Meine Küche allein. Das ist so ein typisches Berliner Loggienzimmer, zu dick überstrichener Deckenstuck mit Füllhörnern, Stäbchenparkett, und die Ikeaeinbauküche, die schon drin war, als wir da eingezogen sind. Das war vor sechs Jahren. Ein langer, massiver Tisch, sechs geflochtene Stühle aus den Dreißigern mit grünen Polstern und irgendwelche Lampen. Könnte man vermutlich was draus machen. Sieht man ja ständig in irgendwelchen Blogs. Aber ich bin schon zu faul, die Küche auch nur auszumessen, zu träge, Lampen auszusuchen und eine Elektriker mit der Installation zu beauftragen, und jemanden damit zu betrauen, die scheußliche Rauhfaser runterzureißen und zu spachteln bin ich auch.
So ist das eigentlich in allen unseren Räumen. Und bei unserem Porzellan. Und bei der Wäsche, einem Sammelsurium aus Ikea, mitgenommenem Leinen von zuhause und irgendwelchen Einzelstücken, von denen ich jetzt auch nicht weiß, wo das Zeug eigentlich herkommt.
Wenn ich mich frage, wieso das hier eigentlich nicht so aussieht wie die lässigen Wohnungen in irgendwelchen Blogs, beruhige ich mich meistens damit, ich hätte keine Zeit. Das ist natürlich Quatsch, ich habe sogar Zeit für dieses Blog, vermutlich eins der sinnlosesten Hobbys, die ein Mensch sich überhaupt so zulegen kann. Mir fehlt vermutlich schlicht so ein gewisser Schönheitssinn, so ein Sinn für das beiläufig Elegante, so eine Desinvoltura, das Gegenteil von so einer geschleckten Schöner-Wohnen-Hölle, und weil ich das eine nicht will und das andere nicht kann, sieht es eben so aus, wie es aussieht.
Ab und zu aber sticht mich der Hafer. Dann fange ich an, im Internet zu graben. Dann male ich mir aus, wie es aussähe, wäre diese Wand grau, und dort hätte ich einen alten, halbblinden Spiegel. Hier eine dieser schönen, industriellen Lampen. Mein Biedermeiersofa einen schieferfarbenen Chintzbezug statt einfach wieder grün, und auf dem Boden einen dieser prächtigen persischen Teppiche in meergrün und einem pudrigen, hellen Rosé.
Nichts davon werde ich realisieren. Wenn nicht eines Tages einer kommt, der morgens klingelt und ankündigt, er werde nun diese Wohnung generalüberholen, werden sie mich vermutlich eines Tages aus dieser Wohnung tragen, und es sieht keinen Deut anders aus als heute. Aber immer, wenn ich irgendwo Wohnungen sehe, die mich beeindrucken, Hotelzimmer, Bilder im Netz, dann bilde ich mir ein, auch bei mir ginge da noch was, plane herum, und das – immerhin dies – sind dann immer recht vergnügte Stunden.
Als der F. und ich von den alten Ägyptern im Neuen Museum kommen, steht sie an der Bahn. Sie ist nicht älter als 20, hat ein kleines Kind auf den Rücken gebunden und bettelt die Passanten um Geld an. Sie ist hübsch, schwarze Haare, dunkler Teint, und einen langen, bunten Rock.
Aus dem F. an meiner Hand sprudelt alles heraus, was er über die alten Ägypter denkt. Über ihre Mumien, ihre Katzen, ihre Götter, ihre falschen Bärte, und er spekuliert nach Herzenslust, was wohl ein Ägypter denken würde, wenn er hier mit ihm an der Berliner Museumsinsel stünde. Vor lauter Begeisterung springt er vom einen Bein auf das andere, und dann verlangt er ein bisschen Geld. Für die Bettlerin.
Wir haben dem F. erzählt, dass man jedem Bettler etwas geben muss. Dass zwar in Deutschland eigentlich jeder vom Staat etwas zu Essen und ein Dach über dem Kopf bekommt, aber es Leute gibt, die aus irgendwelchen Gründen trotzdem auf Spenden angewiesen sind, und selbst wenn neun das Geld nicht wirklich bräuchten, man den zehnten, wirklich bedürftigen Bettler nicht ohne Gabe ziehen lassen darf. Solange man diesen aber nicht wirklich erkennt, muss man eben allen etwas geben.
Eine andere Mutter einen Schritt entfernt scheint das anders zu sehen. „Geh nicht hin zu de Zejeunerin, Shelley.“, warnt sie laut hörbar ihre auch ungefähr vierjährige Tochter. Laut hörbar erklärt die Frau, die „Zejeuner“ würden alle stehlen. Ich drehe mich zu ihr um. Sie ist jünger als ich, mit dunklem Ansatz unter den strohigen, hellblonden Haaren und einer rosa Kapuzenjacke. Ihre Beine stecken in weißen, dünnen halb langen Hosen. Ihr Knöchel ist tätowiert. Sie könnte Kassiererin im Supermarkt sein, stelle ich mir vor. Oder sie macht irgendwo sauber.
„Seien sie doch bitte wenigstens so höflich, nicht vor der armen Frau so zu hetzen.“, platzt es aus mir heraus. Die fremde Frau glotzt mich an und öffnet ein paarmal wortlos den Mund. Unsagbar dumm sieht das aus, und ich bemühe mich ziemlich fruchtlos, sie für diese sichtbare Dummheit und ihren dumpfen Rassismus nicht zu verachten. Vielleicht hat auch diese Frau kein schönes Leben, wenn sie es nötig hat, über andere Leute in deren Hörweite herzuziehen, und deswegen lächele ich so freundlich wie ich kann, und sage ihr, dass ich es an Stelle der Bettlerin verletzend finden würde, so etwas zu hören.
„Geh doch dahin, wo du hinjehörst.“, stößt sie schließlich hervor, und diesmal meint sie mich. Ich habe asiatische Vorfahren, das sieht man, aber wenn ich irgendwo hingehöre, dann in den Prenzlauer Berg, den Leute wie ich seit 20 Jahren prägen. Kurz überlege ich, die fremde Frau zu fotografieren, und einfach Anzeige wegen Beleidigung zu erstatten. Statt dessen sage ich ihr nur, wie hässlich ich ihren Rassismus finde.
Dann aber kommt mein Bus. Ich fahre heim in den sonnigen, hellen Prenzlauer Berg mit seinen Cafés, Kinderbuchhandlungen und seinen gut gekleideten Frauen, in dem kleine Mädchen niemals Shelley heißen. An meiner Hand tanzt der F. an den Caféhaustischen vorbei nach Hause, und ich denke darüber nach, ob ich über die tätowierte Rassistin wirklich so anders denke als diese über die arme Bettlerin, und ob die Mutter von Shelley auch so hässlich über andere denken würde, wenn nicht Leute, die mir vielleicht gar nicht unähnlich sind, auch auf sie herabsehen würden, und die Aussichten ihrer Shelley auf ein schönes Leben so gut wären wie die des F.
Es gibt doch gar keine Lieder über Kanonen, sagt der F., und schaut mich auffordernd an. Das ist ein Spiel zwischen uns. Er nennt irgendwas, und ich muss sagen, ob es ein Lied dazu gibt. Es gibt Lieder über fast alles.
Über Kanonen, sage ich, gibt es auch Lieder. Es gibt ganz viele Soldaten- und Landkknechtslieder, aber die kenne ich alle nicht. Ich kenne nur einen Kanonensong, und den singe ich ihm leise vor in unserem dunklen Schlafzimmer, in dem der F. wach mit offenen Augen an die dunkle Decke schaut.
Das hast du dir ausgedacht, sagt der F., weil ich das manchmal mache, aber das weise ich von mir und erzähle ihm von Bertolt Brecht, vom Theater am Schiffbauerdamm, von Helene Weigel, von Berlin und Amerika und von der Dreigroschenoper. Leise, weil ich sehr schlecht singe, singe ich ihm noch das Lied von der Seeräuberjenny vor, und bevor noch der reitende Bote des Königs kommt, fallen dem F. die Augen zu.
Als ich 1995 Abi machte, hatten die Mädchen auch schon geschätzt einen deutlich besseren Abischnitt als die Jungen. Es wollten auch gar nicht alle Mädchen ausschließlich die Orchideenfächer studieren, die ja gern einmal dafür verantwortlich gemacht werden, wenn Frauen mit 40 zwar einen Doktortitel, aber kein Wohneigentum besitzen. Wir feierten, wir packten die Kombis unserer Eltern voll und fuhren davon.
Zum zwanzigjährigen Abijubiläum 2015 fielen wir uns alle in die Arme und zeigten uns viele Photos. Wir haben es alle ganz gut getroffen, will mir scheinen. Ein par Tage später aber fiel mir auf, dass ich von den Frauen mit Kind kaum gehört habe, was sie beruflich eigentlich gerade machen. Oder nur so ganz unscharf. Weil ich unendlich neugierig bin, habe ich die Mädchen von damals gegooglet und ein paar Leute gefragt. Die Jungen, jetzt Männer, haben mir ganz genau erzählt, was sie derzeit beruflich machen, da musste ich nicht mehr googlen. Was soll ich sagen: Die Männer sitzen im Durchschnitt mehrere Hierarchiestufen über dem Durchschnitt der Frauen. Und ich schätze, dass sie durchschnittlich auch mindestens doppelt so viel verdienen. Das liegt an langen Phasen, in denen Frauen mit Kind nicht gearbeitet haben. Und an der Teilzeit, die es Frauen schwer macht, Verantwortung übertragen zu bekommen. Und ohne Verantwortung keine Beförderung und weniger Geld. Als mir das bewusst geworden ist, bin ich ziemlich wütend geworden.
Nun könnte man proklamieren, dass das gleichgültig sei. Weil Frauen ja so schlau sind, zu erkennen, was auf Erden wirklich zählt. Kinder zum Beispiel. Und man sich in der „Tretmühle“ ja eh nur für andere verschleißt. Wenn man dieser Lesart folgt, haben Frauen es quasi raus und führen – finanziert durch blöde Leute, die es halt nicht raus haben – ein auf das Wesentliche konzentriertes tolles Leben.
In Wirklichkeit aber wirken die meisten mir bekannten Mütter weder besonders glücklich, noch besonders entspannt. Weil sie für zu wenig Geld und für zu wenig Anerkennung 20 Stunden in Teilzeit arbeiten. Weil sie Tag für Tag – auch mit Job – ungefähr drei Stunden mehr als Männer Haushalt und Kindern versorgen. Ich kenne Mütter, vor allem in West- und Süddeutschland, die jeden Nachmittag ihre Kinder durch den gesamten Landkreis schaukeln, weil die im Chor singen, Reiten, Tennis und Fußball spielen, Nachhilfe haben und Freunde besuchen. Fast immer besuchen die Mütter die Tage der offenen Tür für Grundschulen, sprechen mit Lehrern, wenn es Probleme gibt, kaufen Kindergeburtstagsgeschenke, dekorieren österlich oder weihnachtlich oder backen Brot, und wenn man sie mal zum Kaffeetrinken trifft, wirken sie ziemlich angestrengt. Manche meiner Freundinnen und Bekannte sind in den letzten Jahren schon optisch ziemlich gealtert und meistens schlecht gelaunt. Manche ähneln nicht mehr so besonders den strahlenden, fröhlichen Mädchen, die ich mal gekannt habe.
Den gleichaltrigen Männern dagegen geht es prima. Ihre Karrieren haben in den letzten fünf Jahren nochmal richtig Fahrt aufgenommen. Die Verabredungen mit den Vorständen, Partnern, Chefärzten und Ressortleitern, alle knapp über 40, kommen interessanterweise immer viel schneller zustande als mit den Frauen, weil die Männer mittags meistens essen gehen, und dann sitzt man ihnen im borchardt, im Desbrosses oder im Bocca die Bacco gegenüber und hört sich ihre Erfolgsgeschichten an. An zu wenig Anerkennung leiden sie jedenfalls nicht.
In meinen Augen spricht diese Situation dafür, dass auch Frauen mehr bezahlt arbeiten. Zum einen steigen dann die Aufstiegschancen, in Positionen anzukommen, in denen man seine Ideen viel besser realisieren kann, als wenn man nicht befördert wird. Das ist sehr befriedigend. Zum anderen verdient man mehr Geld und kann sich mehr Hilfen bei blöden Arbeiten leisten, gut essen gehen, toll reisen und es sich gut gehen lassen. Zum dritten ist es vermutlich nicht nur für mich befriedigender, etwas zu tun, was man gut kann und worauf man sich lange vorbereitet hat. Ich beispielsweise bin ja nicht zufällig Juristin und nicht Kindergärtnerin und auch nicht professionelle Raumpflegekraft, weil ich mich schnell langweile und sehr schlecht putze. Zum vierten meine ich, dass es für die Gesellschaft gut wäre, wenn die weiblichen Talente nicht einfach ungenutzt versickern. Es wäre doch toll, wenn nicht nur die Häuser männlicher Architekten gebaut würden, wenn auch mehr Unternehmen von Frauen verhandelt würden, und wenn auch mehr Frauen in leitenden Positionen in Ministerien Gesetze vorbereiten würde, denn mit einem deutlich größeren Talentpool als heute müsste doch auch die absolute Qualität steigen. Außerdem glaube ich an die Bedeutung von Diversität und vermute, dass es für Rentenkassen und Steueraufkommen toll wäre, wenn mehr Leute einzahlen.
Nun gibt es eine Reihe von Frauen, die meinen, Vereinbarkeit ginge gar nicht. Deswegen wollen sie offenbar, dass der Staat – also der Steuerzahler – dafür aufkommt, dass Mütter sich um Kinder und Haushalt kümmern. Wenn ich mir das praktisch vorstelle, gibt es die bis zu 1.800 EUR Elterngeld dann also vermutlich nicht mehr nur 14 Monate, sondern 36. Oder 72, die Forderungen sind vermutlich nach oben offen.
Doch auch wenn es ein solches Müttergehalt geben würde, wäre das doch nur eine zweit-, ach: drittbeste Lösung. Denn längere Zeiten der Berufslosigkeit führen vermutlich zu noch schlechteren Aussichten, berufliche Träume zu realisieren. In manchen Berufen verändert sich auch alles so schnell, da ist man nach drei Jahren so unfassbar weit raus, da ist ein Jahr das höchste der Gefühle. Die fehlende Anerkennung wird durch ein Müttergehalt vermutlich auch nicht steigen, und zudem – aber das ist Geschmackssache – gibt es kaum etwas weniger Befriedigendes, als den ganzen Tag daheim zu bleiben und Tätigkeiten nachzugehen, die extrem unbefriedigend sind, wie etwa Staubsaugen oder immer wieder „Conni kommt in den Kindergarten“ vorzulesen.
Ich setze also auf mehr Vereinbarkeit und nicht auf den Rückzug. Ich möchte mehr und bessere Kindergärten und echte Ganztagsschulen bis 16.00 Uhr. Ich möchte die volle Absetzbarkeit aller Kinderbetreuungskosten und Kinderkurierdienste, die Kinder zu Vereinen fahren. Ich möchte eine echte Entbürokratisierung, wenn man Putzfrauen und Kindermädchen einstellt. Da sollte es ein Büro im Arbeitsamt geben, wo man hingehen kann, und die regeln das dann alles. Querfinanzieren möchte ich das Ganze durch eine Abschaffung der Pendlerpauschale und des Ehegattensplittings und eine Abschaffung von – dann hoffentlich nicht mehr nötigen – versicherungsfremden Leistungen der Sozialversicherungen.
Ansonsten möchte ich, dass Frauen endlich verhandeln. Mit ihren Männern. Dass Frauen darauf beharren, dass ihr Job ebenso wichtig ist wie seiner, auch wenn sie weniger verdient. Dass Paare die lästigen Termine wie die Vorsorgeuntersuchungen oder den Elternabend paritätisch aufteilen. Dass sie sich nicht damit abspeisen lassen, sein Chef wäre böse, wenn er Elternzeit nimmt oder wegen der U 8 erst um 10.00 erscheint. Ihr Chef ist schließlich auch nicht begeistert, da müssen sich die Männer mehr trauen, die Frauen mehr darauf pochen und auch die Chefs bewegen. Ich würde mir außerdem wünschen, dass Frauen auch einfach mal die Füße stillhalten, wenn das Kind komisch angezogen aussieht oder ein merkwürdiges Geschenk für einen Geburtstag mitbekommt, wie manche Mütter begründen, warum sie sich nicht auf ihren Mann verlassen können. Das werden die ebenso lernen wie ihre Frauen.
Und ich würde mir wünschen, dass Frauen lebhaft, scharf, streitbar darüber diskutieren, wie sie sich Gesellschaft und Familien vorstellen, statt alles unter einer dichten Decke aus Harmonie zu begraben, weil es uns nicht weiterbringt, wenn wir uns nervenschonend versichern, unsere Leben seien alle total okay, wenn das gesellschaftlich und volkswirtschaftlich nicht stimmt. Ansonsten stellt die nächste Generation der Mädchen, die heute Abi machen, in 20 Jahren auch wieder fest, dass die Gesellschaft nicht wirklich weitergekommen ist bei der Verteilung von Geld und Macht.
Wieso gibt es eigentlich keine blonden Frauen, die in Klagenfurt lesen, frage ich mich, und überlege, ob die Juroren, wenn sie Texte aussuchen, eigentlich sofort googlen, wie die Leute aussehen. Früher, das sieht man auf alten Bildern, waren Autoren ja auch mal gern so hässlich wie Kröten, aber als krötenhässlicher Mensch wird man heuer ja gar nichts mehr, da kann man noch so schön singen oder schreiben. Ich wette, sogar als Wissenschaftler ist es inzwischen ein absoluter Nachteil, wenn man klein, fett und warzig ausschaut.
Frau Ada Dorian jedenfalls ist hübsch und dunkelhaarig und sieht eigentlich schon fast exakt so aus wie einige andere Autorinnen aus, aber vielleicht kommt mir das nur so vor. Ich werde ja auch nicht jünger, da schauen dann irgendwann alle jungen Frauen gleich aus und alle alten auch. Nur die Frauen, die so alt sind wie ich, die kann ich noch unterscheiden.
Frau Dorian liest einen Text über einen alten Mann. Der alte Mann ist das letzte Mysterium der Gegenwart, man weiß quasi nichts über sein seelisches Innenleben, weil die alten Männer sich wenig mitteilen, und wer liest schon Martin Walser, aber auch aus Frau Dorians Buch werde ich nichts über alte Männer erfahren, weil ihre Geschichte über einen alten Mann, der sich einen Wald in die Etagenwohnung stellt, mich rein gar nicht interessiert. Die Russlandklischees, die dann auch noch vorkommen, finde ich fade.
Überhaupt ist heute der Tag der Alten. Auch der nächste Text, Herr Gröttrup setzt sich hin, handelt von einem alten Mann, und startet etwas zäh mit der Beschreibung eines älteren Mannes, der so dem Klischee des alten Spießers mit Schrebergarten entspricht, dass ich ein bisschen seufze, weil die Autorin so nett wirkt, dass man ihr einen tollen Einstieg gewünscht hätte. Dann aber hebt Sharon Dodua Otoo zu einer so irrwitzigen, witzigen, leichten Wendung ab, dass ich heiter ein paar Minuten in der heißen Luft über dem Landhafen schwebe und ein bisschen vor mich hin lache.
Das Los aber ist von unerbittlicher Ordnungsliebe. Auch im nächsten Text taucht ein alter Mensch auf, eine Frau diesmal, ein steinaltes Dienstmädchen in einem Hotel, einem verlassenen Hotel, ein rassistisches, böses Dienstmädchen, und ein junges Flüchtlingsmädchen und vielleicht eine schwarze Frau, von der ich nicht weiß, ob es sie in der Realität dieses Romanauszugs wirklich gibt, und es auch nie herausfinden werde, weil schon anhand des kurzen Auszugs des Textes von Astrid Sozio klar wird, dass die Konstruktion nie im Leben funktioniert. Der Text scheitert aufs Krachendste, plumper Schulfunk oder rassistisches Stereotyp, vermutlich beides, und da hilft es dann auch nicht mehr, dass ich der Autorin gern zusehe, auch wenn sie genauso aussieht wie die Hälfte der anderen Autorinnen.
Zum Schluss aber kommt der alte Mann selbst. Dieter Zwicky heißt er, ist Schweizer, und auch diesmal scheitere ich am alten Mann. Ich verstehe nicht, wovon sein Text handelt, ich schlafe fast ein, weil es 32° C warm ist, und sein Text für mich keinen Sinn ergibt. Dazu liest er in schwerem, konsonantenreichen Schweizer Dialekt, ich höre nur den schleppenden, wiegenden Tonfall und ein wahrer Wasserfall an knackenden und krachenden Lauten.
Am Ende sitze ich wieder am See. Ich plaudere ein bisschen, ich sehe in den blauen Himmel, und frage mich, ob mir die alten Leute eigentlich auch so fremd gegenüberstehen, wenn sie mich vorbeifahren sehen, und ob sie mich mögen oder nicht.
Es ist ein bisschen zu hübsch hier. Der karibisch blaue See, der tiefblaue Himmel mit ein paar Dekowölkchen und die pastellfarbenen Häuser mit weißem Stuck. Nach einer Woche würde man böse und krank, aber so ist es fein. Man läuft herum, fährt Fahrrad, isst sehr gut und viel und hört Leuten zu, die Geschichten vorlesen, um einen der vier Preise zu bekommen.
Ich höre ansonsten das ganze Jahr nicht so lange konzentriert zu. Ich warte immer schon, sprungbereit, was ich gleich sagen soll. Hier aber muss ich nichts sagen, ich bin ja kein Juror, und darf schweigen, wenn mir nichts einfällt. Wenn mir etwas einfällt, dann schreibe ich das auf Twitter. Weil viele andere Leute das auch machen, ist es ganz lustig, gleichzeitig aufeinander einzureden, sich zu widersprechen, sich zu bestätigen, Leute, die auch irgendwo hier sitzen und Leute, die ganz woanders sind.
Die Texte sind teilweise sehr toll, wie die Texte von Selim Özdogan und Julia Wolf. Teilweise ganz in Ordnung, wie der Text von Sylvie Schenk oder so interessant wie der verästelte Text über die Verwirrung von Sprache, Geschlechtern, Koffern, Kleidern und Körpern bei Tomer Gardi. Manchmal sagen sie mir nichts, wie der Text von Stefanie Sargnagel, die mir zu plump und zu mürrisch vorkommt, aber vielleicht habe ich sie auch nur nicht verstanden, und der antiintellektuelle Habitus stößt mich ab. Ich will Differenzierung, mehr vom Feingesponnenen, sich mit dem Kopf voran in die tiefen Wasser der Literatur begeben. Plump und schlechtgelaunt ist gerade halb Europa, und nicht die beste Hälfte, da hilft es nichts, wenn jetzt noch die Linken, Liberalen, die, die Konflikte nicht mit Gebrüll und Mistgabeln lösen wollen, auf dem selben Niveau zurückpöbeln.
Tags irgendwann kommt die Nachricht, Österreich wähle noch einmal. Leise, irgendwo im Gebälk unseres morschen Hauses Europa knackt ein Balken, um eines Tages mürbe und morsch zu brechen. Es kommen härtere Zeiten, höre ich den Wind, der abends auf dem Bürgermeisterempfang um das Schloss Maria Loretta streicht, und schließe die Augen auf der Badewiese am Wörthersee, denn besser als jetzt wird es für mich vielleicht nicht mehr werden, und vielleicht auch nicht mehr: Für uns alle.
Sie müssen sich die F. als eine nette Frau in durchaus mittleren Jahren vorstellen, dunkelblaue Caprihose, helle Bluse und Tahitiperlen um den Hals, um die ich sie beneide. Vor 20 Jahren haben wir gemeinsam Abi gemacht, vor zehn Jahren hat die F. zwei Jahre in einem Museum gearbeitet und vor acht Jahren aufatmend ihren Job an den Nagel gehängt. Drei Kinder, eins dieser schönen, klassizistischen Häuser in Potsdam und einen selten anwesenden Mann.
Vor wenigen Monaten erhielt die F. eine Nachricht. F. ist bei Facebook, deswegen ist sie leicht zu finden, und die Frau, die ihr mitteilte, sie sei mit dem Mann der F. verlobt, hatte keine fünf Minuten googlen müssen. Ihre Telefonnummer hatte sie praktischerweise auch, da rief sie wenig später dann auch an.
Die F. hatte bestimmt ein paar unangenehme Tage. Es ist ja nicht so schön, wenn man glaubt, man werde verlassen, zumal wenn man selbstgewählt berufslos ist und das auch bleiben möchte. Irgendwann aber, die Spannung wurde wohl unerträglich, sprach sie ihren Mann an. Der winkte ab.
Niemand weiß, was in diesen schweigenden Anzugträgern vorgeht, die nie über sich sprechen und auch nie über andere, weil die sie gar nicht interessieren. Die Anruferin jedenfalls scheint sich in Hinblick auf die Ernsthaftigkeit der Heiratsabsichten geirrt zu haben, der Mann verharrt, wo er ist, und wenn das Telefon der F. klingelt, ohne dass sie weiß, wer es ist, geht sie einfach nicht dran.
Die F. hat keine Ahnung, ob die fremde Frau wahnsinnig ist oder ihr Mann ein Lügner. Oder von beidem ein bisschen. Es scheint sie – auch wenn ich das nicht verstehe – nicht wirklich zu interessieren, denn sie macht einen ganz gelösten Eindruck, spricht gern über ihre wohlgeratenen Kinder, Kunst, die sie kaufen will und eine neue Tapete im Foyer. Ich habe keine Ahnung, wie es sich lebt, wenn man mit der Liebe abgeschlossen hat, und als ich nach dem Mittagessen durch die Hitze zurück ins Büro gehe, überspült mich auf einmal eine Welle des Mitleids, auch wenn ich weiß: Die F. würde das nicht verstehen.
Nun, an mir lag es nicht. Ich habe dem F. niemals verschwiegen, dass das von ihm hochgeschätzte weiße Fleisch einmal einem Hühnchen als Brustmuskel gedient hatte. Ich kaufe auch ganze Hühner, bei mir hat eine Lammkeule einen dicken Knochen, und ab und zu kaufe ich sogar ein Kilo Markknochen und streiche das Mark dick auf Weißbrot. Das esse ich dann mit Salz. Wir sind mit dem F. auch mehrmals auf Bauernhöfe gefahren, und jeden Sommer fahren wir zum Hoffest in Brodowin, damit er sieht, woher der Inhalt der Kiste kommt, die er jeden Freitagmorgen vor der Wohnungstür findet.
Richtig zu ihm durchgedrungen scheint die Erkenntnis, dass irgendwo eine Kuh für seinen Bulette gestorben ist, aber trotzdem nicht zu sein. Erst vor einigen Wochen, wir gingen zu Fuß vom Einkaufen nach Hause, sprach der F. mich auf den Fleischverzehr an. Ob es den Kälbchen denn weh täte, wenn man das Fleisch abmacht. Ich wand mich. Ich stotterte. Ich sagte ihm schließlich die Wahrheit.
Die schnellen Stimmungswechsel von Minderjährigen sind berühmt. Der friedlich neben mir einhertrottende kleine Kerl mutierte also auf der Schnelle zu einem kreischenden, schluchzenden Derwisch, nicht ganz unähnlich meiner Vorstellung eines Altägyptischen Klageweibs. Tatsächlich spritzten aus seinen Augenwinkeln Tränen kraftvoll einige Zentimeter nach rechts und links. Die armen Kälbchen. Die armen Kä-ä-ä-älbchen. Die erbärmlichen, bösen Kackmetzger.
Am nächsten Tag will der F. kein Würstchen. Wir sprechen lange über den Kreislauf der Natur, über den Tod, über die Frage, ob Tiere dazu da sind, gegessen zu werden, und am Abend isst der F. zum aller-, allerletzten Mal eine Bulette. Am nächsten Tag folgt die aller-, aller-, allerletzte Wurst, begleitet von Verwünschungen des F. bezüglich der gewerblichen Fleischverarbeitung.
Am nächsten Tag kaufe ich, müde der häuslichen Auseinandersetzungen, vier vegetarische Buletten bei REWE. Zwei Wochen später habe ich alle gängigen vegetarischen Produkte durch. Gelegentlich vergisst der F. die Tierliebe, dann wird doch ein Würstchen verschlungen, aber danach gibt es meistens Tränen, deswegen steigen wir fast vollständig auf pflanzliche Würste um. Parallel fahre ich die Milch- und Eierversorgung hoch. Irgendwann fällt mir auf, dass der F. das mögliche Leid der Fische nicht vergleichbar ernst nimmt. Seither essen wir ständig Lachs. Aufmerksam beobachte ich den F., seine Entwicklung und sein Verhalten: Bisher fällt mir noch nichts Nachteiliges auf.
Im Sommer 2012 waren wir als ganz frischgebackene Familie in den USA. Wir hatten eine Wohnung gemietet, die lag im Souterrain eines pastellfarbenen Holzhauses in San Francisco in Pacific Heights. Die Wohnung war super, wir liefen Meilen um Meilen zu Fuß, machten großartige Ausflüge, und zuhause in Prenzlauer Berg machte währenddessen die ganze Familie reihum Urlaub und streichelte unsere Katze.
Die Wohnung war nicht wahnsinnig teuer, aber auch nicht billig. Überhaupt ist San Francisco eher teuer, und deswegen hatten wir uns vorher überlegt, ob wir unsere Wohnung nicht mit anderen Leuten tauschen könnten. Wir hätten also eine amerikanische Wohnung bezogen, am besten von Leuten, die so ähnlich wären wie wir. Optimalerweise hätten diese Leute – wir hatten sie Jamie und Mary getauft – auch ein kleines Kind und deswegen wäre auch eine Wickelkommode und der ganze Krempel, den man jungen Eltern so andreht, vorhanden gewesen.
Wir hatten schon ziemlich feste Vorstellungen von den beiden, die natürlich auch Murakami und Brett Easton Ellis gelesen hätten, Ballett doof, aber Oper super finden und jetzt vermutlich am Pazifik sitzen und zu einem indischen Linsencurry einen dieser sehr guten kalifornischen Weißweine trinken. Es tut mir ein bisschen leid, proste ich ihnen mit meinem Riesling zu, dass wir uns nicht kennengelernt haben. Wir hatten uns am Ende nämlich nicht getraut, fremden Leuten unsere Katze anzuvertrauen, und außerdem hatte die Familie schon tolle Pläne, was sie alle in Berlin machen würden.
Seitdem denke ich immer wieder über einen Wohnungstausch nach. Für eine Berliner Wohnung im gemütlichen Prenzlberg bekommt man ganz gute Tauschwohnungen, auch in Städten wie New York, Paris oder Kyoto. Ich fände es, glaube ich, ganz toll, für ein paar Wochen ein fremden Leben anzuziehen wie ein geliehenes Kleid, und außerdem hätten wir dann woanders auch mal richtig Platz. Am Ende haben wir aber immer in Hotels gewohnt oder in Airbnb flats, aber wenn ich Artikel von zufriedenen Wohnungstauschern lese wie „Dein Haus – mein Haus“ von Martin Spiewak in der aktuellen ZEIT, dann denke ich doch: Das werde ich nochmal machen. Vielleicht nächstes Jahr.
Mit dem Literaturbetrieb ist es ja so eine Sache. Abstrakt finde ich so ein ganzes Geschäft rund um Bücher toll. Konkret fürchte ich, dass es am Ende auch nicht so dolle anders aussieht, wenn man mit literarischen Texten hantiert. Was ich über den Literaturbetrieb denke, was ich mit meinem Blog vorhabe, wenn ich mal ganz alt bin: Das habe ich alles dem Openmike Blog erzählt.
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