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Mädchen

Bei ihr wird sich wohl keiner melden. Sie ist ja auch nicht die Mutter, das ist schon klar, aber ein paar Jahre, vier oder fünf vielleicht, da landeten die ungelenk getöpferten Schälchen, die Papierblumen und Rupfendeckchen neben ihrem Teller. Sie war die Stiefmutter, aber sie machte die Hausaufgaben mit den Kindern, sie füllte die Brotboxen, sie richtete die Kindergeburtstage aus, und wenn sie abends die Kinder zu Bett brachte, legten die Mädchen ihre Arme um ihren Hals und riefen nach ihr, wenn sie schlecht träumten. 

Als sie einzog, war die Jüngere drei und die Große sieben. Die Große blieb immer etwas zurückhaltend, aber Menschen sind unterschiedlich, und schließlich war sie sogar zweimal allein mit der Großen weg. Einmal in Paris und einmal wandern. Der Kleinen rutschte ab und zu sogar ein „Mama“ heraus, das war schön gewesen, und es war auch nicht schlimm, dass der Vater, ihr Lebensgefährte, keine weiteren Kinder wollte. Es wäre auch etwas eng geworden in den vier Zimmern in Friedrichshain. 

Von der Mutter hörten sie ein paar Jahre lang wenig. Sie lebte im Ausland, arbeitete wohl viel, hatte einen neuen Mann und sogar ein neues Kind. An manchen Tagen vergaß sie, dass es diese Frau gab. 

Es änderte sich etwas, als die Mutter nach Deutschland zurückkam. Es wurde zwar Köln und nicht Berlin, aber die Mädchen fuhren nun alle zwei Wochen entweder zu ihr oder sie kam nach Berlin und wohnte dort in einer Airbnb-Wohnung ganz in der Nähe. Die Mutter war eine freundliche, kluge Frau, sie hätte sie gern gemocht. 

Zu Ende ging es dann, als er sich neu verliebte. Die neue Frau zog ein, sie zog aus. Es gab Tränen, aber keine Vorwürfe, keinen Streit, und einige Monate kam zumindest die jüngere Tochter öfters zu Besuch. Sie plante ein Wochenende als Geschenk zum zehnten Gebutstag, aber letztlich verlief das im Sand. 

Jetzt hört sie nur noch selten von den Mädchen. Von der Großen kaum, von der Kleinen alle paar Wochen. Kürzlich waren sie mal wieder gemeinsam Eis essen. Die neue Frau des Vaters erwarte ein Kind, erzählte ihr das Mädchen, das einmal fast ihre Tochter war, und das traf sie dann doch.

Cameron

Kennen Sie „Being John Malkovich“? Das ist ein sehr, sehr guter Film, aber ich meine weder den genialen Plot noch John Malkovich, der zu den schönsten hässlichen Männern gehört, den die Welt gesehen hat. Ich meine Cameron Diaz.

Cameron Diaz ist eine wirklich gutaussehende Frau. Aber in „Being John Malkovich“ sieht sie nach nichts aus. Man kann kaum erahnen, dass sie an sich attraktiv ist, sie ist einfach nicht attraktiv, und selbst wenn es einen Haufen Arbeit gekostet hat, sie so herzurichten, glaube ich spätestens seitdem, dass in vielen unscheinbaren Frauen eine Königin steckt. Möglicherweise – auch wenn ich nicht unscheinbar bin, sondern nur etwas strubbelig – auch in mir.

Die Königin auszugraben stelle ich mir allerdings schwierig vor. Allein der Sport, das Gewicht, aber auch der Aufwand mit Haut und Haaren. Ich meine, bei den meisten Produkten bei dm, die man sich ins Gesicht tut, weiß ich nicht mal genau, wie. Und ich trage unter anderem deswegen Kleider, weil man da nur ein Teil anziehen muss. Bei mir gibt es also, vermute ich, noch mächtig Luft nach oben, und jetzt, da ich so langsam alt werde, überlege ich manchmal, dass es eigentlich schade ist, dieses Potential nie, nicht mal so ein halbes Jahr oder so, hervorgelockt zu haben. Ich glaube, ich hätte Spaß gehabt.

Lückenbüßer.

Es habe, sagt ihre Schwester, nicht lange gedauert. Weihnachten 2017 war er schon in Gedanken woanders. Ostern 2018 bemühte er sich dann gar nicht mehr, seine Abwesenheiten zu bemänteln. Und nach dem quälenden Sommerurlaub im Fichtelgebirge zog er dann aus. Inzwischen ist er wieder da. Ihre Schwester habe ihn zurückgenommen. Die Kinder hätten sich sehr gefreut. Es sei, als wäre er nie weggewesen.

Es sei so ein bisschen unklar geblieben, ob er sich von der anderen Frau getrennt hätte. Oder sie sich von ihm. Sie würden sich jedenfalls nicht mehr sehen. Er hätte auch nie von der anderen gesprochen, bis auf dieses eine Mal, am ersten Abend, als er wieder aufgetaucht war und er ihrer Schwester gesagt hätte, dass die andere ausgesehen hätte wie die S., damals, irgendwann in den Achtzigern, als er mit der S. zur Schule gegangen war. Alle Jungen aus seiner Klasse hätten die S. geliebt. So lange, braune Haare und Augen wie Audrey Hepburn. Und lustig dazu. Niemand hätte sie bekommen, bis auf ihn, wenn auch mit 30 Jahren Verspätung, auch wenn es nicht die echte S. gewesen wäre, sondern nur ihre Doppelgängerin, sozusagen. Und nun sei es auch gut.

Für mich wäre das gar nicht gut, sage ich und sagt ihre Schwester, aber ob es nun Liebe ist oder nur Verzweiflung oder Fantasielosigkeit oder ein Kassensturz: Er ist wieder da, es ist vorbei mit der Doppelgängerin, und wenn nicht noch eines Tages die echte S. auftaucht, dann werden sie jetzt wohl zusammen alt.

Picasso und ich

Als ich in der Picasso-Ausstellung bin, fällt mir wieder ein, dass ich die Moderne eigentlich nicht mag. Ich bin nämlich gar nicht so sehr für unmittelbaren Ausdruck, kraftvolle Farben, eine Feier des Lebens, und was die Kunstkritik sich alles so hat einfallen lassen, um das Kunstschaffen seit 1900 zu beschreiben. Ich habe ein echtes Faible für die zarten, transparenten Himmel des Rokoko, die duftenden Bäume Lorrains und die warme Haut, unter der das kühle Herz dieses intimsten der europäischen Zeitalter schlägt. In Hamburg habe ich letztlich eine Gainsborough-Ausstellung gesehen, die ich mochte, aber hier laufe ich durch den aufgebrochenen Körper der Jacqueline Picasso und versuche Sohn F. zu erklären, was die Moderne einmal war.

Es ist schrecklich voll, außer uns sind alle Bewohner Potsdams und Berlins da. Die Einwohnerschaft Potsdams zerfällt von Jahr zu Jahr mehr in zwei Teile, einen, der blässlich und missgestimmt ist und an den irgendwie verformten Körpern bunte Kleidung aus Kunstfasern trägt, und einen, der aussieht wie Alexander Gauland. Ja, einen dritten, gutaussehenden und sympathischen Teil gibt es auch noch, das ist meine Freundin J. Und ihr Mann.

Ich würde mich ganz gern mit der J. unterhalten, weil mein Leben gerade sehr aufregend ist und ihrs auch. Man fürchtet ja mit 17, das Leben sei quasi zu Ende, wenn man mal 30 oder älter und mit der Suche nach dem Mann fürs Leben fertig sei. Dass man einen Beruf auch deswegen hat, um sich auch ab 30 nicht zu Tode zu langweilen, sagt einem ja keiner. Leider ist hier inmitten von mehreren Hundertschaften Menschen nicht daran zu denken, meiner Freundin von den aufregendsten Seiten meines Lebens zu erzählen, außerdem wird Sohn F. irgendwo zwischen Stierbildern und Frauenbildern schlecht. Der J. geht dann mit Sohn F. ein paar Runden zwischen den historischen Gebäuden herum, die der F. für eine Zeitung fotografiert, die er in einer einzigen Ausgabe textet, bebildert und verkauft. Dann steigt der J. in unser Auto und fährt davon. Sohn F., der ungern Auto fährt, und ich bleiben zurück.

Im Café Kaiserwetter sitzen wir irgendwann zwischen Blumen und Törtchen und Sesseln in Pastell. Ich erzähle Sohn etwas über die Farben des Rokoko, über Friedrich II, über Fragonard und die Sitte, sich die Haare zu pudern, damit man alt aussieht, und plaudere mit meiner Freundin und ihrem Mann. Dann fahren wir heim. Ich bin, denke ich, und schaue in die Wälder rechts und links der Strecke: Ich bin der Moderne abhanden gekommen.

Nächte

Vielleicht ist das jetzt einfach so, denke ich und laufe langsam Richtung Friedrichstraße. Vielleicht ist das bei allen Leuten so, die Anfang 40 sind, die ihre Jobs mögen, die Kinder haben und Ehrenämter und Aufsätze schreiben und irgendwo lehren, die ab und zu einer fragt, ob sie irgendwo öffentlich sprechen, die also das führen, was man ein gutes Leben nennt, und das sich auch so anfühlt. Meistens.

Vielleicht ist das normal, dass man unter der Woche vielleicht einmal Freunde trifft und ins Kino geht. Oder essen. Und dass man am Wochenende meistens befreundete Familien trifft, aber meistens eben nur eine. Dass manche Freunde einem einfach so verlorengehen, und dann sieht man sich und es fällt einem ein, wie schrecklich lange man sich nicht mehr gesehen hat, und es tut einem leid, dass die Tage vorbei sind, an denen man reich an Zeit beim Grillen im Park saß, die langen Abende in Bars, die Samstagnächte und die Sonntagnächte und die Dienstagnächte, ach: Die Nächte überhaupt.

Vielleicht ist es das, was einen das Alter kostet: Die Nächte.

Schöner leben mit der Echse

Weil des F. Grundschule den Katholizismus verachtet, feiern alle anderen Schulen Karneval, nur beim F. kam vor einigen Wochen ein dürres Schreiben aus dem hervorging, am Faschingsdienstag (der in dem Schreiben natürlich ganz schlicht „5. März“ hieß) finde ein Thementag „Dschungel“ statt. Man könne sich verkleiden.

Der F. verkleidet sich eigentlich nicht so besonders gern. Und wenn er sich verkleidet, will er dabei gut aussehen. Also, das was man eben für „gut“ erachtet, wenn man sieben ist. Also nicht als Banane, nicht als Bockwurst … hoppla: Gibt es überhaupt Bockwürste im Dschungel? Was gibt es im Dschungel überhaupt? Schmetterlinge scheiden aus, wenn man sieben ist und kein Talent zum Rebell gegen Geschlechtsstereotypen erkennbar. Tiger und Affen leben im Dschungel, aber vermutlich kommen alle Buben als Tiger. Das stört ein Kind nicht, aber als Mutter möchte man – denken Sie sich hier ein betont ironisches Zwinkern – doch, dass die Einzigartigkeit des eigenen Kindes sich auch nach außen hin manifestiert. Gesucht wird also ein anderes Kostüm. Zusätzliche Komplikation: Es ist Samstag, der 2. März. Noch drei Tage bis Fasch… also Thementag Dschungel.

Am Samstag schlafen wir erst mal aus. Also so richtig, richtig. Dann ist es zehn, dann ist es elf, dann schaue ich lange in den weitgehend leeren Kühlschrank und dann verlassen wir das Haus. Mit der M4 fahren wir zum Alex. Bei Galeria soll es Thementagskostüme geben, behauptet der geschätzte Gefährte, und deswegen steigen wir am Alex aus. Quer über den Platz, an Primark vorbei zu Galeria.

Ich habe noch nichts gegessen. Und der Alexanderplatz ist … nun speziell. Das mag an der unglaublich abscheulichen Architektur liegen, aber vor allem liegt es an den seltsam verformten Leuten, die mit einer andernorts unbekannten mürrischen Freudlosigkeit, die jeden Moment in offene Aggression umschlagen kann, riesige Primark-Taschen tragend über den Platz schieben. Wenn es dieselben sind, die in Umfragen behaupten, ihr Hobby sei „Shoppen“, dann haben sie sich jedenfalls ein sehr, sehr düsteres Hobby gesucht. Zu alledem stinkt es nach billiger Bratwurst. Meine Stimmung ist also bereits beim Betreten der Galeria – eins der scheußlichsten Kaufhäuser der ganzen Welt – schon sehr, sehr verdüstert. Dass es in der Spielzeugabteilung grässlich voll ist, macht die Sache dann auch nicht besser.

95% aller Berliner Eltern sind auch hier. Und sie haben alle, alle Kostüme in Größe 128 gekauft. Es gibt eigentlich nur noch Dirndl und Feuerwehruniformen aus Plastik, aber die trägt man nicht im Dschungel, und einen Tropenhelm, für den der F. sich interessiert, gibt es auch nicht. Außerdem ist es mir hier zu voll, das einzige Tigerkostüm ist zu groß, und so langsam fängt in mir ein Topf Misanthropie an zu kochen und schäumt bereits ganz bedenklich. Noch fünf Minuten und ich sage etwas, für das ein Bundesminister zurücktreten müsste. Zum Glück kennt der J. mich und stopft mir im Erdgeschoss schnell ein Stück Kuchen in den Mund. Da schlendern wir also alle drei kauend die Linden abwärts.

Bei H&M in der Friedrichstraße werden wir schließlich fündig. Es gibt zwar kein Tierkostüm mehr, Superhelden scheiden auch aus, aber es gibt noch ein einziges grünes Dinokostüm, das von uns zum Echsenkostüm deklariert wird, zum Dschungelechsenkostüm nämlich, und mit einer Tüte Langarmshirts und Socken für den F. verschwinden wir.

„Sei nicht traurig, Echse.“, sagt der F. auf der Rolltreppe zum Kostüm. „Zuhause warten viele neue Freunde.“

„Ist ja doch noch ein ganz guter Tag.“, sagt die Echse, als wir im Lafayette sitzen. Und dann isst die Echse einen Burger Colette und schlürft eine Auster.

 

Unterwegs

Bist du auch so gern unterwegs, fragt er und ich verneine.

Ihm, sagt er, fehle das am meisten: Das Nirgendwo zwischen Abfahrt und Ankunft. Die Unendlichkeit, das der Welt abhanden gekommene zwischen den Autobahnen, den Flughäfen und dem leeren, grauen Himmel.

Ab und zu, sagt er, sei er früher einfach ausgestiegen an irgendeiner Ratsstätte, hätte sich mit einem Tee an die Mietwagen gelehnt, die er damals immer hatte. Einen ICE später genommen und auf dem Bahnsteig gesessen. Am Flughafen an einem ganz anderen Gate gewartet und in den Himmel geschaut, so sehr bei sich, so weit weg von allen anderen wie man es sonst ja niemals ist.

Jahresrückblick 2018: Viertes Quartal

Oktober

Als hätte die Einschulung einen eingebauten Turbo angeworfen, wird der F. von Woche zu Woche mehr er selbst. Jemand, der sich für Technik begeistert und Maschinen zeichnet, deren Funktionen er säuberlich mit 1 – 2 – 3 markiert. Der nicht auffallen möchte und darüber nachdenkt, warum es anderen Leuten anders geht. Der fest an Gott glaubt. Der sich gern gut anzieht und mit seinem neuen Freund P. in der Schulhofpause darüber spricht, ob er, wenn er einmal groß ist, Fliegen oder Krawatten tragen wird. Der sich für Politik interessiert. Und für Pferde.

Der F. saß schon oft auf Pferden. Voltigierte, wurde geführt, arbeitete das erste Mal mit Steigbügeln zu Ostern, aber im Oktober in Diacceroni reitet er das erste Mal richtig: Die Zügel in den Händen, die Füße in Steigbügeln. Gangwechsel, rechts und links an kleinen Hütchen vorbei. Eine ganze Woche trägt der F. im Wesentlichen Reithosen, spricht über Pferde, zuckt nachts mit den Beinen, als würde er selbst über die sanften Hügel der Toskana reiten, und freundet sich mit den anderen Kindern an, die auf dem Hof Urlaub machen. Ich lese, lese, lese. Und als ich eines Abends zwischen Pinien und Zypressen über die Äcker reite, fühlt die Welt sich an, als sei sie fehlerlos und wunderbar.

November

Ich habe mir jahrelang eine BahnCard 100 gewünscht, und weiß nicht, warum ich sie mir nicht gekauft habe. Es ist großartig. Nichts geht über Fortbewegung, und einfach losfahren,  Aufbruch mit Köfferchen ist das Beste, was es gibt. Ich fahre viel herum in diesem Jahr, weil ich muss, aber ich fahre auch viel herum, weil ich will, und am ersten Novemberwochenende fahre ich mit dem F. nach Nürnberg.

Dem F. gefällt alles. Die Burg. Die Stadtmauern, das Spielzeugmuseum, die Bratwürste, der Pool im Hotelkeller, das Frühstück mit fünf verschiedenen Sorten Wurst. Das machen wir jetzt immer, sagt er, als wir wieder in Berlin am Bahnhof stehen, aber vorerst fahre ich ohne den F. quer durch Deutschland, spreche mit Leuten, höre mir an, was sie erzählen, aus diesen unruhigen, zornigen Zeiten, und sitze mit vielen, vielen alten und neuen Freunden zusammen, weil ich das endlich schaffe, mit dem neuen Job und dem schon recht großen Kind.

Dezember

Was für ein gutes, gnädiges Jahr, denke ich, als ich heimfahre, Silvester, von Freunden. Was für ein Glück, geliebt zu werden, was für ein Glück, zu können, was man will. Vielleicht ist dieses Jahr das Beste, das Dir gegeben sein wird, denke ich und mich fröstelt, und ich bete an die Mächte, von denen ich nichts weiß, dass auch 2019 mir lächeln wird und auf mich wartet mit einem Arm voll Trauben, voll Blüten, Honig und Wein und das rauschende Meer von Kythera.

Jahresrückblick 2018: Drittes Quartal

Juli

Im Juli geht auf einmal alles ganz schnell. Ich richte mich – zu zweit mit dem allerbesten Kollegen – bei konstanten 32° C ein. Ich telefoniere, ordne, organisiere, kaufe ein Schild, suche Bilder aus und schraube eigenhändig ein paar Möbel zusammen.

Im Juli treffe ich auch meine Lieblingsprofessorin aus der Uni. Sie ist grau geworden, älter, aber sie spricht immer noch mit derselben Eindringlichkeit, es ist ihr immer noch nichts egal, und wir verabreden uns für den Herbst. Man spricht oft schlecht über das deutsche Unisystem, aber ich bin vom ersten Tag an bis heute großzügig gefördert worden, man hat mir immer aufmerksam zugehört, mich früh auf Tagungen mitgenommen, mir erklärt, wer wer ist und wie der Betrieb funktioniert. Vielleicht haben die, die jammern, ihre Chancen nicht genutzt. Vielleicht haben sie aber auch weniger Chancen bekommen. Ich habe – das wird mir nie klarer als 2018 – immer Glück gehabt.

Doch bevor es richtig losgeht, fahre ich noch einmal weg. In Klagenfurt sitze ich auch diesmal in der Sonne, lese Texte mit, spreche, denke, träume tagelang über Literatur, feuere eine mitlesenden Freund an und schwimme im Wörthersee.

August

Alle guten Vorsätze sind zum Teufel. Ich wollte eigentlich weniger arbeiten, mehr Zeit mit dem F. verbringen, auch mal morgens im Café Zeitung lesen, aber offenbar liegt es gar nicht an meiner Umgebung, sondern an mir höchstpersönlich: Ich arbeite immer und fühle mich prächtig dabei. Ich telefoniere, ich schreibe, ich fahre kreuz und quer durch die Republik, und dass es tatsächlich möglich ist, die Dinge, die ich an meinem Job sehr mag, ohne die Dinge, die ich gar nicht mag, zu behalten, macht mir extrem gute Laune. Morgens fahre ich in den leichtesten Kleidern, die diese Stadt zu bieten hat, durch den Tiergarten in meiner Büro und jubele abends mit dem F. auf dem Schoß in den Biergärten Berlins herum.

Dann aber ist es vorbei mit den langen Abenden mit F. Er wird eingeschult. Stolz läuft er mit seinem Sakko und der Riesentüte zur Schule, wird aufgerufen und steht dann doch sehr klein mit den anderen sehr kleinen Kindern in der Aula. Bis zum Herbst wollen sie alle nicht mehr hin, behauptet eine befreundete Mutter, aber das wird sich nicht bestätigen. Wir haben Glück. Der F. mag die Schule, findet Freunde und bewundert seine Lehrerin. Weil die Schule sehr religiös ist, ist der F. schon Ende des Jahres ein evangelischer Fundamentalist. Die Zeit wird es richten. Hoffentlich.

September

Wien. Wein beim Mayer am Pfarrplatz. Brötchen bei Trzesniewski, Schnitzel und Torte, Siegmund Freud und Mozart. Aber auch das AKK, in das der S. muss, weil er sich den Arm gebrochen hat. Schön ist es hier, denke ich und laufe mit dem J., aber ohne das befreundete Paar durch die Stadt, aber noch schöner wär’s, wenn der F. auch hier wäre. Das denkt der F. übrigens auch und bekommt einen Ausflug an die Donau für 2019 versprochen.

Wir leiden alle drei am entsetzlich frühen Aufstehen. Immerhin macht das Jahr es uns leicht, denn wir lieben den Sommer, und Sommer ist nach wie vor, Sommer ist monatelang, täglich esse ich unter den wippenden Bäumen der Stadt und schaue an den Wochenenden in den Himmel über der Stadt und trabe über die staubigen Äcker der Mark.

 

Jahresrückblick 2018: Zweites Quartal

April

Seien wir ehrlich: Das Veneto sieht aus wie Niedersachsen. Die Dörfer scheinen alle aus den Fünfziger Jahren zu stammen, die Äcker sind flach, aber unser Ferienhof ist schön, die Pferde gepflegt,  und Ostern sitzen wir mit dem halben Dorf zusammen und essen einen Gang nach dem anderen. Schön auch: Verona.

Überhaupt entdecke ich das Reiten dieses Jahr wieder neu. 2017 saß ich das erste Mal nach langer Zeit wieder auf einem Pferd, kam kaum ohne Aufsteighilfe in den Sattel, wurde beim Leichttraben hin- und herumgeschleudert, aber im Herbst 2018 werde ich über die Hügel der Toskana reiten und es wird sein, als wäre ich nie abgestiegen, und ich werde nie glücklicher gewesen sein in diesem Jahr als in diesen Momenten.

Ich hatte mir eigentlich vorgestellt, über Monate zu verschwinden. Leider ist das Verschwinden schwieriger, als man so denkt. Aus Italien zurückgekehrt bin ich deswegen eine Woche in Berlin, führe Gespräche, telefoniere viel, und entscheide mich in dieser Woche endgültig gegen die Fortsetzung des alten Lebens in neuen Kulissen. Als ich nach dem letzten Gespräch auf der Friedrichstraße stehe, fühle ich mich so leicht und frei wie zuletzt am Tag nach meinem zweiten Examen und fliege übermütig durch die Straßen der Stadt.

Eine Woche später fahre ich nach Malta.

Ich war noch nie auf Malta, aber das Angebot in einem der ungefähr zehn Reisenewsletter war so bestürzend günstig, dass ich kurzerhand ein paar Kleider in eine Tasche werfe, den F. in der Kita abmelde und in einem Strandhotel lande. Einem All-Inclusive-Strandhotel. Immerhin fünf Sterne.

Was soll ich sagen. Es war überraschend okay. Das Hotel war voller älterer, sehr ruhiger Engländer. Das Essen war gut, vielleicht sollte ich meine Vorurteile gegenüber Buffets doch nochmal überdenken. Mit Bussen und Taxen fuhren wir über die Insel, balancierten über Burgmauern, staunten in Palästen, aßen Kekse und tranken Tee in verstaubten Tee Salons und saßen abends am Meer und sahen zu, wie der Himmel errötete und sich in Dunkelheit verhüllend zur Nacht begab.

Der F., übrigens, spricht immer noch von diesem Hotel, in das meinen geschätzte Gefährten zum Leidwesen des F. keine zehn Pferde bekämen.

Mai

Die re:publica ist riesig, gewiss, aber ich plaudere über Tage mit genau den Leuten, mit denen ich seit zehn Jahre spreche. Dieses Jahr ist aber besonders schön, denn ich habe Sohn F. dabei, der inzwischen sechs ist, und F. liebt alles. Er jubelt im Bällebad. Er führt ein langes Gespräch mit einem Mann, der sich Roboter ausdenkt, und springt sogar ein bisschen auf der Stelle, als er erfährt, dass auch er, der F., vielleicht eines Tages ein Cyborg werden wird. Im Vortrag von Felix Schwenzel fasst der F. den Vorsatz, auch unsere Wohnung komplett zu automatisieren, und ganz am Ende singt auch er vor der Bühne inmitten des wirbelnden Konfettis mit. Is this the real life.

Ach, aber sonst? Was habe ich im Mai getan? War ich essen unter wippenden, grünen Bäumen? War ich im Theater? Habe ich nachts mit J2, mit der J., mit der C., mit der I., Wein getrunken? Habe ich viel geschrieben und telefoniert? Vor allem aber habe ich gelesen, viel gelesen, und in Cafés Tee getrunken vor meinem Notebook wie jemand, der ich war und wieder sein werde. Gut geht’s mir im Mai.

Juni

Der Lieblingsbauernhof ist voll, aber ein paar Kilometer abseits gibt es einen Reiterhof mit Ferienwohnung, und der F. und ich reiten durch die Uckermark. Der F. wird geführt, ich verscheuche die Bremsen und der Sommer liegt heiß und trocken auf den Feldern.

Heiß ist und bleibt es. Ende des Monats bin ich wieder in Brandenburg, ein Workshop, und als ich abends noch einmal durch den verwilderten Park spaziere, höre ich nichts, gar nichts, außer dem leisen Rauschen der Bäume, und ich glaube, ich kann den Sommer sehen, wie er auf einem Ast sitzt, die Beine baumeln lässt und mich lässig näher winkt, bekränzt mit Laub und Blüten.