeit zu bringen wie heute Mittag.

Konfetti, 3

Ich bin begeistert. Auf den Straßen Kyotos gehen die Frauen in geschmackvoll-dezenter Kleidung umher, Passanten weichen sich höflich lächelnd aus. In dem Geschäften werden die Waren angenehm beleuchtet in farblich passenden Ensembles präsentiert, und gerade als Berlinerin, die ja schon erleichtert ist, wenn ihre Umgebung voll bekleidet bleibt und nur halblaut herumpöbelt, erwäge ich ernsthaft die Umsiedlung. Zudem ist Kyoto tatsächlich so hübsch, wie alle sagen.

Die Ortsansässigen indes scheinen die eigene Eleganz nur bedingt zu genießen. Oder sie erkennen den eigenen Perfektionismus bei der Verwandlung ihrer selbst wie ihrer Stadt in ein Kunstwerk in den Franzosen wieder: Jedenfalls ist Kyoto voll von französischen Restaurants und Bars, in denen die ortsansässige Bevölkerung davon träumt, Paris zu bewohnen.

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Ich persönlich dagegen hege keine Träume darüber, comme une parisienne durch mein Leben zu schreiten. Ich träume ja auch nicht von einem Dasein als Einhorn. Ich bin auch an sich sehr gern Berlinerin, besonders, wenn reichlich Distanz die Stadt vergoldet, und so lese ich in den Abendstunden (das göttliche Rindfleisch der japanischen Kühe liegt schwer in meinem Magen) tatsächlich ein bisschen Benn, ein bisschen Gryphius, ein paar Zeilen Hilde Domin  und bedaure ein bisschen, nur im Urlaub Lyrik zu lesen.