tua res non agitur
Von keiner europäischen Epoche, will mir scheinen, ist unsere Vorstellung so präzise wie von den knapp 150 Jahren zwischen dem Aufstieg Napoleons und dem Tod Adolf Hitlers. Dies mag zum einen an den technischen Möglichkeiten der Dokumentation liegen. Überdies fördert die zeitliche Nähe und die massenhafte Existenz von Zeitzeugnissen in Form von Tagebüchern, Briefen etc. aus so gut wie allen europäischen Regionen und Gesellschaftsschichten unsere Vorstellung, wie das Leben der Menschen tatsächlich verlaufen sein muss. Zu einem nicht geringen Teil aber beruht unsere Kenntnis dieser Jahrzehnte auf der Präzision ihrer Literatur.
In jenen Jahren, so wissen wir, gelangt der Roman zu einer seither kaum mehr übertroffenen Meisterschaft, die Gegebenheiten des äußeren Lebens mit einer Genauigkeit abzubilden, die es uns ermöglicht, den Speiseplan einer Lübecker Kaufmannsfamilie ebenso nachzuvollziehen wie die genauen Umstände des Aufstiegs eines französischen Journalisten, die Urlaubsgewohnheiten einer Wiener Arztfamilie oder die Art und Weise, wie ein russischer Aristokrat Weihnachten feiert. Wir wissen, welche Vorbereitungen ein Ball in der britischen Provinz erfordert. Wir kennen aber auch nicht minder die Ängste eines Pragers Angestellten, die Inkonsequenzen einer Gesellschaft, die eine russische Dame am Ende unter die Eisenbahn bringen, und hören den Lügen dieser Epoche ebenso zu wie ihren Witzen, ihren Wahrheiten, ihren Traurigkeiten und ihrem Tod. Wir sind, mit einem Wort, mit dem alltäglichen Leben des Bürgers des 19. Jahrhunderts und des frühen 20. in hohem Maße vertraut.
Mit dem Krieg, mit der Gruppe 47 vielleicht, vielleicht auch noch später, hört die deutschsprachige Literatur langsam erst, dann schneller auf, das alltägliche Leben zu beschreiben. Es scheint, als ob insbesondere das Leben des Durchschnittsbürgers stark an Interesse für diejenigen verloren hat, die es zwar meist – dem eigenen Herkommen nach – kennen müssten, es zu beschreiben aber wenig Liebe zeigen. Spielt ein Roman doch einmal in der Welt der dauergewellten Vorzimmerdamen, der rheinischen Notare oder der Sachbearbeiter in einer großen Behörde, so scheinen die Autoren ihrem Sujet nie ganz zu trauen.
Nun gibt es sicherlich keinen Grund, die Welt eines badischen Hosenfabrikanten langweiliger zu finden, als die Welt der vermutlich überaus banalen Madame Bovary. Gleichwohl flüchtet die Literatur entweder in die vermeintlich pittoreske Welt an den Rändern der Gesellschaft, die – so meine Vermutung – keinesfalls so beschaffen sein kann, wie sie in den Romanen insbesondere der letzten drei Jahrzehnte auftaucht. Das Leben auf der Straße mag des Erzählens wert sein – Gründe, es interessanter, reicher oder vielschichtiger zu finden als das Leben desjenigen, der sich Gedanken nicht über das „Ob“ eines Bettes zur Nacht, sondern über das „Wie“ seiner Schlafzimmereinrichtung macht, sind nur schwer ersichtlich.
Flüchtet die Literatur nicht aus dem Leben der Mittelschicht (die gerade amerikanische Autoren zeitgleich durchaus zu inspirieren scheint), so misslingt die Darstellung des alltäglichen Lebens oft aus einem etwas überraschenden Grunde: Die Verachtung des Bohémiens für den Bürger ist weder neu, noch war das 19. Jahrhundert frei von diesem Dünkel. Allerdings scheint es den Autoren jener Jahre besser gelungen zu sein, der Kraft ihrer Worte vertrauend, auf übertreibende, ihren Gegenstand verzeichnende Darstellungen zu verzichten. Dem gegenüber entspricht die Darstellung des Alltagslebens der letzten Jahrzehnte und der unmittelbaren Gegenwart keineswegs der Realität, noch sind die Protagonisten so flach, so dumm oder so brutal, wie dies die Gegenwartsliteratur nahelegt. Ob hier Unerfahrenheit oder schlichte Arroganz die Quelle der Fehldarstellung bilden, gehört zu denjenigen Dingen, über die nachzudenken wohl ebenso wenig brächte wie ein paar direkte Fragen.
Dieses etwas eigenartige Verhältnis zur bürgerlichen Realität führt zu sonderbaren Konsequenzen: Da der Held einer tragischen Liebesgeschichte offenbar nicht Mitarbeiter der Schadensabteilung einer Versicherung sein darf, und die erfolgreiche Umsetzung einer Firmenfusion keinen Gegenstand von Romanen bildet, spielt ein guter Teil der Gegenwartsliteratur in einer Welt, die es so nicht gibt. Die Einbettung in eine vollkommen künstliche oder schlicht nur angedeutete Umgebung enthebt den Autor der Notwendigkeit, eine realistische Darstellung der Welt zu liefern, wie sie aussieht, wie sie riecht und schmeckt, und wie diejenigen, die sich in ihr bewegen, denken, wie sie lieben, was sie ärgert, und wie sie sprechen. Das in der deutschen Kunstprosa der Gegenwart gesprochene Idiom ist vollkommen artifiziell.
Im Ergebnis findet eine Dokumentation des Alltagslebens, wie sie für das 19. Jahrhundert mit einer fast beängstigenden Lückenlosigkeit existiert, nicht mehr statt: Die ernste Literatur, die auf Kritiken und Preise schielt, will ihre Kunstfertigkeit nicht auf das Leben der Mehrheitsgesellschaft verschwenden. Die Unterhaltungsliteratur ist, soweit ich sie kenne, dazu nicht in der Lage. Die Tragik, die Ambivalenz und das ganz normale Leben des Bürgers dieser Tage findet damit keinen Niederschlag in der anspruchsvollen zeitgenössischen Literatur, die den Wunsch, ihre Zeit abzubilden, aufgegeben zu haben scheint zugunsten eines Anspruchs, der viel mit Artistik zu tun hat, und wenig, will mir scheinen, mit dem Wille, uns aufzubewahren mit unseren Abenteuern, unseren Träumen, unseren Fehlern und Verbrechen und dem, was unsere Tage tatsächlich füllt, und so wird unsere Welt mit uns sterben.
‚Unsere Welt aber wird mit uns sterben‘. Das wäre dann im Ergebnis wie ein erweiterter Suicid ohne Suicid…
Tatsächlich scheint die Beschreibung der Außenwelt zugunsten innenweltlicher Befindlichkeiten vergleichsweise heute eher zu kurz zu kommen. Die Dingwelt ist in einem unreflektierten, schlechten Sinne zu ’selbstverständlich‘ geworden…Unterstützt wird das noch durch die rezeptiv gar nicht mehr zu verarbeitende Bilderflut, welche die sprachlichen Ausdrucksmittel geradezu in die Innenwelt zwingt…
Bei Doderer findet sich eine – wie ich finde – passende Überlegung dazu: „…wenn sogar Banalitäten zu leuchten beginnen, dann ist die Sonne der Wirklichkeit in unserem Leben aufgegangen, wir haben Außen und Innen vollends verschmolzen“.
In diesem Sinn ist die ‚artistische‘ Flucht des ‚heutigen‘ Schriftstellers nach Innen auch als Kapitulation vor der Übermacht einer vermeintlich banalen Wirklichkeit zu lesen. Das Banale aber muss ausdrücklich beschrieben und gebannt werden, damit es leuchten und schließlich (mit uns) verglühen kann…
Erstaunlich finde ich, dass selbes auch für Bilder/Fotografien gilt: Es werden heute zwar so viele Bilder gemacht wie nie zuvor, relativ wenige aber bilden das Alltagsleben ab.
Wir werden uns in 20 Jahren schon wundern wie wenige Bilder wir haben, die ungeschönt und unretouschiert „normale“ Menschen in „normalen Situationen“ zeigen.
woran liegt das? an unserem projektionismus? daß wir immer auf der anderen seite der tür sein wollen und uns daher in leben und situationen hineinträumen, die weit weg sind von unserem alltag?
an den amerikanern finde ich gerade die reibung zwischen dem innenleben und dem, was „außen“ passiert sehr spannend.
dabei sind doch gegenwartsschriftsteller ganz normale menschen. von ein paar berufsbohemiens abgesehen haben sie familie und leben nicht auf dem mars.
wenn du nach der zahl der werke urteilst,
hast du sicher recht. ausnahmen gibt es aber auch unter den neueren deutschsprachigen autoren – nur recht bekannt wollen sie mit ihren diesbezüglichen büchern nicht werden.
nimm jemanden wie herrn richartz – nie gehört, oder? aber lesenswert ist er – sein „büroroman“, erstausgabe 1976. bisschen bekannter und vielleicht in die von dir beschrieben richtung: jurek becker?
und da fällt mir in der schiene noch ein: monika maron? oder österreicher, die das manchmal können: alfred komarek und gabriel barylli.
So ganz bin ich mit deiner These nicht einverstanden: Es gab nach dem Krieg auch hier viel Literatur von hoher Qualität, welche ‚die Normalität des Alltags‘ sezierte – und auch das Seelenleben des kleinen Angestellten. Sie ist vielleicht in Vergessenheit geraten – oder nicht so erfolgreich gewesen wie anderes. Ich denke – aus staubiger Erinnerung hervorgekramt – an den frühen Walser und seine tristen Maklerfiguren, an Siegfried Lenz, an vieles von Böll, aber auch – bei den Neueren – an Frank Schulz (Abkotzen im Lokaljournalismus, auch das ein Angestelltenschicksal) oder an Georg Klein. Wer als Leser allerdings mit Literatur vor allem ‚dem Alltag entfliehen‘ will anstatt seinen Schrecken ins Auge zu schauen, der flüchtet sich natürlich in die ‚Popliteratur‘ und Artverwandtes.
Ausführlich zitiert
Verehrte Modeste, ich konnte nicht anders, als Sie nebenan bei mir » ausführlicher zu zitieren.
Für die Abbildung wird die Literatur nicht mehr gebraucht. Andere Medien wie etwa Fernsehen und Film besorgen das hinreichend und hinterlassen in Form von Telenovelas, Krimis und Talkshows dem Folgejahrhundert verlässliche Zeugnisse unseres Alltags – ebenso verlässlich wie die Schilderungen der Naturalisten, die Sie offenbar so schätzen. (Ja, das ist selbstverständlich sarkastisch gemeint!)
Doch selbst der Film nimmt seinen Platz häufig genug in Anderswelten, im Phantastischen, Absurden, Randständigen.
Hatte Literatur überhaupt je die Aufgabe von Realitätsvermittlung? Die grossen Zeugnisse der Literatur, die wegen ihrer Grösse erhalten blieben, sind Mythen und Legenden – literarisch und phantastisch, Exemplizifizierungen, Archetypisierungen, losgelöst vom Urschlamm des Tagesgeschehens im jeweiligen Jahrhundert ihres Entstehens und so zeitlos gültig.
Vielleicht ist das,
was in älteren Texten oft liebevoll und dezidiert beschrieben oder vorgeschrieben wurde, heute deutlich funktionsloser, wenn es darum geht, Besonderheit zu stiften. Oder auch beängstigender, schneller, chaotischer.
Zu sehr, möglicherweise.
Wer möchte, wer kann denn noch herausfinden, wo das Geld letztlich bleibt, das erwirtschaftet wird, wer an den Dividenden des Rauschgifthandels verdient, welche Wege waffenfähiges Plutonium geht?
Das Denken flüchtet dann schon gerne ins Phantastische, Zauberwelten, Mystisches. Dort können noch die Allmachtsphantasien der Hilflosen ‚gelebt‘, kann der empirische Bauch zum Waschbrettbauch und das Müskelchen zum Heroenarm gedacht werden.
Je größer die Ohnmacht, desto mächtiger die vorgestellte Erlösung.
Und – der Alltag hat sich von dieser Literatur doch schon längst verabschiedet. Die findet, wie Zirkus, nur als Show inTV-Runden statt.
Abbilden?
@Turmsegler: ‚Abbilden‘ konnte die Literatur noch nie sonderlich gut. Ihr Metier ist die Introspektion, also Figuren (oder Zeiten) in ihrem Handeln und Denken nicht nur zu zeigen, sondern aus sich heraus begreifbar zu machen. Selbst Zola, bekanntlich der ‚Naturalist‘ schlechthin, schilderte ja nicht einfach nur, was er vor Augen sah. Wenn er im ‚Bauch von Paris‘ seine berühmte Käseorgel aufspielen lässt, dann liefert er nicht einfach ’nur Käse‘, sondern er schafft ein Sinnbild des weltweiten Handels. Etwas, was kein Film je können wird – da erblicken wir immer nur Camembert.
REPLY:
Da haben Sie mir jetzt ganz vortrefflich genau aus dem Herzen gesprochen. Und da dies so ist und nicht einmal die Naturalisten platte Abbilderzeuger waren, kann ich das, was Frau Modeste hier wünscht, nicht als Aufgabe der Literatur betrachten.
Ich habe, Herr Wallhallada, meine argen Zweifel, ob der größere Teil der Gegenwartsliteratur einen Zugewinn in der Darstellung innerer Tatsachen durch die Aufgabe der Beschriebung der äußeren Welt generiert hat. Zumindest derjenige Teil der Literatur, der sich als ausgesprochene Kunstprosa sieht, beschreibt ein Seelenleben, das glücklicherweise niemand, den ich kenne, durch die Gegend trägt.
Dass auch das bildliche Alltagsleben schlecht dokumentiert ist, mag, Frau E-ality, durchaus so sein. Es stimmt schon: Der Alltag erscheint den meisten Menschen wohl als zu grau, um aufbewahrt zu werden, und auch das mag ein etwas alarmierendes Zeichen sein in einer Welt, die doch reicher an Annehmlichkeiten für mehr Menschen sein dürfte als jede Kultur zuvor. Vielleicht ist tatsächlich dieser etwas dümmlich erscheinende Überdruss am „normalen“ Leben die Ursache für ihr Verschwinden in der Literatur, Frau Kittykoma. Indes ist auch der Exotismus ja nicht neu.
Von den von Ihnen, Frau La-Mamma, erwähnten Autoren, kenne ich tatsächlich nur Becker und die Frau Maron, die mir indes beide nicht recht zusagen. Allerdings schreibt zumindest Becker tatsächlich entlang einer zumindest vorstellbaren Welt. Vielleicht ist es das, was fehlt: Die sinnlicher Erfahrbarkeit von Literatur.
Sehr amüsant, Herr Atkins, finde ich ja, dass Autoren, die Ihnen offenbar als ziemlich realitätsnah erscheinen, mich nie besonders gereizt haben (vgl. hier), wohingegen manche Werke der sog. Popliteratur die Welt, in der wir groß geworden sind und uns alltäglich bewegen, tatsächlich detailliert und, wie ich finde, wahrheitsgetreu abbilden. So waren wir und werden wir bleiben. Aber nun gut, der Realitäten sind viele. Das, was man bisweilen als soziale Realität beschreibt, oft mit einem deutlich anklagenden Unterton, hat mich indes nie gereizt. Die ganze Politik kann mich mal gern haben. Allerdings hatte ich auch (diesmal) nicht diese Art von Literatur im Auge, sondern eher den Beritt von Frau Jelinek bis worst of Klagenfurt, der mit dem vom Herrn Turmsegler angesprochenen phantastischen Roman natürlich nichts zu tun hat. Dass auch (und oft gerade) der phantastische Roman imstande ist, Welterfahrungen darzustellen, halte ich ebenso für eine Selbstverständlichkeit wie den Umstand, dass die semiliterarische Wunscherfüllung, Herr (?) Sumuze, in aller Regel nicht viel hergibt.
REPLY:
Empfinden Sie mich als diktatorisch, Herr Sturznest? Das wäre glatt daneben empfunden.
Welthaltiges Erzählen, zumal in der Großen Form, ist von gewissen interessierten Kreisen diffamiert worden, damit sie selbst umso heller strahlen. Man riskiert, im Kulturbetrieb als Ignorant oder ästhetischer Reaktionär dazustehen, wenn man der Mode nicht folgt. Schulen, Peer-Groups, Netzwerke, Klüngel sind nicht zu vernachlässigende Faktoren in der Hochkunst. Ganz ähnlich ist die figurative, gegenständliche Malerei diskreditiert, hingerichtet worden. »Realistisch« macht man einfach nicht. Höchstens auf Außenseiterposten, was einiges an Charakterstärke voraussetzt. Der Abscheu der Bohéme vorm Bürgertum richtet sich zwar gegen dessen Inhalte und somit Lebenswirklichkeit, sie erzielt ihre Wirkung aber durch die Lufthoheit über den Diskurs um die Form, welche sie im Bedarfsfall ex cathedra abbürstet.
Dabei kommt ihr zugute, dass der realistische Traditionsstrang im deutschsprachigen Raum nie besonders stark ausgeprägt gewesen ist. Realistisches Erzählen hat immer eine gewisse Nähe zum Journalismus, zur Reportage. Es setzt den Willen zur Welterkundung voraus. Und eine gewisse geistige Unabhängigkeit. Es hat immer auch ein aufklärerisches Moment. Die repressiven deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts haben all das zu unterdrücken gewusst, um Könige und Kaiser samt ihren Apparaten zu erhalten. Dunkelmännertum und Irrationalismus (lies: Katholizismus) konnten so gedeihen, wurden gefördert. Das Bürgertum tat mit (Romantik) oder flüchtete vorläufig in die Innerlichkeit (Biedermeier). Das Wiedererstarken realistischen Erzählens im deutschsprachigen Raum gegen Ende des 19. Jahrhunderts korreliert nicht zufällig mit den emanzipatorischen Bestrebungen des liberal gesinnten, oftmals jüdischen Großbürgertums. Auch das Zeitungswesen, der Journalismus erlebten in jenen Jahren einen Aufschwung. Fontane war den Großteil seines Lebens Journalist, hat erst im hohen Alter zur Fiktion gewechselt. Mit der Vernichtung des jüdischen Bürgertums ist dieser ganze Bereich ausgelöscht worden. Journalismus und Welterhellung sind seitdem wieder sowas von igitt, damit macht man sich als ordentlicher Dichterpriester nicht gemein. Und folglich verwundert es nicht, dass mit zunehmender Repressivität unserer Gesellschaft die Welthaltigkeit, nach Strohfeuern in den 1970ern und zu Anfang der 90er, erneut aus dem deutschen Erzählen verschwindet, sich bestenfalls in Nischen verdrückt (dem Krimi etwa), Innerlichkeit wieder vorherrscht; und Judith Hermann und Konsorten als große Nummern gehandelt werden, Stipendiatsliteratur floriert.
Und eben wegen ihrer ganz anderen politischen und gesellschaftlichen nichtobrigkeitsstaatlichen Verfassheit und Entwicklung hat sich im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten ein so viel welthaltigeres Erzählen herausbilden und etablieren können. (Wobei allerdings gerne übersehen wird, dass auch in den USA eine breite Palette an verquaster, ungenießbarer, im dortigen Feuilleton hingegen hoch gehandelter protestantischer Selbsterforschungsliteratur auf Stipendiums- und Literaturpreisgrundlage existiert.)
Welthaltiges Erzählen braucht also vor allem Selbstbewusstheit und -sein, Selbstreflexion, den Willen zum Anders- und Dagegensein. Ohne einen gewissen Selbstbefreiungsdrang fehlt auch der Antrieb, anderen von sich anschaulich zu erzählen. An all dem mangelt es unserem Stehkragenproletariat.
Selbst wenn dem nicht so wäre – die Diskussion über Form und Ästhetik wäre damit noch lange nicht erledigt. Vielleicht ist das bürgerlich gesetzte Erzählen in der Tat obsolet, zeitgebundene Erscheinung, auf die wir qua Erziehung fixiert sind. Fort mit Schaden. Und weiter mit der Ausdrucksform der letzten Jahrzehnte: Musik.
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Aber es gibt doch Botho Strauß, ich wüßte nicht wo der nicht realistisch erzählt und das auf sehr hohem Niveau. Mit dem Klüngel allerdings, da sagst Du was, das find ich auch ganz furchtbar und man ist ja so dankbar nicht dazugehören dass man fast schon wieder eingebildet wird und daran ist naturgemäß auch nichts gutes, denn eingebildet ist der Klüngel ja auch noch und man möchte so gar nicht wie ein Klüngel sein.
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Wenn ich dort oben ein paar Texte erwähnte, die jenes von dir vermisste ‚Milieu‘ sehr wohl schildern, und zwar – gut literarisch – aus dem Kopf ihrer Protagonisten heraus, dann heißt das noch lange nicht, dass MICH jene Texte sonderlich ‚gereizt‘ hätten. Ich habe sie nur gelesen, wie so vieles andere auch. Dieser verlinkte Handke ist für mich seit Jahren ein Brechmittel aus hochgequirlter Betulichkeit, das allenfalls der Stuckradt-Juchhe noch übertreffen könnte, wenn der weiterhin seine Hasenkötel für Gedanken hält.
Alltag
Der Alltag ist eben abgestumpft. Wer nicht normal ist, der ist nichts besonderes sondern eher geächtet. Wir wollen alle gleich sein und zugleich ist uns das langweilig und wir sehnen uns nach Identität in Form von Handyklingeltönen. Niemand hat Interesse daran, ein Buch über diesen gähnenden Alltag zu lesen. Lieber wollen wir aufblicken zu den Helden (TV: Casting-Shows) oder uns besser fühlen als die Idioten (TV: Talkshows). Im Roman träumen wir ein paar Stündchen von einer Welt, in der wir nicht sein können. Dann, gänzlich unreflektiert, geht es zurück zum -gäähn- Alltag.
gibt es doch
Liebe Kollegin, obwohl ich mich für keinen großen Kenner der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur halte, sind mir beim Lesen auf Anhieb drei Romane eingefallen, die Ihrer These widersprechen, und die ich hiermit ausdrücklich empfehle:
Ludwig Hohmann, Ada Pizonka
Andreas Maier, Wäldchestag
Christoph Peters, Stadt Land Fluß
Ach, jetzt fällt mir gerade noch ein vierter ein, der auch recht nah dran ist.
Alex Capus, Glaubst du, dass es Liebe war?
Beste Grüße, l
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Leider, soweit bekannt, nicht mein Fall. Im Übrigen auch hier: Sind die Leute wirklich so. Gibt es eigentlich auch Bücher, wo Leute vorkommen, die mir ähnlicher sind? Ist dieser Wunsch übermäßig narzisstisch? Oder geben Leute wie ich literarisch einfach nichts her?
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Aber das stimmt doch nicht. Die Schilderungen des Lebens in der derzeitigen Kunstprosa sind ja nicht dazu angetan, eine Realitätsflucht zu ermöglichen. Das ist ja alles sehr unsinnlich und ein bißchen eng.
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Ja, Herr Sturznest, man ist wahrscheinlich immer ein bißchen zu stolz, dass man das Mittun in diesem Betrieb nicht nötig hat, aber nun gut, man hat seinen eigenen Betrieb, der seine eigenen Eitelkeiten pflegt, die auch nicht rationaler sind.
Dass aber ein gewisses Selbstbewusstsein, Herr Ignorant, erforderlich ist, um von der Welt zu erzählen, unterschreibe ich Ihnen blind. Hier waltet vielleicht auch eine gewisse Ängstlichkeit. Wer schreibt, ist oft nicht derjenige, der mit der äußeren Welt auf dem besten Fuße steht.