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Im L. A. Jordan. Und: Über Erziehung.

Wenn ich Pfalz höre, denke ich an Helmut Kohl. An dieser Assoziation wird man irgendwann die Kinder der Siebziger erkennen, deren gesamte Kindheit in die endlose Regierungszeit des Riesen von Oggersheim fiel, und bei Deidesheim denke ich deswegen an Bilder, auf denen Helmut Kohl Staatsmänner aus dem Ausland mit Saumagen vollstopft, quasi so eine Art fettiges Initiationsritual, durch das durchmusste, wer mit den reichen, aber schlechtgelaunten Deutschen dieser Zeit Geschäfte machen wollte.

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Saumagen habe ich nicht gegessen. Statt dessen waren der J. und ich mit dem unpfälzerischsten aller Pfälzer – unserem lieben Freunde R. – und seiner Frau im L. A. Jordan, das irgendwie zu dem Imperium Bassermann-Jordan gehört, deren Weinflaschen es selbst im biertrinkenden Berlin zu allgemeiner Bekanntheit gebracht haben.

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Das Essen war großartig. Gang um Gang zog an mir vorbei, ich verschlang, schwelgte, schmeckte, bellte in den klaren Himmel der Pfalz alle zwanzig Minuten ein gieriges „verweile doch, du bist so schön“, und wenn das L. A. Jordan jemals eine Dependance an der Spree eröffnet, werde ich zwei Monate vor Eröffnung sabbernd mit Messer und Gabel in der Hand vor der Türschwelle kauern, um das erste verkohlte Rind mit Trüffel zu verspeisen, das die Küche verlässt.

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Weil der R. und die I. ihre Tochter dabei hatten, und auch wir nicht ohne den F. verreisen, saßen an einer Ecke des Tisches die beiden Kinder in Hemd und Kleidchen. Wir hatten für beide Pommes Frites und Saibling bestellt, es gab Traubensaft und ein Eis nach dem Essen. Ab und zu verließen die Kinder den Raum, um draußen zu spielen, malten, sahen sich Bücher an, und unterhielten sich untereinander und mit uns. Es ging sehr gut, und gegen 22:30 verließen wir mit unseren gähnenden Kindern das Lokal.

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Als ich so alt war wie der F. heute, durfte ich beim großelterlichen Essen am Sonntag nicht aufstehen. Und auch nicht sprechen. Oder lesen. Ich saß am unteren Ende des Tisches, übte mich in Gedankenfluchten und starrte an die Wand. Ich bin sehr froh, dass das heute nicht mehr so praktiziert wird, auch wenn ich nicht ungern zu meinen Großeltern fuhr und nicht ganz wenig, was ich über das Altertum, das Barock, Bertrand Russell oder Leibniz weiß, schweigend am Mittagstisch erfahren habe. Aber wenn ich im Netz über einen offenbar breit diskutierten Ansatz lese, Kinder nicht zu erziehen, vermute ich oft, dass so ein Abend im L. A. Jordan mit bewusst unerzogenen Kindern nicht möglich wäre, und dass dieses Modell Kindern viel Weltwissen und viele Erfahrungen der Erwachsenenwelt vorenthält, von der Gastronomie über die Oper bis zur Malerei, und dass dies den Kindern vielleicht einmal fehlen wird, wenn sie 25 sind und sich weniger sicher bewegen als andere.

Scheinbarer Aktionismus

Meine Küche allein. Das ist so ein typisches Berliner Loggienzimmer, zu dick überstrichener Deckenstuck mit Füllhörnern, Stäbchenparkett, und die Ikeaeinbauküche, die schon drin war, als wir da eingezogen sind. Das war vor sechs Jahren. Ein langer, massiver Tisch, sechs geflochtene Stühle aus den Dreißigern mit grünen Polstern und irgendwelche Lampen. Könnte man vermutlich was draus machen. Sieht man ja ständig in irgendwelchen Blogs. Aber ich bin schon zu faul, die Küche auch nur auszumessen, zu träge, Lampen auszusuchen und eine Elektriker mit der Installation zu beauftragen, und jemanden damit zu betrauen, die scheußliche Rauhfaser runterzureißen und zu spachteln bin ich auch.

So ist das eigentlich in allen unseren Räumen. Und bei unserem Porzellan. Und bei der Wäsche, einem Sammelsurium aus Ikea, mitgenommenem Leinen von zuhause und irgendwelchen Einzelstücken, von denen ich jetzt auch nicht weiß, wo das Zeug eigentlich herkommt.

Wenn ich mich frage, wieso das hier eigentlich nicht so aussieht wie die lässigen Wohnungen in irgendwelchen Blogs, beruhige ich mich meistens damit, ich hätte keine Zeit. Das ist natürlich Quatsch, ich habe sogar Zeit für dieses Blog, vermutlich eins der sinnlosesten Hobbys, die ein Mensch sich überhaupt so zulegen kann. Mir fehlt vermutlich schlicht so ein gewisser Schönheitssinn, so ein Sinn für das beiläufig Elegante, so eine Desinvoltura, das Gegenteil von so einer geschleckten Schöner-Wohnen-Hölle, und weil ich das eine nicht will und das andere nicht kann, sieht es eben so aus, wie es aussieht.

Ab und zu aber sticht mich der Hafer. Dann fange ich an, im Internet zu graben. Dann male ich mir aus, wie es aussähe, wäre diese Wand grau, und dort hätte ich einen alten, halbblinden Spiegel. Hier eine dieser schönen, industriellen Lampen. Mein Biedermeiersofa einen schieferfarbenen Chintzbezug statt einfach wieder grün, und auf dem Boden einen dieser prächtigen persischen Teppiche in meergrün und einem pudrigen, hellen Rosé.

Nichts davon werde ich realisieren. Wenn nicht eines Tages einer kommt, der morgens klingelt und ankündigt, er werde nun diese Wohnung generalüberholen, werden sie mich vermutlich eines Tages aus dieser Wohnung tragen, und es sieht keinen Deut anders aus als heute. Aber immer, wenn ich irgendwo Wohnungen sehe, die mich beeindrucken, Hotelzimmer, Bilder im Netz, dann bilde ich mir ein, auch bei mir ginge da noch was, plane herum, und das – immerhin dies – sind dann immer recht vergnügte Stunden.

Drei Mütter

Als der F. und ich von den alten Ägyptern im Neuen Museum kommen, steht sie an der Bahn. Sie ist nicht älter als 20, hat ein kleines Kind auf den Rücken gebunden und bettelt die Passanten um Geld an. Sie ist hübsch, schwarze Haare, dunkler Teint, und einen langen, bunten Rock.

Aus dem F. an meiner Hand sprudelt alles heraus, was er über die alten Ägypter denkt. Über ihre Mumien, ihre Katzen, ihre Götter, ihre falschen Bärte, und er spekuliert nach Herzenslust, was wohl ein Ägypter denken würde, wenn er hier mit ihm an der Berliner Museumsinsel stünde. Vor lauter Begeisterung springt er vom einen Bein auf das andere, und dann verlangt er ein bisschen Geld. Für die Bettlerin.

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Wir haben dem F. erzählt, dass man jedem Bettler etwas geben muss. Dass zwar in Deutschland eigentlich jeder vom Staat etwas zu Essen und ein Dach über dem Kopf bekommt, aber es Leute gibt, die aus irgendwelchen Gründen trotzdem auf Spenden angewiesen sind, und selbst wenn neun das Geld nicht wirklich bräuchten, man den zehnten, wirklich bedürftigen Bettler nicht ohne Gabe ziehen lassen darf. Solange man diesen aber nicht wirklich erkennt, muss man eben allen etwas geben.

Eine andere Mutter einen Schritt entfernt scheint das anders zu sehen. „Geh nicht hin zu de Zejeunerin, Shelley.“, warnt sie laut hörbar ihre auch ungefähr vierjährige Tochter. Laut hörbar erklärt die Frau, die „Zejeuner“ würden alle stehlen. Ich drehe mich zu ihr um. Sie ist jünger als ich, mit dunklem Ansatz unter den strohigen, hellblonden Haaren und einer rosa Kapuzenjacke. Ihre Beine stecken in weißen, dünnen halb langen Hosen. Ihr Knöchel ist tätowiert. Sie könnte Kassiererin im Supermarkt sein, stelle ich mir vor. Oder sie macht irgendwo sauber.

„Seien sie doch bitte wenigstens so höflich, nicht vor der armen Frau so zu hetzen.“, platzt es aus mir heraus. Die fremde Frau glotzt mich an und öffnet ein paarmal wortlos den Mund. Unsagbar dumm sieht das aus, und ich bemühe mich ziemlich fruchtlos, sie für diese sichtbare Dummheit und ihren dumpfen Rassismus nicht zu verachten. Vielleicht hat auch diese Frau kein schönes Leben, wenn sie es nötig hat, über andere Leute in deren Hörweite herzuziehen, und deswegen lächele ich so freundlich wie ich kann, und sage ihr, dass ich es an Stelle der Bettlerin verletzend finden würde, so etwas zu hören.

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„Geh doch dahin, wo du hinjehörst.“, stößt sie schließlich hervor, und diesmal meint sie mich. Ich habe asiatische Vorfahren, das sieht man, aber wenn ich irgendwo hingehöre, dann in den Prenzlauer Berg, den Leute wie ich seit 20 Jahren prägen. Kurz überlege ich, die fremde Frau zu fotografieren, und einfach Anzeige wegen Beleidigung zu erstatten. Statt dessen sage ich ihr nur, wie hässlich ich ihren Rassismus finde.

Dann aber kommt mein Bus. Ich fahre heim in den sonnigen, hellen Prenzlauer Berg mit seinen Cafés, Kinderbuchhandlungen und seinen gut gekleideten Frauen, in dem kleine Mädchen niemals Shelley heißen. An meiner Hand tanzt der F. an den Caféhaustischen vorbei nach Hause, und ich denke darüber nach, ob ich über die tätowierte Rassistin wirklich so anders denke als diese über die arme Bettlerin, und ob die Mutter von Shelley auch so hässlich über andere denken würde, wenn nicht Leute, die mir vielleicht gar nicht unähnlich sind, auch auf sie herabsehen würden, und die Aussichten ihrer Shelley auf ein schönes Leben so gut wären wie die des F.

Kanonen

Es gibt doch gar keine Lieder über Kanonen, sagt der F., und schaut mich auffordernd an. Das ist ein Spiel zwischen uns. Er nennt irgendwas, und ich muss sagen, ob es ein Lied dazu gibt. Es gibt Lieder über fast alles.

Über Kanonen, sage ich, gibt es auch Lieder. Es gibt ganz viele Soldaten- und Landkknechtslieder, aber die kenne ich alle nicht. Ich kenne nur einen Kanonensong, und den singe ich ihm leise vor in unserem dunklen Schlafzimmer, in dem der F. wach mit offenen Augen an die dunkle Decke schaut.

Das hast du dir ausgedacht, sagt der F., weil ich das manchmal mache, aber das weise ich von mir und erzähle ihm von Bertolt Brecht, vom Theater am Schiffbauerdamm, von Helene Weigel, von Berlin und Amerika und von der Dreigroschenoper. Leise, weil ich sehr schlecht singe, singe ich ihm noch das Lied von der Seeräuberjenny vor, und bevor noch der reitende Bote des Königs kommt, fallen dem F. die Augen zu.

Der Klagenfurttag der alten Leute

Wieso gibt es eigentlich keine blonden Frauen, die in Klagenfurt lesen, frage ich mich, und überlege, ob die Juroren, wenn sie Texte aussuchen, eigentlich sofort googlen, wie die Leute aussehen. Früher, das sieht man auf alten Bildern, waren Autoren ja auch mal gern so hässlich wie Kröten, aber als krötenhässlicher Mensch wird man heuer ja gar nichts mehr, da kann man noch so schön singen oder schreiben. Ich wette, sogar als Wissenschaftler ist es inzwischen ein absoluter Nachteil, wenn man klein, fett und warzig ausschaut.

Frau Ada Dorian jedenfalls ist hübsch und dunkelhaarig und sieht eigentlich schon fast exakt so aus wie einige andere Autorinnen aus, aber vielleicht kommt mir das nur so vor. Ich werde ja auch nicht jünger, da schauen dann irgendwann alle jungen Frauen gleich aus und alle alten auch. Nur die Frauen, die so alt sind wie ich, die kann ich noch unterscheiden.

Frau Dorian liest einen Text über einen alten Mann. Der alte Mann ist das letzte Mysterium der Gegenwart, man weiß quasi nichts über sein seelisches Innenleben, weil die alten Männer sich wenig mitteilen, und wer liest schon Martin Walser, aber auch aus Frau Dorians Buch werde ich nichts über alte Männer erfahren, weil ihre Geschichte über einen alten Mann, der sich einen Wald in die Etagenwohnung stellt, mich rein gar nicht interessiert. Die Russlandklischees, die dann auch noch vorkommen, finde ich fade.

Überhaupt ist heute der Tag der Alten. Auch der nächste Text, Herr Gröttrup setzt sich hin, handelt von einem alten Mann, und startet etwas zäh mit der Beschreibung eines älteren Mannes, der so dem Klischee des alten Spießers mit Schrebergarten entspricht, dass ich ein bisschen seufze, weil die Autorin so nett wirkt, dass man ihr einen tollen Einstieg gewünscht hätte. Dann aber hebt Sharon Dodua Otoo zu einer so irrwitzigen, witzigen, leichten Wendung ab, dass ich heiter ein paar Minuten in der heißen Luft über dem Landhafen schwebe und ein bisschen vor mich hin lache.

Das Los aber ist von unerbittlicher Ordnungsliebe. Auch im nächsten Text taucht ein alter Mensch auf, eine Frau diesmal, ein steinaltes Dienstmädchen in einem Hotel, einem verlassenen Hotel, ein rassistisches, böses Dienstmädchen, und ein junges Flüchtlingsmädchen und vielleicht eine schwarze Frau, von der ich nicht weiß, ob es sie in der Realität dieses Romanauszugs wirklich gibt, und es auch nie herausfinden werde, weil schon anhand des kurzen Auszugs des Textes von Astrid Sozio klar wird, dass die Konstruktion nie im Leben funktioniert. Der Text scheitert aufs Krachendste, plumper Schulfunk oder rassistisches Stereotyp, vermutlich beides, und da hilft es dann auch nicht mehr, dass ich der Autorin gern zusehe, auch wenn sie genauso aussieht wie die Hälfte der anderen Autorinnen. IMG_2569

Zum Schluss aber kommt der alte Mann selbst. Dieter Zwicky heißt er, ist Schweizer, und auch diesmal scheitere ich am alten Mann. Ich verstehe nicht, wovon sein Text handelt, ich schlafe fast ein, weil es 32° C warm ist, und sein Text für mich keinen Sinn ergibt. Dazu liest er in schwerem, konsonantenreichen Schweizer Dialekt, ich höre nur den schleppenden, wiegenden Tonfall und ein wahrer Wasserfall an knackenden und krachenden Lauten.

Am Ende sitze ich wieder am See. Ich plaudere ein bisschen, ich sehe in den blauen Himmel, und frage mich, ob mir die alten Leute eigentlich auch so fremd gegenüberstehen, wenn sie mich vorbeifahren sehen, und ob sie mich mögen oder nicht.

Klagenfurtgeschichten

Es ist ein bisschen zu hübsch hier. Der karibisch blaue See, der tiefblaue Himmel mit ein paar Dekowölkchen und die pastellfarbenen Häuser mit weißem Stuck. Nach einer Woche würde man böse und krank, aber so ist es fein. Man läuft herum, fährt Fahrrad, isst sehr gut und viel und hört Leuten zu, die Geschichten vorlesen, um einen der vier Preise zu bekommen.

Ich höre ansonsten das ganze Jahr nicht so lange konzentriert zu. Ich warte immer schon, sprungbereit, was ich gleich sagen soll. Hier aber muss ich nichts sagen, ich bin ja kein Juror, und darf schweigen, wenn mir nichts einfällt. Wenn mir etwas einfällt, dann schreibe ich das auf Twitter. Weil viele andere Leute das auch machen, ist es ganz lustig, gleichzeitig aufeinander einzureden, sich zu widersprechen, sich zu bestätigen, Leute, die auch irgendwo hier sitzen und Leute, die ganz woanders sind.

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Die Texte sind teilweise sehr toll, wie die Texte von Selim Özdogan und Julia Wolf. Teilweise ganz in Ordnung, wie der Text von Sylvie Schenk oder so interessant wie der verästelte Text über die Verwirrung von Sprache, Geschlechtern, Koffern, Kleidern und Körpern bei Tomer Gardi. Manchmal sagen sie mir nichts, wie der Text von Stefanie Sargnagel, die mir zu plump und zu mürrisch vorkommt, aber vielleicht habe ich sie auch nur nicht verstanden, und der antiintellektuelle Habitus stößt mich ab. Ich will Differenzierung, mehr vom Feingesponnenen, sich mit dem Kopf voran in die tiefen Wasser der Literatur begeben. Plump und schlechtgelaunt ist gerade halb Europa, und nicht die beste Hälfte, da hilft es nichts, wenn jetzt noch die Linken, Liberalen, die, die Konflikte nicht mit Gebrüll und Mistgabeln lösen wollen, auf dem selben Niveau zurückpöbeln.

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Tags irgendwann kommt die Nachricht, Österreich wähle noch einmal. Leise, irgendwo im Gebälk unseres morschen Hauses Europa knackt ein Balken, um eines Tages mürbe und morsch zu brechen. Es kommen härtere Zeiten, höre ich den Wind, der abends auf dem Bürgermeisterempfang um das Schloss Maria Loretta streicht, und schließe die Augen auf der Badewiese am Wörthersee, denn besser als jetzt wird es für mich vielleicht nicht mehr werden, und vielleicht auch nicht mehr: Für uns alle.

 

Vorbei

Sie müssen sich die F. als eine nette Frau in durchaus mittleren Jahren vorstellen, dunkelblaue Caprihose, helle Bluse und Tahitiperlen um den Hals, um die ich sie beneide. Vor 20 Jahren haben wir gemeinsam Abi gemacht, vor zehn Jahren hat die F. zwei Jahre in einem Museum gearbeitet und vor acht Jahren aufatmend ihren Job an den Nagel gehängt. Drei Kinder, eins dieser schönen, klassizistischen Häuser in Potsdam und einen selten anwesenden Mann.

Vor wenigen Monaten erhielt die F. eine Nachricht. F. ist bei Facebook, deswegen ist sie leicht zu finden, und die Frau, die ihr mitteilte, sie sei mit dem Mann der F. verlobt, hatte keine fünf Minuten googlen müssen. Ihre Telefonnummer hatte sie praktischerweise auch, da rief sie wenig später dann auch an.

Die F. hatte bestimmt ein paar unangenehme Tage. Es ist ja nicht so schön, wenn man glaubt, man werde verlassen, zumal wenn man selbstgewählt berufslos ist und das auch bleiben möchte. Irgendwann aber, die Spannung wurde wohl unerträglich, sprach sie ihren Mann an. Der winkte ab.

Niemand weiß, was in diesen schweigenden Anzugträgern vorgeht, die nie über sich sprechen und auch nie über andere, weil die sie gar nicht interessieren. Die Anruferin jedenfalls scheint sich in Hinblick auf die Ernsthaftigkeit der Heiratsabsichten geirrt zu haben, der Mann verharrt, wo er ist, und wenn das Telefon der F. klingelt, ohne dass sie weiß, wer es ist, geht sie einfach nicht dran.

Die F. hat keine Ahnung, ob die fremde Frau wahnsinnig ist oder ihr Mann ein Lügner. Oder von beidem ein bisschen. Es scheint sie – auch wenn ich das nicht verstehe – nicht wirklich zu interessieren, denn sie macht einen ganz gelösten Eindruck, spricht gern über ihre wohlgeratenen Kinder, Kunst, die sie kaufen will und eine neue Tapete im Foyer. Ich habe keine Ahnung, wie es sich lebt, wenn man mit der Liebe abgeschlossen hat, und als ich nach dem Mittagessen durch die Hitze zurück ins Büro gehe, überspült mich auf einmal eine Welle des Mitleids, auch wenn ich weiß: Die F. würde das nicht verstehen.

Ich habe gesprochen

Mit dem Literaturbetrieb ist es ja so eine Sache. Abstrakt finde ich so ein ganzes Geschäft rund um Bücher toll. Konkret fürchte ich, dass es am Ende auch nicht so dolle anders aussieht, wenn man mit literarischen Texten hantiert. Was ich über den Literaturbetrieb denke, was ich mit meinem Blog vorhabe, wenn ich mal ganz alt bin: Das habe ich alles dem Openmike Blog erzählt.

Dicke Frauen

„Kann mir gar nichts Ekligeres vorstellen …“, höre ich und drehe mich um. Da sitzt ein schlanker Mann in den Fünfzigern, Strohhut, graues offenes Hemd über einem weißen T-Shirt und bemerkenswert gut sitzende Jeans. Es geht um dicke Frauen. Dicke Frauen mit Tätowierungen, dicke Frauen mit zwei Haarfarben, dicke Frauen, die Kaugummi kauen, aber vor allem dicke Frauen, die öffentlich essen. Dem Mann, der da mit einem anderen, ein wenig jüngerem Mann vor einer Bar sitzt, vergeht dann nämlich alles.

Für einen kurzen Moment schäme ich mich tatsächlich für meine zweite Portion beim Abendessen und dafür, dass ich diese Woche mein Bewegungspensum nicht geschafft habe. Ich will jeden Tag 10.000 Schritte gehen und zweimal die Woche joggen, das ist gar nicht so leicht. Dann aber ergreift mich ein roter Zorn, und ich würde mich sehr gern genau vor dem Mann hinstellen und vor seinen Augen einen halben Liter Schlagsahne löffeln. Stattdessen schauen eine fremde Frau und ich uns gegenseitig an, ziehen eine lustige Fratze und lachen uns fröhlich an und wünschen allen dicken Frauen der Welt einen gesegneten Appetit. Lassen Sie uns speisen.

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Der äußerste Optimismus

Die halbe Welt macht sich angeblich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder. Ich dagegen, und mit mir mein geschätzter Gefährte, sehen mit Optimismus in die Zukunft unseres F., und das liegt nicht etwa an unseren nicht vorhandenen Reichtümern oder an einer gleichfalls nicht erkennbaren Hochbegabung. Hochbegabung kann hier schließlich jeder. Der F. dagegen lässt weit wertvollere Anlagen erkennen.

Nehmen wir etwa so einen gewissen Hang zur Manipulation. Wir etwa kürzlich so auf dem Spielplatz. Der F. rennt mit seinem Freund A. zwischen den Klettergerüsten herum, rutscht, schaukelt, und dann steht er lange vor dem Gerüst und starrt nach oben. Das Gerüst ist hoch, erst recht, wenn man selbst nur so circa einen Meter und zehn zählt, und oben könnte man – das kann man deutlich sehen – ziemlich tief fallen. Der F. starrt also den Turm an und der Turm starrt zurück. Schließlich fällt dem F. etwas ein.

„Da kommst du nicht rauf.“, wendet sich der F. laut an den A., den ebenfalls vierjährig neben ihm steht. „Das kann niemand. Nur mein Papa!“, vertieft der F. seine Äußerung und deutet herausfordernd auf die oberste Plattform. Als der gleichwohl A. zögernd am Fuße des in der Tat ziemlich hohen Spielgerüsts stehen bleibt, legt der F nach: „Da kommst du auch nicht drauf, Lalalala!“.

Wenige Minuten später hat er den A. soweit: A. sitzt auf dem Klettergerüst ganz oben. Der F beginnt vorsichtig, ebenfalls die Stufen zu erklimmen. Und als er auf der ersten ungefähr mittigen Plattform dann doch den Mut verliert, brüllt er nur kurz noch oben: „Da oben ist es viel zu warm.“

Mit Freuden entdecken der geschätzte Gefährte und ich auch eine gewisse Neigung zur beherzten Angeberei. So ist es dem F. vor einiger Zeit gelungen, seine Freunden weiszumachen, er könne schon lesen und schreiben.  Bisweilen zieht man ihn nun als Experten heran,  dann hilft er sich mit einer Mischung aus einem gut entwickelten Sinn für das Wahrscheinliche und der Kenntnis einzelner Buchstaben. Erst kürzlich auf einem Kindergeburtstag brüllte er beherzt auf die Fragen der Gastgebermutter, wer denn die Namen auf den Geschenktüten schon entziffern können: „Ich!“ Stolz sahen der J. und ich uns an. Unternehmensberater? Investmentbanker? Oder einer der erfolgreichsten Anlagebetrüger des noch jungen Jahrhunderts?

Auch die Fähigkeit, mit der ernsthaftesten Miene der Welt die unwahrscheinlichsten Geschichten zu erzählen, wird den F. noch weit bringen. Wer in Flugzeugen lauten Vordersitzern mit der Tötung durch Angela Merkel droht, und bei einem Waldspaziergang behauptet, erst kürzlich mit seinem in unserem Keller wohnhaften Drachen eine Wildschwein- und Hirschkontrolle auf Vollständigkeit durchgeführt zu haben, muss sich keine Sorgen machen, wenn er dermaleinst Banken gegenübertritt, um Finanzierungen inklusive üppiger Gehälter zu ermöglichen, sich Finanzprodukte ausdenkt oder gar eine Sekte gründet.

Wie ich gehört habe, wird der Teil der Schulbildung, den man schlicht lernen muss, sowieso immer kleiner. „Skills“ seien gefragt. Das ist vermutlich genau F.’s Ding.