Allgemein

Journal :: 16.11.2017

Ich mag gar nicht irgendwo sein, denke ich und fahre durchs nächtliche Hamburg, und muss ein bisschen lachen, weil der Gedanke so blödsinnig ist. Natürlich ist man immer irgendwo, steht auf einer Tagung, sitzt in einem ICE, besucht die U., die so klug ist und so tolle Haare hat. Früher hätte man ihr das auch gesagt, aber heute ist man sogar zu alt und zu müde für Komplimente.

Ich mag gar nicht lange irgendwo sein, korrigiere ich meinen Gedanken, und dann denke ich, dass ich eigentlich die Achterbahn zurück haben will, weil ich das Gefühl immer mochte, wenn es einen hochreisst und nach hinten drückt und man so gerade denkt, dass man fällt. Dieses Sausen, die fliegenden Haare, und die Überwältigung, wenn das Adrenalin einen überkommt und man für einen Moment gar nichts anderes mehr denken kann als das.

Ich möchte überall sein, denke ich und zahle und steige aus. Ich möchte überall ein bisschen sein, so schnell, dass man mich kaum mehr sieht, ein Windstoß, ein Sommersturm, uns immer schon weg, wenn es ruhig wird und öde und jeder Tag gleich.

Journal :: 15.11.2017

Rechtsreferendare, einige unter Ihnen wissen das, durchlaufen in zwei Jahren mehrere Stationen, unter anderem auch bei der Staatsanwaltschaft. Man kann sich kümmern, dann kommt man irgendwohin, wo es einigermaßen spannend wird, oder man kümmert sich nicht, dann landet man beispielsweise bei dem P.

Der P. ist erst ganz kurz Staatsanwalt, blond, fröhlich und 30, und er klagt im Wesentlichen ein einziges Delikt an. Ansonsten trinkt er mit einem Freund um die Ecke Kaffee, spielt leidenschaftlich gern mit seiner Spielkonsole und geht mittags um die Ecke zu einem chinesischen Restaurant. Ich immer mit, schließlich will ich ausgebildet werden, und tatsächlich entwickele ich sehr schnell erhebliche Fertigkeiten an der Konsole. Wenn wir zusammen Mittag essen, nehme ich jedesmal etwas anderes und überrede P., ab und zu zu anderen Lokalen zu gehen. Widerstrebend kommt er meistens mit. „Man kann doch nicht immer dasselbe essen.“, behaupte ich, aber der P. isst an vier von fünf Tagen Schweinefleisch süß-sauer. Wie man so leben kann, denke ich.

Heute mittag war ich in der Ming Dynastie. Da gehe ich meistens einmal die Woche hin. Manchmal esse ich die M 8, das ist das Huhn Gong Bao. Ohne Erdnüsse. Manchmal nehme ich auch das Mapo Tofu. Wenn ich nicht in die Ming Dynastie gehe, gehe ich zu einem Italiener in der Nähe. Da esse ich das Mittagsmenü, das ist immer gut. Suppe, Pasta, kleines Dessert. Oder zu einem Vietnamesen, da esse ich die Suppe mit Teigtaschen und Glasnudeln oder die Pho mit Tofu. Ganz selten esse ich Burger.

Ab und zu schmeckt eins der Mittagsgerichte anders als sonst, dann fällt mir das auf. Oder Kellner wechseln. Ich weiß ganz genau, wo ich mit Karte zahlen kann und wo es bar sein muss. An welchen Gerichten Knoblauch ist. Manchmal esse ich auch nichts, dann gehe ich abends essen. Ich frühstücke nie.

Gelegentlich, meistens zu unseren Geburtstagen, denke ich an den P., dann schreiben wir uns kurz, und ich frage nach, ob er eigentlich immer noch das Schweinefleisch süß-sauer isst. Dann bejaht er jedesmal, und ich weiß ganz genau, dass man nicht nur so leben kann, sondern dass auch ich im Grunde genau so fertig leben würde, mit Huhn Gong Bao und Pho mit Tofu, und dass das nichts für mich wäre.

Journal :: 14.11.2017

Sempre libera„, singt Anna Netrebkos Violetta auf meinem Weg ins Büro und zu meinen Füßen rascheln die Blätter.

Der November ist milchig und grau, der Himmel findet woanders statt, aber auf dem Weg zum Mittagessen in der U 8 segnet mich ein Bettler, beim Sushi am Hackeschen Markt lache ich laut mit der D., und im Spiegel im Fahrstuhl sehe ich mich an und mag, was ich sehe.

Am Abend komme ich aus einer Veranstaltung, so überwach, wie man es eben ist, wenn man zwei Stunden sehr präsent und ganz da gewesen ist, und die Aufmerksamkeit einem noch durch die Adern kreist. Ob ich noch etwas trinken will, werde ich gefragt, nicke, fahre mit dem Aufzug hoch über den Zoo und friere und lache über der City West, glitzernde Lichter, und funkele auf dem Weg nach Hause gen Osten.

Amor è palpito dell´universo intero,
misterioso, altero,
croce e delizia al cor„,

singt Alfredo mir auf den nächtlichen Weg.

Journal :: 13.11.2017

In ansonsten seriösen Zeitungen steht, Frauen würden sich zu viel mit ihrem Aussehen beschäftigen und hätten es deutlich leichter, trügen sie so neutrale Kleidungsstücke wie, sagen wir, ein deutscher Ingenieur. Als eine Person, die die vorgeschlagene Neutralität in Gestalt blauer, knielanger Kleider zu klassischen Pumps bereits umgesetzt haben dürfte, kann ich allerdings nicht dazu raten, dies auf breiter Front umzusetzen. Man sieht nicht nur langweilig aus. Man fühlt sich nach einer Weile auch so.

Nun ist in meinem an Sensationen insgesamt eher armen Leben ein Kleiderwechsel schon tendenziell schwierig. Gut, niemand hindert mich daran, mir großartige Kleider und Schuhe zu kaufen, die ich dann in meinen Schrank hänge und ab und zu wehmütig streichele. Für eine Person, die pro Spielzeit drei- bis fünfmal in die Oper geht, besitze ich außerdem schon unverhältnismäßig viele festliche Kleider. Und meine Neigung zu sehr hochhackigen Schuhen bringt mich, der geschätzte Gefährte J. weiß es genau, eines Tages ins Grab, weil ich stolpern und mir den Hals brechen werde. Zu alledem sind die Kleider, die mir bei ausgedehnten Streifzügen im Netz oder in Mitte gefallen, garantiert nie die, in denen eine Dame mittleren Alters mit Kind und wirklich sehr bürgerlichem Beruf halbwegs passend gekleidet erscheint, und außerdem bin ich für viele Kleider schlicht zu dick.

Ein vernünftiger Mensch würde insofern alle überflüssigen Ausgaben ersparen und auch die nächsten Jahre anziehen, was er hat. Ich aber, ich habe mir rote Satinschuhe mit elf Zentimetern Absatz gekauft. Einen Paillettenrock. Einen Traum in weißem Tüll. Wunderschöne, völlig untragbare Strümpfe. Und nun sitze ich auf dem Sofa, trinke Tee und zerbreche mir den Kopf, wie die Gelegenheit wohl aussehen könnte, zu der ich all das anhaben werde.

Journal :: 12.11.2017

Man reiche mir eine Axt. Es ist Sonntagmorgen, sieben Uhr, und dank des Weckers des J. sitze ich hellwach im Bett und mahle aggressiv mit den Zähnen. Draußen wird es gerade halbwegs hell, der J. gähnt wahnsinnig laut und schlurft, ebenfalls wahnsinnig laut, Richtung Bad. Zu alledem bin ich selbst schuld: Um nicht alle Sonntage meiner näheren Zukunft von elf bis fünf allein mit Kind zu verbringen, habe ich selbst dem J. vorgeschlagen, seiner Leidenschaft für den Golfsport künftig sehr früh morgens nachzugehen und mittags wieder zu erscheinen. Das geht natürlich nur mit Wecker. Beschweren darf ich mich also nicht. Statt dessen ertränke ich meinen unausgeschlafenen Frust in einer Tasse Tee.

Tee könnte ich wieder kaufen, fällt mir ein, und google nach Tees, die ich noch nicht kenne und kaufen könnte.

Als Teetrinker J.2 am Nachmittag auftaucht, komme ich gerade aus dem Museum. Der F. liebt das Deutsche Historische Museum und war geschätzt zehnmal dort und kennt jedes einzelne Exponat. Dank seiner Museumsbesuche hat er sich ein etwas unkindliches Spezialwissen zugelegt, über das ich mich einerseits freue, andererseits fürchte ich mich etwas vor den Reaktionen künftiger Mitschüler, die gute Sportler vermutlich höher schätzen als umfassende Kenntnisse über den Verlauf der Befreiungskriege.

Der inzwischen wieder aufgetauchte J. sitzt in der Bibliothek schätzungsweise vorm Computer und beschäftigt sich mit seinen vollständig digital erfassten Fortschritten im Golfsport. Vielleicht weicht er aber auch nur den aus seiner Sicht langweiligsten Gesprächen ever aus, die der J.2 und ich über sehr, sehr fachliche Themen am Küchentisch führen, während unsere Kinder in maximaler Lautstärke durch die Wohnung toben. Immerhin riecht es überall gut nach Waffeln.

Als die Frau des J.2 irgendwann bei uns erscheint, brechen wir auf in den Park. Nur der J. bleibt zuhause. Es ist dunkel, die Bäume recken ihre Zweige wie schwarze, zerbrechliche Blitze in den Himmel, und die Kinder jagen einander den Bunkerberg hoch. Wir sprechen immer noch über Posten und Politik, Gesetze und Gerüchte, und nun ist es die Frau des J.2, die sich zurückfallen lässt, um nicht auf der Stelle vor Langeweile zu sterben.

Die Kinder sind inzwischen am Ausrasten. Der Jüngste isst nur Süßkartoffeln, die Großen nur Fleisch. Das eine Kind will nur Wasser ohne Kohlensäure, das andere ausschließlich mit, und als zumindest die beiden Großen unter ohrenbetäubendem Geheul in F.’s Zimmer verschwinden, schauen wir uns alle vier dankbar an.

Als der J.2 mit Familie verschwindet, wird es still. Ich friere das restliche Fleisch ein. Der J. macht die Küche. Dann ist es spät. Der Sonntag ist vorbei.

„Bei dir ist es immer schön.“, steht auf meinem Handy.

In Heiliger Mission

Die Berliner Fama ist sich ja generell sehr sicher, dass alle ungeliebten Wahlergebnisse, ach, überhaupt alle Übel dieser Welt, auf dicke, alte, weiße Männer auf dem Lande zurückzuführen sind, die zu viel billiges Bier trinken und nicht richtig lesen können. Diese Leute seien es auch gewesen, die in ihrem Unverstand den Brexit ausgelöst hätten. Ich aber, denken Sie sich an dieser Stelle einen dumpfen, allmählich anschwellenden Trommelwirbel, habe erst kürzlich einen veritablen Brexiteer getroffen, der diesem Bilde krass widerspricht, einen walisischen Diplomaten, der irgendwas mit mittelalterlicher Geschichte und Religion studiert hat, tiefgläubiger Anglokatholik, vernünftig angezogen und mit geschliffenen Umgangsformen, der darauf brennt, dass das Vereinigte Königreich auf der Stelle die Europäische Union verlässt, um fortan in glänzender Einsamkeit zu alter Größe und Schönheit zu finden. Ja, Sie staunen. Ich, zu Gast in einem ebenso kunstliebenden wie -sammelnden Haushalt von Bekannten, staunte auch.

Die neu erworbene Grablegung Christi, die die Hausherrin ihren Freunden und Bekannten vorführen wollte, erwies sich als etwas derb. Aus den Augenwinkeln sah ich die Gastgeber über eine liebliche, handtellergroße Maria Magdalena mit bloßen Füßen dozieren, beschloss, ihnen nicht ins Esszimmer zu einer Flämischen Anbetung zu folgen, lehnte mich ans Klavier und lächelte den Brexiteer freundlich an. Ich bin ziemlich klein, ich lächele also quasi immer und automatisch so von schräg unten nach oben. Sehr konservative Männer mögen das. Der Brexiteer straffte sich also und öffnete den Mund zu einer kleinen Rede. Das Empire also. Seit Ende des Empire gehe alles bergab, bei den ehemals Beherrschten noch mehr als bei den Briten selbst.

So mancher hätte auf der Stelle die ja an und für sich naheliegende Frage aufgeworfen, ob es nicht etwas vermessen ist anzunehmen, die Völker des Commonwealth hätten irgendein Interesse daran, bei der Wiederrichtung eines Empire mitzumachen. Die meisten Leute regieren sich ja doch lieber selbst. Ich aber zählte innerlich bis zehn und trank sehr schnell zwei Glas Rosé, um die folgende Konversation noch mehr zu genießen.

Der Waliser blieb mir nichts schuldig. Die Flämische Anbetung auszulassen, hatte sich voll gelohnt: Im Urlaub läutet der Waliser Glocken in englischen Klöstern. Seine drei Kinder haben fast so irrsinnige Namen wie die sechs von Rees-Mogg. Er dürfte im Laufe seines Lebens mehr Hostien gegessen haben als irgendwer sonst, den ich kenne, und er glaubt an den Teufel. Ja, das ist wirklich wahr.

Ich lächelte und schwieg. Der Brexiteer geriet immer mehr in Fahrt. Das Mittelalter. Die heidnischen Weiten der asiatischen Steppe. Meister Eckhart und die Geburt Europas aus dem Geiste der Mystik. Europa als innerer Widersacher der EU. Kurz vor dem Zustand überschnappender religiöser Ekstase bog Freundin K. um die Ecke und wollte heim.

Zwei Tage später schrieb der Waliser. Normale Leute hätten eine Gesprächsfortsetzung beim Kaffee angeboten. Der Waliser jedoch erbat eine Begleitung zur Messe. Höflich lehnte ich ab und verwies auf den J. und seinen Abscheu vor der katholischen Kirche.

Dies schien den Waliser anzuspornen. Seit mehreren Wochen bemüht sich der Waliser um die Rettung meiner Seele. Die Kurve der für mein Seelenheil bundesweit gesprochenen Gebete ist in den letzten Wochen noch einmal deutlich angestiegen; ich fühle mich auch gleich viel besser als seit Jahren, und nur sehr, sehr weltliche, lästerliche Menschen mit einer überaus verdorbenen Phantasie würden annehmen, dass die Intensität der Bemühungen des Brexiteers um die Rettung meiner Seele möglicherweise nicht vollkommen von rein gottgefälligen Motiven geprägt sein könnte, was dieser natürlich weit von sich weisen würde, so weit ungefähr, wie das Vereinigte Königreich in seiner Vorstellung vom Sündenpfuhle Brüssel entfernt gehört, also sozusagen unendlich.

Dicker Mann

Es passt zu dem J. und mir als Paar, dass wir uns im Herbst 1995 über Freunde kennengelernt haben, die wir schon damals wechselseitig total unsympathisch fanden, und ich den ganzen Abend über Thomas Mann sprach, den J. nicht leiden kann. Symptomatisch  vielleicht auch, dass ich an dem Abend, an dem wir uns kennenlernten, einen zwei Größen zu großen braunen Shetlandwollpullover trug, den mir mein lieber Freund J.2 geschenkt hatte, wie ich vermuten muss: In feindlicher Willensrichtung gegenüber Dritten.

Angesichts dieser Vorgeschichte ist es kein Wunder, sich häufiger mal zu trennen, denn vielleicht hat ja einer von uns Glück und trifft nochmal jemanden, der Thomas Mann mag oder keine braunen Pullover anhat. Weil wir nach wenigen Stunden diese Hoffnung meistens als vergeblich erkennen, vertragen wir uns meistens aber verhältnismäßig schnell. Gestern beispielsweise haben wir uns zweimal  getrennt und fast sofort wieder vertragen.

Zwischen dem Zerwürfnis und der Versöhnung lagen diesmal nur wenige Stunden, nicht einmal genug, um sich außerhalb Berlins Häuser anzusehen oder zu bewerben. Irgendwann in diesem verhältnismäßig kurzen Zeitraum fielen allerdings fatale Worte: Der J., es ist sozusagen nicht zu fassen, hat tatsächlich klar, eindeutig und bösartig mein Gewicht kritisiert.

Nun ist mir natürlich vollkommen klar, dass das herrschende Schönheitsideal von deutlich schlankeren Frauen als mir verkörpert wird. Auch ich lese Zeitungen und war schon mal auf Instagram. Von seinem ansonsten meistens geschätzten Gefährten kritisiert zu werden, ist aber eine andere Nummer, denn wer soll einen schon optisch okay finden, wenn nicht derjenige, den man geheiratet hat. Und selbst wenn man einen gewissen Verärgerungsaufschlag abzieht: Dieser Moment, meine Damen und Herren, ist der richtige Moment für ein Drama. Stellen Sie sich mich also ungefähr als Godzilla vor. Mit ein bisschen Übergewicht.

Ich bin nervlich vielleicht nicht die allerstabilste. Ich stehe also in der Küche, schon eher ziemlich strapaziert, ringe nach Luft und den richtigen Worten, da kommt unser Kind, der lustige F., des Weges. Der F. nimmt seine Eltern, wie es sich gehört, nur so mittelernst. Was soll man schon von Leuten denken, die so tun, als würden sie Knete essen. Was der F. aber weiß: Harmonie ist wichtig. Der F. verschafft sich also einen blitzschnellen Überblick über die Lage. Er holt tief Luft. Er lässt die Information, Mama sei zu dick, einen Moment lang sacken. Dann öffnet er den Mund, dem prompt die Worte entströmen, Mama solle nicht traurig sein. Er, der F., habe bereits schon einmal mit seinen eigenen Augen einen viel dickeren Menschen gesehen. In Berlin. Es sei ein Mann.

„Mama? Ist alles okay?“

Wie die Wolken ziehen

Liegst du da, zwölf Jahre alt, auf der großen Wiese am See, und schaust in den Himmel. Juni ist’s, der Himmel stählern blau, fast weiß, und das Licht leuchtet jeden Grashalm, jede Pore gleißend aus. Du warst baden, obwohl das Wasser noch so kalt ist, dass außer dir und deinen Freunden T. und N. niemand badet. Jetzt liegst du in deinem nassen Badeanzug auf dem großen, roten Handtuch und lässt dir vom Wind die Haut prickelnd eiskalt und trocken pusten.

Schaust du den Wolken nach. Graue Fetzen am hellen Himmel, die sich langsam auflösen, als könnten auch sie nicht widerstehen.

Was du vom Sommer erwartest? Lange Ausflüge mit dem Rad vielleicht. Übernachten bei Freundinnen im Garten. Zwei Wochen Ferienlager, zwei Wochen Urlaub in Frankreich oder Dänemark mit Familie, tägliches Schwimmen im See und Ausritte weit über Land. Noch bist du daheim.

***

Schaust du wieder nach oben. Tiefblau ist der Himmel, später August, schwer und gelb wie eine vollreife Frucht hängt der Mond überm Meer. Zu dritt liegt ihr auf dem Dach einer alten Garage, 17 bist du und zum Sterben verliebt in den G., der nichts von dir wissen will. Über dir wehen kleine, feste, weiße Wölkchen über den Reetdächern von Kampen, und neben dir sitzt dein Freund J.2, starrt in das dunkle, flirrende Laub des Kirschbaums und dreht an einem Rubikwürfel herum, dessen Felder alle gleich schwarz aussehen, und hört und hört nicht auf. Er hätte gelitten unter deiner Uneindeutigkeit, wird er dir irgendwann viele Jahre später erzählen, aber in Eindeutigkeit warst du immer schon schlecht.

Was du vom kommenden Jahr erwartest? Ein paar Kurzgeschichten willst du schreiben, die mäßig sein werden, aber du bist auf sie stolz. Klare Verhältnisse willst du schaffen, endlich Schluss mit den Unsicherheiten, den Graustufen, dem Leichtsinn und den vielen Fluchten, und weisst vielleicht schon, dass daraus nichts werden wird, nicht dieses Jahr und auch kein anderes. Du bist aus Unruhe gemacht und ziehst mit den Wolken.

***

Etwas ist anders am Himmel, denkst du, und legst den Kopf in den Nacken. Etwas fehlt vielleicht, etwas liegt lange unter der Erde, ihm zu Füßen ein Stein, aber du pustest dir die Spinnweben aus dem Gesicht und schreitest entschlossen voran. 42 bist du und es ist Freitag.

Die Blätter hat der Bauhof schon zusammengefegt, die ganze goldene Pracht, und die Nester hängen schwarz und leer in den Bäumen. Der Himmel scheint sich zurückgezogen zu haben, als sei er heute weiter weg als an anderen Tagen, aber das kann auch am langen Abend liegen, an der Bachmesse in H-Moll in der Philharmonie, oder besser gesagt: An den Moskau Mule danach.

Du hast aufgehört, dir klare Verhältnisse zu wünschen. Du willst nicht einmal mehr irgendwo ankommen, weil du das Ankommen viel schlechter verträgst als das Reisen. Du bist manchmal aus Feuer und oft aus heisser Luft. Du bist so gut wie alles und sein Gegenteil. Bei Nacht kannst du manchmal fliegen, du kannst aus Blut und Knochen bestehen und aus Regen und Wind, und manchmal bist du die Wolken.

High Heels

Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, mögen mich für altersunangemessen eitel halten, aber gutes Aussehen gehört nicht wirklich zu meinen Stärken. Insbesondere bin ich verhältnismäßig klein. Nun bin ich Asiatin, da ist das normal, mir ist auch klar, dass Kylie Minogue oder Madonna noch deutlich kleiner sind als ich, aber bei denen passen die Proportionen irgendwie besser. Wie dem auch sein mag: Ich bin auf jeden Zentimeter zusätzlich dringend angewiesen.

In früheren Zeiten war das kein Problem. Bis 2011 besaß ich ungelogen quasi keine Schuhe ohne mindestens fünf Zentimeter Absatz, ging entsprechend nie zu Fuß und warf Jahr für Jahr einen vierstelligen Betrag für Taxifahrten aus dem Fenster oder fuhr Rad. Ich kann mit beliebig hohen Absätzen Fahrradfahren, dafür fahre ich kein Auto. Dann aber kam das Kind.

Wenn Sie Kinder haben, kennen Sie das Problem. Wenn Sie keine haben, seien Sie gewarnt: Sie werden die ersten Jahre nach Geburt eines Kindes erst einen Kinderwagen Tag für Tag ungezählte Kilometer durch die Stadt schieben, und das schafft wirklich nur meine liebe Freundin I. auf acht Zentimetern. Dann laufen Sie hinter dem Kind her, das sich vom Klettergerüst zu stürzen droht oder hilflos auf die Straße wackelt. Und schließlich müssen Sie auf dem Spielplatz Fußball spielen. Dann irgendwann, Jahre später, stellen Sie fest: Sie haben nur noch Sneakers. Und Ballerinas. Und fürs Büro so halbwegs seriöse Schuhe mit ganz, ganz kleinen Absätzen und runden Spitzen. Schließlich sitzen Sie eines Abends in Ihrem Flur, durchwühlen Ihre Schuhschränke und erinnern sich mit Wehmut Ihrer alten Zeiten. Damals vor zehn Jahren, als Sie selten kleiner als 1,75 Meter durch die staubigen Straßen dieser Stadt schritten.

Leider sind von Ihren alten Schuhen nicht mehr viele da. Und wenn Sie ganz ehrlich sind: Es spricht schon viel dafür, auch die nächsten Jahre in flachen Gesundheitstretern herumzulaufen, das macht hier schließlich auch jeder andere. Am Ende jedoch kapituliert die Vernunft vor Ihren dunklen Wünschen, und dann sitzen Sie da wie ich und starren ins Internet: Schwarz, rot, glänzend, geschuppt. Acht, zehn Zentimeter Stiletto. Spitz eher als rund, so unpraktisch wie eh und je, und so wunderschön, als hätte ich mein Leben vor zehn Jahren zumindest für ein paar Stunden am Tag zurück.

Und die muss ich jetzt alle kaufen.

Sozusagen Glück gehabt

Sitze ich also – vorletzte Woche vielleicht – mit Freund M. im Sorsi e Morsi, nette Bar im Prenzlauer Berg, um noch so ein wirklich allerletztes Glas auf den Heimweg zu trinken. Draußen schon so ein wenig ungemütlich, drinnen wie immer dunkel und voll und verraucht, Rotwein und Negroni auf den Fisch in der Fischfabrik und das Bier in dieser italienischen Craft Beer Bar in der Prenzlauer Allee.

Sitzt vor uns ein Paar, nein, ein Date eher. Ein etwas reservierter Mann, durchaus soignierter Bürger im Vorbereitungsstadium Ende 20, und ihm gegenüber eine leicht exaltierte Frau, nicht die höhere Tochter, die er mal heiraten wird, sondern eher die Kategorie Mädchen, die zwar schon so irgendwas studieren, aber dann eher nicht so Lektorin bei Hanser werden, sondern eher Sozialarbeiterin mit nebenbei Kellnern.

Sie legt sich mächtig ins Zeug. Sie gestikuliert, sie lacht eine Nuance zu laut, sie schüttelt ihre Haare und schaut ihn herausfordernd an. Er dagegen weicht immer weiter zurück, den Oberkörper leicht zurückgelehnt, und sein Unbehagen steht ihm so sichtbar ins Gesicht geschrieben, dass sie mir fast ein bisschen leid tut, und der M. und ich schauen uns schon als reine Zuschauer der Szenerie peinlich berührt an.

Geschickt wäre es jetzt an ihrer Stelle, das Tempo herunterzufahren oder einfach zu gehen und sich mit jemandem zu verabreden, der auf leicht übersteuerte Leute steht. Statt dessen kippt sie, ob aus Nervosität oder mit Absicht, ihr Wasserglas um und bespritzt ihn schrill lachend mit den feuchten Fingern, was er, so wie er aussieht, nicht einmal bei Frauen schätzen würde, die er wirklich mag. Geniert schaue ich an den beiden vorbei und überlege, ob und wann ich eigentlich genauso peinlich wirke und segne meinen Schöpfer dafür, solche Gelegenheiten auf der Stelle zu vergessen.

Als beide gehen, schauen wir uns an. Auf dem Boden neben ihren Platz glänzt feucht das verschüttete Wasser. Aus diesen beiden wird wohl kein Paar, denke ich und trinke den obligatorischen Limoncello. Nicht mal für die nächsten paar Wochen. Dann stehen wir auf der Straße, die beiden sind nicht mehr zu sehen, und ich bin so dankbar wie selten, verheiratet zu sein, weg vom Markt dieser Eitelkeiten, nicht mehr gezwungen, mich vor fremden Leuten lächerlich zu machen, wenn ich mich melde, oder ständig mein Telefon zu fixieren und ungeduldig darauf zu warten, dass die sich melden, und mir Gedanken zu machen, was irgendwas zu bedeuten hat, was vermutlich überhaupt nichts zu bedeuten hat, über irgendwen mehr als flüchtig nachzudenken, herumzugooglen, was bei ersten, zweiten, dritten, vierten Dates passieren sollte, weil man ja nicht weiß, ob das Date nicht doch mit dieser Erwartungshaltung erscheint, ständig sehr hoffnungsvoll oder sehr enttäuscht zu sein, und verdränge auf dem Weg durch den dunklen Prenzlauer Berg, wie oft ich sehr glücklich war, damals, lachend auf den Wellenkämmen der heiteren Meere, und die Sonne so gleißend, das Salz des Lebens so glitzernd wie nie.