Tagebuchbloggen

Bernsteintage, Samstag (5)

Es ist halb sieben. Im Schlafanzug, aber mit Schuhen und einem Pappkoffer in der Hand steht der F. vor meinem Bett und zieht an meinem Arm. Ich soll aufstehen, höre ich. Wir müssten los. Zwei Stunden später sind wir auf der Autobahn. Müde bin ich und maximal mittelmäßig gelaunt. Gähnend sitzt der J. am Steuer. Nur der F. lächelt selig auf der Rückbank, lässt die Lider sinken und schläft noch vor Prenzlau ein. Erst in Heringsdorf wird er wieder wach.

Leicht skeptisch beäuge ich das Hotel. Als wir Ende der Neunziger nach Berlin kamen, war die Ostseeküste nämlich eine gastronomisch überraschend unerschlossene Zone, in der die muffigsten Menschen der Welt inmitten grell beleuchteter schriller Dekorationen Fertigsuppen in überschwappenden Tellern servierten. Unter Menschen, die unser Befremden teilten, kursierten skurrile Anekdoten über die Beschaffenheit der feilgebotenen Speisen, und die schönen, alten Villen wurden zu alledem durchweg so geschmacklos wie möglich in Buchenfurnier und Glas neu möbliert und mit Raufaser ausgekleidet. Diverse Jahre fuhren wir nach diesem Schock nur nach Heiligendamm und hielten uns ansonsten ans Ausland.

Von außen widerlegt das Strandhotel Ostseeblick meinen Argwohn jedenfalls nicht. Im Foyer wird es aber schnell deutlich besser. Die Ausstattung ist beruhigend, beige, nude und braun dominieren, nichts stört das Auge, und die Dame an der Rezeption ist freundlich. Überhaupt – so fällt es mir auf – sind alle Mitarbeiter ausgesprochen nett, viel, viel netter als an der eher rauen Ostseeküste als normal gelten darf, und so entspanne ich mich schnell. Der F. bekommt einen roten Luftballon, wir nach Jahren wieder einmal einen richtigen Schlüssel mit einer hübsch gedrehten Kordel und sitzen stracks in unserem Zimmer. Klein ist es, aber die größeren, sicher schönen Zimmer haben bestimmt diejenigen bekommen, die vor uns angerufen haben. Inzwischen überwiegt die Dankbarkeit: Wir haben mit drei Tagen Vorlauf in Usedom noch etwas bekommen, das mehr ist als nur passabel. Und der M. und die M. mit ihren Kindern auch.

Wo aber stecken …? Ans Telefon gehen sie jedenfalls nicht. Auch als wir – leider nicht weit entfernt – an der grässlichen Kurmuschel Fischbrötchen essen, erreichen wir sie nicht.  Erst Stunden später brummt das Handy, da fahren sie erst herum, checken dann ein, und als wir im kleinen, aber hübschen Pool mit dem Plastikkrokodil des F. kämpfen, sitzen sie am Strand. Wir packen also alles zusammen und folgen nach. Dann sitzen wir im warmen Sand, verabschieden den Sommer und sehen den Kindern zu, die rennen, graben, springen und jubilieren, als sei der Strand selbst ein Fest. Fanfaren aus Sand.

An der Kurmuschel füttern wir die Kinder einige Stunden später mit Flammkuchen und Sprudel. Rund um uns herum sitzen Leute, die man zum Glück sonst nie sieht, trinken Bier, reden fürchterlich laut das skurrilste Zeug auf Erden und klatschen im Takt zu den Schlagern, die eine magere Sängerin mit schlecht gefärbten Haaren auf der Bühne zum Besten gibt. „Mein Herz ist wie ein Bumerang“, höre ich und pruste fast los vor so viel Trostlosigkeit und Tristesse.

Endlich sind auch die Kinder satt. Noch ein letzter Moment am Meer, die Füße im Sand. Eine Gutenachtgeschichte, ein Lied, dann die langen, regelmäßigen Atemzüge des F., und dann schleichen wir uns leise, leise ins Erdgeschoss. Negroni und Bier. Als wir komplett sind, bestellen wir im hoteleigenen Restaurant Bernstein und sind überrascht.

Der Gruß aus der Küche besteht aus einer Gurkensuppe mit Karottenschaum und ist lecker, das schon, aber nicht besonders originell. Die Vorspeise dagegen ist schon ein Knaller. Es gibt Hummer, sauber ausgelöst, ein frisches, schmelzendes Gelee, das sich beim Blick auf die Karte als Bergamotte-Gelee herausstellt, und eine diffus asiatisch wirkende Sauce, die – einziger Kritikpunkt – eine Spur zu sauer ausfällt. Ich atme schneller.  Mir gegenüber zelebriert der J. einen Thunfisch, um den ich ihn heftig beneide. Die Klekse rund um den Thunfisch wirken auch so, als müsste man auf der Stelle von allem das Dreifache essen. Das machen wir zum Glück aber nicht. Denn jetzt kommt das Hauptgericht, bei uns allen ein Dry Aged Rinderfilet von so unfassbarer Zartheit, dass ich sofort im Grill Royal anrufen will, damit die ganz viel davon bestellen, auf dass ich dieses Zeug künftig in Reichweite habe. Drei, vier Gnocchi liegen noch herum, und ein Erbspüree, anlässlich dessen ich allen Vorbehalten gegenüber einer norddeutsch regionalen Küche auf der Stelle abschwöre. Da sitze ich also, schaue durch das halbrunde Glaspanorama auf die schwarze See und bin einfach nur glücklich, trinke einen ordentlichen Rosé, warte auf meinen Käse und danke meinen Göttern für alles. Essen und Trinken. Freunde. Das schlafende Kind. Das Kind, auch wenn es nicht schläft. Den J., die Nacht, den Himmel und hätte einer auch nur vage gefragt, ob ich auf den Dessertwein zum Käse noch ein Glas Champagner gehoben hätte: Ich hätte die ganze Flasche bestellt. Zum Glück kam keiner. Denn am nächsten Morgen …

Aber dazu morgen mehr.

Bernsteintage, Donnerstag (4)

Ich muss hier jetzt ganz schnell was essen. Ich weiß nur nicht, was. Links gibt es koreanische Hot Dogs. Rechts wird geräuchert. Irgendwo hat die Frau neben mir doch diesen gelben Fladen mit der unsagbar lecker riechenden Füllung her. Und wo gibt es eigentlich diese kleinen Bouletten?

Frau Wortschnittchen geht es offenbar ähnlich. Sabbernd laufen wir im Zickzack durch den Street Food Thursday in der Markthalle neun. Ich bereue intensivst, heute schon etwas gegessen zu haben, und überlege über meinem Reuben Sandwich von Mogg & Melzer, was danach noch geht. So ein Teller japanische Ramen vielleicht. Oder Kässpatzen. Oder Tapioka-Fladen. Oder neuseeländische Pies. Oder …. aber dann bin ich satt. Verdammt.

Aus lauter Gier stopfe ich noch ein Keks-Eis-Sandwich von Zwei dicke Bären hinterher. Dann geht nichts mehr. Mit dem ebenfalls nudeldicken Kind auf dem Rücksitz schwanke ich zurück Richtung Prenzlberg und schwöre baldige Rückkehr. Hungrig. Sehr hungrig. Überaus hungrig, wenn möglich.

Bernsteintage, Dienstag (4)

Nichts. An der ganzen Ostseeküste gibt es kein einziges freies Bett mehr, zumindest nicht kurzfristig, und wenn ein Hotel doch noch etwas hat, dann nicht für zweimal zwei Erwachsene mit einmal einem und einmal zwei kleinen Kindern. In zunehmender Verzweiflung sitze ich am Schreibtisch und melke Mäuse. Oder rufe immer neue Hotels an. Online geht sowieso nichts mehr.

Im Hintergrund – sofern man in Zusammenhang mit einem Zweijährigem jemals von Hintergrund sprechen kann – lärmt der F.. „Knupfer, knupfer, knäuschen ….“, kreischt er, während ich mit Hotels namens Seeschlösschen, Esplanade oder Zur Post telefoniere. Selbst wenn die angerufenen Häuser noch freie Zimmer haben sollten, verleugnen sie diese vermutlich in Ansehung von des F. schrillen Gesängen.

„Jetzt lass mich doch mal …“, versuche ich mich des F. zumindest kurz zu erwehren, während telefonisch die Ostseewellen einer besonders penetranten Hotline aus dem Hörer schwappen. „Eine Aufbettung ist in jeder verfügbaren Zimmerkategorie leider nicht möglich.“, flötet die Rezeptionistin eines weiteren Hotels mit einem Maximum falscher Freundlichkeit. Neben mir grölt der F. nun unüberhörbar ein Lied über ein offenbar trollartiges Geschöpf namens Bi-, Ba-, Butzemann, das die Bewohner eines Hauses durch  heftige, anscheinend bewegungsbedingte Geräuschentwicklung empfindlich zu stören scheint. Wer kennt diese Situation, frage ich mich im Stillen, besser als ich?

„Gehst du jetzt in dein Zimmer?“, frage ich irgendwann mit eher schwacher Hoffnung auf Erfüllung, und wider jegliche Erwartung verschwindet der F. nach hinten. Auf einmal wird in der Küche richtiggehend still. Ich rufe im nächsten Hotel an. „Zwei Doppelzimmer sagen sie? Da kann ich ihnen nur noch ein Classic und ein Superior anbieten.“, erhalte ich zur Antwort und verschlucke mich fast vor Überraschung. Sehr weit weg hämmert der F. auf sein Xylophon. „Gern!“, rufe ich ein Spur zu laut und vergesse um ein Haar, mich nach dem Preis zu erkundigen. Mir ist nach zwei Stunden am Telephon schon fast alles gleich.

Ich sage sofort zu. Bevor der F. wieder auftaucht und die Zimmer sich doch als vergeben erweisen.

Bernsteintage, Montag (3)

„Mama nicht so viel!“, krakeelt der F. und zeigt unmissverständlich auf meinen Teller. „Und ob, mein Liebling!“, protestiere ich und nehme noch einmal nach. Es gibt Polenta und gehackte Auberginen mit ziemlich viel Parmesan. „Mama, nur ‚müse!“, fordert der F. noch einmal die sofortige Rückgabe der Polenta. „Wo mein Fleisch?“, stochert er parallel mit der Gabel in seinem Gemüse herum. „Ich noch ein Spiegelei!“, schlägt er vor, als er nicht fündig wird und verfolgt jeden Gabelbissen auf dem Weg zu meinem Mund. „Mama, dick!“, zieht er die letzten Register, um mich vom weiteren Verzehr abzuhalten.

Als der J. auftaucht, schaut er sich nur flüchtig um. „Mama viel nehme!“, beschwert er sich  beim J. über mich und schaut mit Argusaugen an, was – und vor allem: wie viel – der J. sich auf den Teller lädt.

F’s eigener Teller bleibt dabei verdächtig voll. „Du isst ja kaum was.!“, spreche ich den F. schließlich an. Er schüttelt den Kopf und zieht seinen Teller näher zu sich heran, ohne jedoch seine nahrungsaufnahme zu intensivieren. „Mein Essen!“, brüllt er, gerät dabei bedrohlich aus dem Gleichgewicht und gibt schließlich auf. „Tschüß, Essen!“, verabschiedet er sich, begibt sich ins Bad und lässt sich die Zähne putzen.

Als er zurückkommt, isst der J. seine reichlichen Reste. „Papa, mein Essen!“, heult der F. auf. „Aber du isst doch gar nichts mehr!“, verteidigt sich der J. gegen den schreienden, weinenden, knallroten F. „Ich wegschmeißen! Ich!“, versucht der F. meinem geschätzten Gefährten das Essen aus der Hand zu reißen, um es in den Abfall zu expedieren, bevor es der J. isst. Minuten später gibt er erst auf.

„Schlaf gut!“, setze ich mich 20 Minuten später an sein Bett. Friedlich schmatzt der F. im Schlaf imaginäre Mahlzeiten. Auf seiner Wange haben die Wuttränen eine hellgelbe, krümelige Sour hinterlassen.

Ich stehe auf. In der rechten Hand schwenke ich ein großes Stück Comté, mit der linken ziehe ich die Fenster zu, und beiße herzhaft ab. Gute Nacht.

Bernsteintage, Sonntag (2)

Es ist kurz nach elf, als es klingelt. Gähnend wanke ich zur Tür. Die M. und der M. sind aus Frankreich zurück. In Unterwäsche sitzen der J. und ich verstrubbelt und mit Schlaf in den Augen auf unserer Couch und bieten Kaffee an, lassen uns von den drei Wochen Frankreich erzählen und erzählen selbst. Usedom. Neue Kitagruppe. Der gebrochene Arm des J. Durch das Chaos aus Decken, Kaffeetassen und herumliegenden Kleidungsstücken läuft der F., zeigt seine Basteleien von gestern und isst Sesamkringel mit Käse. Bis nachher, verabschieden wir uns, verabreden uns mit den Kindern auf dem Spielplatz und schlafen weiter.

Als ich die Vorhänge zuziehe, hat der F. die Augen schon zu, und auch der J. zieht die Decke fest über den Rücken und ist schon weg. Als wir erwachen, ist es viertel nach vier.

Der M. und die M. sind schon seit zwei Stunden auf dem Spielplatz. Noch immer gähnend stolpern wir hinterher. Knallbraun, fröhlich im Karokleid läuft uns die Tochter der Freunde entgegen. Der F. strahlt. Ball spielend, Löcher grabend, plappernd und plaudernd kreisen die Kinder um die Bäume im Park.

Kurz vor sechs sitzen wir auf der Terrasse vom Brot und Rosen am Volkspark. Die Kinder teilen sich kreischend eine Pizza, und wir schauen durch die Rosenhecke auf die Straße und verscheuchen die Wespen, die über den Saftgläsern kreisen. Einen Salat mit Pfifferlingen bestelle ich und ein Carpaccio, freue mich über die wiedergekehrten Freunde, gähne, weil ich heute gar nicht genug schlafen kann, und gehe, heimgekehrt, früh ins Bett. Neben mir räkelt sich mit runden, roten Backen der F. und murmelt irgendetwas, was keiner versteht.

Bernsteintage, Samstag (1)

Bitte nicht. Es ist doch erst 7:30 Uhr. Und heute ist Samstag. Kleines Monster, geh‘ wieder schlafen. Oder koch‘ mir einen Kaffee. Oder sag‘ dem Papa, dass er mir einen Kaffee kochen soll. Dann stehe ich vielleicht auf und gehe zu Rewe und auf den Markt am Arnswalder Platz. Krautsalat, Feldsalat und tiefgekühlte Brezeln.

Bitte nicht. Sag‘ bitte irgendetwas. Wenn du jetzt nichts sagst, dann schläfst du, und wenn du jetzt schläfst, bist du heute abend bis in die Puppen wach. Das finde ich doof, weil ich heute abend lange aufbleiben und mit der I. und dem S. die Legenden von Andor spielen will, und da musst du schlafen. Wach also auf und iss Nudeln mit mir. Ja, es gibt Nudeln. Direkt vom Markt, ein Pfund Ravioli mit Ziegenkäse und Trüffeln von Pasta e più. Schau, dass ist doch ein guter Grund aufzustehen.

Hab‘ ich’s doch gewusst. Jetzt bist du wach. Lass uns gleich um die Ecke ein Geschenk für deinen Freund L. kaufen. Der wird auch zwei. So wie du. Wir kaufen Knete, und weil wir schon mal da sind, kaufen wir eine Bastelschere und Kinderkleber für dich. Wenn wir zu Hause sind, darfst du lauter bunte Papierfetzen damit in Stücke schneiden, und die klebst du dann auf einen Kerl, den Mama für dich ausschneidet. Der Kerl friert und braucht ein schönes, buntes Fell.

Jetzt aber los. Wir fahren mit der Tram bis zum Mauerpark, und dann läufst du auf deinen kurzen Beinen durch den ganzen Park bis zum Moritzhof, weil sie da Tiere haben. Nein, Mama hat keine schlechte Laune deinetwegen. Die hasst nur diesen räudigsten der Berliner Parks, und alle, die da inmitten von Scherben und Dreck sitzen, grölen und grillen. Der Rasen sieht aus, als habe er eine ansteckende Krankheit, und die Leute wirken so, als müsse man mindestens zehn Semester Soziale Arbeit studiert haben, um ihnen anders als mit gereiztem Unverständnis zu begegnen.

Angekommen wird aber alles gut. Da, schau, die haben Tiere. Und gleich gibt es auch ein Frozen Yogurt. Die Papas stehen in der Sonne und unterhalten sich über das Leben in Büros. Die Mamas sprechen über sonderbare Unistädte. Deine Mama hat übrigens auch in einer besonders merkwürdigen Unistadt studiert, da glauben manche Leute bis heute nicht, dass es da überhaupt eine Uni gibt. Das lag an ihrem miesen Abi, aber darauf ist die Mama – das ist ein bisschen verrückt – sogar ein wenig stolz. Das musst du nicht verstehen.

Am Ende läufst du die ganze, lange Kopenhagener Straße zur Tram. Vor einem Haus bleiben deine Eltern stehen und freuen sich ein bisschen, weil sie da keine Wohnung gekauft haben. Das hatten sie mal diskutiert und sogar mit einem Makler gesprochen. Das ist vier Jahre her. Heute wohnen da immer noch keine Leute, und die Fenster scheinen ganz neu eingesetzt zu sein. Wahrscheinlich dreimal pleite gegangen in der Zwischenzeit. Wie es halt so geht.

Am Ende bist du so, so, so müde und planscht unmotiviert noch ein bisschen in der Badewanne herum. Es gibt eine Brezel, Weintrauben und eine Wurst, etwas Apfelsaft, und als die I. und der S. kommen, darfst du noch kurz guten Abend sagen. Dann gehst du schlafen. In der Küche werden Schlachten auf dem Spielbrett geschlagen, während du schläfst, man trinkt Bier, man isst Brezeln, Käse aus Brodowin, den unfassbar leckeren Leberkäse der Hermannsdorfer Werkstätten und Salat.

Dann wird es dunkel und still.

Oktober, 14

„Immerhin ein Kitaplatz.“, rufe ich der I.2 zu, die hinter ihrer Tochter her zur Rutsche läuft. „Super.“, antwortet mir die I.2 ein bisschen atemlos. Dass die Kita nicht nebenan, sondern zwischen so Plattenbauten keine zehn Fahrradminuten entfernt in Mitte steht, findet die I.2 nicht so schlimm.

Der J. dagegen ist ziemlich skeptisch. Der J. hat Vorurteile gegen Plattenbauten und alle, die in Plattenbauten wohnen, und sieht seinen einjährigen Sohn wohl schon umgeben von lauter rassistischen Kleinkindern mit kurzgeschorenen Haaren, deren erster Zwei-Wortsatz vermutlich „Ausländer raus“ lautet. Aussagesätze beschließen die vom J. in der Kita vermuteten Kinder alle am Ende mit „wa“, wie es unter sehr rustikalen Berlinern üblich ist. Wenn die Kinder nicht in der Kita sind, sehen sie fern.

Ich dagegen hoffe auf den Verdrängungseffekt netter, zugezogener Prenzlberger. Die Kita, behaupte ich, wird ganz bestimmt von Kindern aus unserer Nachbarschaft frequentiert. Im Plattenbau in Mitte wohnen doch vermutlich nur noch Rentner.

Im Übrigen – das sage ich auch dem J. – haben wir kaum eine Alternative. Die niedlichen Kleinkitas in der Nachbarschaft wollen ja alle, dass man Elternarbeit leistet, was bei uns nicht hinhaut, weil wir arbeiten, wenn andere mit Kleinkindern tanzen. Außerdem brauche ich eine Kita, die nicht so ewig lange im Sommer schließt. Ich frage mich immer, wie es eigentlich andere Eltern machen, aber wenn ich nachfrage, sind wir offenbar fast das einzige Paar, das aus zwei voll berufstätigen Personen besteht, die auch mal Abendtermine haben und mehr als 40 Stunden arbeiten gehen.

„Wir versuchen’s parallel noch bei den anderen Kitas.“, berichte der I.2, deren Tochter inzwischen die Wackelbrücke gegen andere Kinder verteidigt, und ziehe die Nase ein bisschen kraus. Ich habe mich ziemlich gefreut, als die Kitaleiterin letzte Woche anrief. Inzwischen hat mich der J. mit seinen Bedenken doch ein wenig angesteckt. Angestrengt überlege ich, wie man die Art und Güte der Miteltern und ihrer Kinder am Mittwoch abfragt, wenn wir mit der Kitaleiterin sprechen, und beschließe, die anderen Kinder ganz genau in Augenschein zu nehmen. Vielleicht sieht man ja was. Oder die Kinder sagen Sätze wie „Hammer, wa!“ oder tragen Runen auf dem T-Shirt.

(Abends dann mit der J. lange gut gegessen und geplaudert. Zu wenig geschlafen. Schöner Tag, schöner Abend.)

Oktober, 13

In gewisser Weise finde ich Kochblogs deprimierend. Die Sachen sehen immer so verdammt gut aus. Allein schon der Gedanke, dass die ganz normalen Leute, die diese Blogs haben, die Rezepte, die ich in Kochbüchern und -zeitschriften immer als viel zu aufwändig verwerfe, tatsächlich und wirklich kochen, macht mich irgendwie fertig. Ich fühle mich mit meinen 15 Minuten Rezepten dann immer ein bisschen so wie diese in jeder Hinsicht aus dem Leim gegangenen haltlosen Leute mit Unterhemd und ohne Job, die vom Sofa aus ab und zu in die Küche schlappen, um sich tiefgefrorene Hot Dogs in dee Mikrowelle aufzuwärmen und ihren Kindern ein frisches Glas Hipp aufzumachen.

Tatsächlich würde ich von mir sogar behaupten, Kochen zu können. Es ist auch nicht so, dass ich Fertigessen kaufe, wenn man mal von frischer Pasta absieht. Ich koche aber eigentlich immer dasselbe, also so eine Mischung aus Gerichten, die ich halt kenne, wie Gulasch oder Bouletten oder Kürbissuppe, und ein paar international anmutenden Gerichten, die schnell gehen wie rotes Curry aus Currypaste und Kokosmilch oder irgendwas Pfannengerührtes mit Sojasauce und so. Im Ergebnis schmeckt es, glaube ich, bei mir, aber ich besitze schon die Hälfte der Kochutensilien nicht, die Leute offenbar so haben, und irgendwie wüsste ich auch nicht, wann ich das Essen machen könnte, das man woanders manchmal so sieht.

Ich habe früher eigentlich angenommen, dass das den meisten Leuten so geht. Dagegen spricht aber, dass ja nicht jeder, der richtig gut kocht, auch gleich foodblogt. Möglicherweise verhält es sich andersrum: Die meisten Leute, die überhaupt kochen, also alle, abzüglich derjenigen im Unterhemd, kochen halbwegs modern und originell. Ein paar von denen dokumentieren das auch auch im Netz. Ich allein bin der letzte Saurier. In meiner Höhle gibt es Essen, das aus nicht mehr als drei Zutaten besteht und nie länger als 20 Minuten für die Zubereitung braucht.

(Nun denn: Es gab gestern abend Tofu mit Zucchini und einer Sauce aus Kochujang, Sojasauce, Zucker und dazu Gurken und Reis. Heute brate ich Merguez mit Fladenbrot, Hummus und so Auberginenzeug. Die J. kommt. Dann trinken wir einen auf die Saurier. Mögen sie noch lange leben und kochen.)

Oktober, 11

In diesem Setting sieht sogar ein Gaskamin gut aus, und die zunehmend verschmierte schwarze Tischplatte strahlt eine Art schmutzigen Glamour aus, Mitte, Style, Lässigkeit und sogar ich fühle mich in dieser Umgebung gutaussehend und interessant. Für meine Freundin T. gilt das natürlich erst recht, aber die sieht vermutlich sogar bei IKEA gut aus, und macht bestimmt auch auf einem Spielplatz in Regen und Matsch eine gute Figur. Sie sitzt mir also gegenüber und trinkt absolut makellos ein Glas Rotwein.

Um uns herum sind eigentlich alle Menschen ziemlich schön. Das ist ein wesentlicher Grund, warum es angenehmer ist, in Mitte auszugehen als woanders, also die Schönheit der Menschen in Mitte, aber hier, gerade in diesem Moment, fällt es noch mehr auf als sonst. Auf der Torstraße verkehren die schönsten Menschen Berlins und gehen essen.

Die T. und ich jedenfalls reden inmitten von so viel Schönheit ziemlich viel über Politik. Das interessiert uns beide, also das Handwerk der Politik, das Darum und Dahinter, ein bisschen Klatsch, ein paar „Ach so“-Geschichten, und außerdem regen wir uns über die Berliner Schulpolitik auf wie vermutlich alle Einwohner der Stadt, die Kinder haben, auch. Außerdem sprechen wir von de USA, vom Präsidentenwahlkampf, und sind uns einig, dass Obama zu den attraktivsten Männern der Welt gehört.

Das Essen, was wir dazu essen, ist okay. Meine Aubergine ist eine winzige Spur zu bitter, nur ganz wenig, ein Hauch, als sei jemand einen Moment zu langsam mit einem Topf Bitterkeit vorbeigegangen, und auch die Moules Frites der T. sind nicht ganz perfekt. Mein Gelbschwanztuna ist zart und schmilzt auf der Zunge, aber der Pistazienrand ist ein ganz, ganz wenig zu cremig, zu pralinig. Das Hummus ist zu wenig gesalzen. Gut gegessen haben wir trotzdem, und sitzen sehr zufrieden zwischen all den schönen Menschen und schauen uns die Kleider der Frauen und die Frisuren der Männer an. Inzwischen sind wir bei Indiskretionen über gemeinsame Bekannte angekommen und überreden uns gegenseitig zu immer noch einem Glas Wein.

Es ist fast zwölf, als ich zu Hause ankomme. Der F. schläft tief, seinen Schnuler fest im Mund. Der J. liegt auf dem Sofa. „Ich bin müde.“, sage ich und gähne und strahle mein Spiegelbild im Badezimmer an. Ich bin schöner als sonst, will es mir scheinen, nicht so schön wie die Leute in Mitte, aber schön genug für mich, schön genug für einen schönen Abend, und so gehe ich hochzufrieden zu Bett und lese, tja, ein nicht ganu so schönes Buch, aber das ist auf die Schnelle nicht zu ändern.

Oktober, 10

Das neue Buch vom Haas ist blöd. Wieder und wieder schweife ich ab, lese kurz Nachrichten auf dem iPhone, gähne und zähle die wild herumliegenden Kleidungsstücke auf dem weißen Bord. Ich komme in die Geschichte seines verliebten Halbindianers nicht richtig hinein, und die typographischen Spielereien amüsieren mich nicht.

Unkonzentriert greife ich auf dem Nachtisch nach dem neuen Krausser. Die Kritiken waren unterirdisch, auch mir haben die drei, vier Seiten nicht gefallen, die ich gelesen habe, aber vielleicht gewinnt das Buch ja auf die Dauer. Oder ich lese den neuen Juli Zeh. Das habe ich zum Geburtstag geschenkt bekommen. Ich kann Juli Zeh aber an sich spätestens seit Spieltrieb nicht ausstehen.

„Das macht alles keinen Spaß.“, nörgele ich ein bisschen den J. an, als der mit de Zahnbürste im Mund ins Schlafzimmer kommt. „Dann lies doch …“, sagt er.

(Sagt er natürlich nicht. Sagen Sie etwas. Was kann ich lesen?)