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In Heiliger Mission

Die Berliner Fama ist sich ja generell sehr sicher, dass alle ungeliebten Wahlergebnisse, ach, überhaupt alle Übel dieser Welt, auf dicke, alte, weiße Männer auf dem Lande zurückzuführen sind, die zu viel billiges Bier trinken und nicht richtig lesen können. Diese Leute seien es auch gewesen, die in ihrem Unverstand den Brexit ausgelöst hätten. Ich aber, denken Sie sich an dieser Stelle einen dumpfen, allmählich anschwellenden Trommelwirbel, habe erst kürzlich einen veritablen Brexiteer getroffen, der diesem Bilde krass widerspricht, einen walisischen Diplomaten, der irgendwas mit mittelalterlicher Geschichte und Religion studiert hat, tiefgläubiger Anglokatholik, vernünftig angezogen und mit geschliffenen Umgangsformen, der darauf brennt, dass das Vereinigte Königreich auf der Stelle die Europäische Union verlässt, um fortan in glänzender Einsamkeit zu alter Größe und Schönheit zu finden. Ja, Sie staunen. Ich, zu Gast in einem ebenso kunstliebenden wie -sammelnden Haushalt von Bekannten, staunte auch.

Die neu erworbene Grablegung Christi, die die Hausherrin ihren Freunden und Bekannten vorführen wollte, erwies sich als etwas derb. Aus den Augenwinkeln sah ich die Gastgeber über eine liebliche, handtellergroße Maria Magdalena mit bloßen Füßen dozieren, beschloss, ihnen nicht ins Esszimmer zu einer Flämischen Anbetung zu folgen, lehnte mich ans Klavier und lächelte den Brexiteer freundlich an. Ich bin ziemlich klein, ich lächele also quasi immer und automatisch so von schräg unten nach oben. Sehr konservative Männer mögen das. Der Brexiteer straffte sich also und öffnete den Mund zu einer kleinen Rede. Das Empire also. Seit Ende des Empire gehe alles bergab, bei den ehemals Beherrschten noch mehr als bei den Briten selbst.

So mancher hätte auf der Stelle die ja an und für sich naheliegende Frage aufgeworfen, ob es nicht etwas vermessen ist anzunehmen, die Völker des Commonwealth hätten irgendein Interesse daran, bei der Wiederrichtung eines Empire mitzumachen. Die meisten Leute regieren sich ja doch lieber selbst. Ich aber zählte innerlich bis zehn und trank sehr schnell zwei Glas Rosé, um die folgende Konversation noch mehr zu genießen.

Der Waliser blieb mir nichts schuldig. Die Flämische Anbetung auszulassen, hatte sich voll gelohnt: Im Urlaub läutet der Waliser Glocken in englischen Klöstern. Seine drei Kinder haben fast so irrsinnige Namen wie die sechs von Rees-Mogg. Er dürfte im Laufe seines Lebens mehr Hostien gegessen haben als irgendwer sonst, den ich kenne, und er glaubt an den Teufel. Ja, das ist wirklich wahr.

Ich lächelte und schwieg. Der Brexiteer geriet immer mehr in Fahrt. Das Mittelalter. Die heidnischen Weiten der asiatischen Steppe. Meister Eckhart und die Geburt Europas aus dem Geiste der Mystik. Europa als innerer Widersacher der EU. Kurz vor dem Zustand überschnappender religiöser Ekstase bog Freundin K. um die Ecke und wollte heim.

Zwei Tage später schrieb der Waliser. Normale Leute hätten eine Gesprächsfortsetzung beim Kaffee angeboten. Der Waliser jedoch erbat eine Begleitung zur Messe. Höflich lehnte ich ab und verwies auf den J. und seinen Abscheu vor der katholischen Kirche.

Dies schien den Waliser anzuspornen. Seit mehreren Wochen bemüht sich der Waliser um die Rettung meiner Seele. Die Kurve der für mein Seelenheil bundesweit gesprochenen Gebete ist in den letzten Wochen noch einmal deutlich angestiegen; ich fühle mich auch gleich viel besser als seit Jahren, und nur sehr, sehr weltliche, lästerliche Menschen mit einer überaus verdorbenen Phantasie würden annehmen, dass die Intensität der Bemühungen des Brexiteers um die Rettung meiner Seele möglicherweise nicht vollkommen von rein gottgefälligen Motiven geprägt sein könnte, was dieser natürlich weit von sich weisen würde, so weit ungefähr, wie das Vereinigte Königreich in seiner Vorstellung vom Sündenpfuhle Brüssel entfernt gehört, also sozusagen unendlich.

Dicker Mann

Es passt zu dem J. und mir als Paar, dass wir uns im Herbst 1995 über Freunde kennengelernt haben, die wir schon damals wechselseitig total unsympathisch fanden, und ich den ganzen Abend über Thomas Mann sprach, den J. nicht leiden kann. Symptomatisch  vielleicht auch, dass ich an dem Abend, an dem wir uns kennenlernten, einen zwei Größen zu großen braunen Shetlandwollpullover trug, den mir mein lieber Freund J.2 geschenkt hatte, wie ich vermuten muss: In feindlicher Willensrichtung gegenüber Dritten.

Angesichts dieser Vorgeschichte ist es kein Wunder, sich häufiger mal zu trennen, denn vielleicht hat ja einer von uns Glück und trifft nochmal jemanden, der Thomas Mann mag oder keine braunen Pullover anhat. Weil wir nach wenigen Stunden diese Hoffnung meistens als vergeblich erkennen, vertragen wir uns meistens aber verhältnismäßig schnell. Gestern beispielsweise haben wir uns zweimal  getrennt und fast sofort wieder vertragen.

Zwischen dem Zerwürfnis und der Versöhnung lagen diesmal nur wenige Stunden, nicht einmal genug, um sich außerhalb Berlins Häuser anzusehen oder zu bewerben. Irgendwann in diesem verhältnismäßig kurzen Zeitraum fielen allerdings fatale Worte: Der J., es ist sozusagen nicht zu fassen, hat tatsächlich klar, eindeutig und bösartig mein Gewicht kritisiert.

Nun ist mir natürlich vollkommen klar, dass das herrschende Schönheitsideal von deutlich schlankeren Frauen als mir verkörpert wird. Auch ich lese Zeitungen und war schon mal auf Instagram. Von seinem ansonsten meistens geschätzten Gefährten kritisiert zu werden, ist aber eine andere Nummer, denn wer soll einen schon optisch okay finden, wenn nicht derjenige, den man geheiratet hat. Und selbst wenn man einen gewissen Verärgerungsaufschlag abzieht: Dieser Moment, meine Damen und Herren, ist der richtige Moment für ein Drama. Stellen Sie sich mich also ungefähr als Godzilla vor. Mit ein bisschen Übergewicht.

Ich bin nervlich vielleicht nicht die allerstabilste. Ich stehe also in der Küche, schon eher ziemlich strapaziert, ringe nach Luft und den richtigen Worten, da kommt unser Kind, der lustige F., des Weges. Der F. nimmt seine Eltern, wie es sich gehört, nur so mittelernst. Was soll man schon von Leuten denken, die so tun, als würden sie Knete essen. Was der F. aber weiß: Harmonie ist wichtig. Der F. verschafft sich also einen blitzschnellen Überblick über die Lage. Er holt tief Luft. Er lässt die Information, Mama sei zu dick, einen Moment lang sacken. Dann öffnet er den Mund, dem prompt die Worte entströmen, Mama solle nicht traurig sein. Er, der F., habe bereits schon einmal mit seinen eigenen Augen einen viel dickeren Menschen gesehen. In Berlin. Es sei ein Mann.

„Mama? Ist alles okay?“

Wie die Wolken ziehen

Liegst du da, zwölf Jahre alt, auf der großen Wiese am See, und schaust in den Himmel. Juni ist’s, der Himmel stählern blau, fast weiß, und das Licht leuchtet jeden Grashalm, jede Pore gleißend aus. Du warst baden, obwohl das Wasser noch so kalt ist, dass außer dir und deinen Freunden T. und N. niemand badet. Jetzt liegst du in deinem nassen Badeanzug auf dem großen, roten Handtuch und lässt dir vom Wind die Haut prickelnd eiskalt und trocken pusten.

Schaust du den Wolken nach. Graue Fetzen am hellen Himmel, die sich langsam auflösen, als könnten auch sie nicht widerstehen.

Was du vom Sommer erwartest? Lange Ausflüge mit dem Rad vielleicht. Übernachten bei Freundinnen im Garten. Zwei Wochen Ferienlager, zwei Wochen Urlaub in Frankreich oder Dänemark mit Familie, tägliches Schwimmen im See und Ausritte weit über Land. Noch bist du daheim.

***

Schaust du wieder nach oben. Tiefblau ist der Himmel, später August, schwer und gelb wie eine vollreife Frucht hängt der Mond überm Meer. Zu dritt liegt ihr auf dem Dach einer alten Garage, 17 bist du und zum Sterben verliebt in den G., der nichts von dir wissen will. Über dir wehen kleine, feste, weiße Wölkchen über den Reetdächern von Kampen, und neben dir sitzt dein Freund J.2, starrt in das dunkle, flirrende Laub des Kirschbaums und dreht an einem Rubikwürfel herum, dessen Felder alle gleich schwarz aussehen, und hört und hört nicht auf. Er hätte gelitten unter deiner Uneindeutigkeit, wird er dir irgendwann viele Jahre später erzählen, aber in Eindeutigkeit warst du immer schon schlecht.

Was du vom kommenden Jahr erwartest? Ein paar Kurzgeschichten willst du schreiben, die mäßig sein werden, aber du bist auf sie stolz. Klare Verhältnisse willst du schaffen, endlich Schluss mit den Unsicherheiten, den Graustufen, dem Leichtsinn und den vielen Fluchten, und weisst vielleicht schon, dass daraus nichts werden wird, nicht dieses Jahr und auch kein anderes. Du bist aus Unruhe gemacht und ziehst mit den Wolken.

***

Etwas ist anders am Himmel, denkst du, und legst den Kopf in den Nacken. Etwas fehlt vielleicht, etwas liegt lange unter der Erde, ihm zu Füßen ein Stein, aber du pustest dir die Spinnweben aus dem Gesicht und schreitest entschlossen voran. 42 bist du und es ist Freitag.

Die Blätter hat der Bauhof schon zusammengefegt, die ganze goldene Pracht, und die Nester hängen schwarz und leer in den Bäumen. Der Himmel scheint sich zurückgezogen zu haben, als sei er heute weiter weg als an anderen Tagen, aber das kann auch am langen Abend liegen, an der Bachmesse in H-Moll in der Philharmonie, oder besser gesagt: An den Moskau Mule danach.

Du hast aufgehört, dir klare Verhältnisse zu wünschen. Du willst nicht einmal mehr irgendwo ankommen, weil du das Ankommen viel schlechter verträgst als das Reisen. Du bist manchmal aus Feuer und oft aus heisser Luft. Du bist so gut wie alles und sein Gegenteil. Bei Nacht kannst du manchmal fliegen, du kannst aus Blut und Knochen bestehen und aus Regen und Wind, und manchmal bist du die Wolken.

High Heels

Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, mögen mich für altersunangemessen eitel halten, aber gutes Aussehen gehört nicht wirklich zu meinen Stärken. Insbesondere bin ich verhältnismäßig klein. Nun bin ich Asiatin, da ist das normal, mir ist auch klar, dass Kylie Minogue oder Madonna noch deutlich kleiner sind als ich, aber bei denen passen die Proportionen irgendwie besser. Wie dem auch sein mag: Ich bin auf jeden Zentimeter zusätzlich dringend angewiesen.

In früheren Zeiten war das kein Problem. Bis 2011 besaß ich ungelogen quasi keine Schuhe ohne mindestens fünf Zentimeter Absatz, ging entsprechend nie zu Fuß und warf Jahr für Jahr einen vierstelligen Betrag für Taxifahrten aus dem Fenster oder fuhr Rad. Ich kann mit beliebig hohen Absätzen Fahrradfahren, dafür fahre ich kein Auto. Dann aber kam das Kind.

Wenn Sie Kinder haben, kennen Sie das Problem. Wenn Sie keine haben, seien Sie gewarnt: Sie werden die ersten Jahre nach Geburt eines Kindes erst einen Kinderwagen Tag für Tag ungezählte Kilometer durch die Stadt schieben, und das schafft wirklich nur meine liebe Freundin I. auf acht Zentimetern. Dann laufen Sie hinter dem Kind her, das sich vom Klettergerüst zu stürzen droht oder hilflos auf die Straße wackelt. Und schließlich müssen Sie auf dem Spielplatz Fußball spielen. Dann irgendwann, Jahre später, stellen Sie fest: Sie haben nur noch Sneakers. Und Ballerinas. Und fürs Büro so halbwegs seriöse Schuhe mit ganz, ganz kleinen Absätzen und runden Spitzen. Schließlich sitzen Sie eines Abends in Ihrem Flur, durchwühlen Ihre Schuhschränke und erinnern sich mit Wehmut Ihrer alten Zeiten. Damals vor zehn Jahren, als Sie selten kleiner als 1,75 Meter durch die staubigen Straßen dieser Stadt schritten.

Leider sind von Ihren alten Schuhen nicht mehr viele da. Und wenn Sie ganz ehrlich sind: Es spricht schon viel dafür, auch die nächsten Jahre in flachen Gesundheitstretern herumzulaufen, das macht hier schließlich auch jeder andere. Am Ende jedoch kapituliert die Vernunft vor Ihren dunklen Wünschen, und dann sitzen Sie da wie ich und starren ins Internet: Schwarz, rot, glänzend, geschuppt. Acht, zehn Zentimeter Stiletto. Spitz eher als rund, so unpraktisch wie eh und je, und so wunderschön, als hätte ich mein Leben vor zehn Jahren zumindest für ein paar Stunden am Tag zurück.

Und die muss ich jetzt alle kaufen.

Jules et Jim

„Alt und müde.“, sage ich wahrheitsgemäß und versuche gleichzeitig mein Telefon und einen Nagellackpinsel fachgerecht zu balancieren, schiebe mit dem Ellenbogen meine Teetasse etwas weiter auf den Tisch und verabrede mich in zwei Stunden zu einem späten Frühstück in der Konditorei um die Ecke.

Um mich herum ist oder wird gerade alles 40 und lamentiert fürchterlich. Vermutlich hat die eine Hälfte meiner lieben Freunde die Jahre zwischen 15 und 35 mit dermaßen viel Vergnügungen vollgestopft, dass die abnehmende Schlagzahl an Spaß in Zusammenhang mit den mit den Jahren etwas abgestumpften Nerven üble Entzugserscheinungen verursacht. Die andere Hälfte dagegen realisiert gerade, dass der Triebverzicht ihrer Vergangenheit in der Zukunft keinerlei Honorierung erfahren wird, und jammert deswegen auch. Es muss irgendwo Leute geben, die ihr Leben lieben, aber die kennen wir nicht oder sie sprechen nicht mehr mit uns.

Immerhin, vernehme ich zur angegebenen Zeit über einer Kanne Assam, scheint die letzte Generation gelangweilter Bürger ihre Langeweile auch nicht besser bewältigt zu haben. Nehmen wir nur etwa die Tante R. meiner Begleitung, eine Psychotherapeutin aus Münster, welche unweit ihrer Heimatstadt in einem alten Resthof mehrere Jahrzehnte eine Art Seminar- und Meditiationszentrum betrieben hat, in dem Menschen irgendwo in ihrem Innenleben innere Kinder und spirituelle Edelmetalle gefunden haben. Praktischerweise erwies sich das Ganze sogar als ausgesprochen lukrativ.

In sehr frühen Jahren ihres Lebens war die Tante R. einmal mit einem Herrn H. verheiratet, einem Zeitungsredakteur. Das war damals noch ein bürgerlicher Beruf, von dem sich Leute Häuser bauten. Dann war die Tante R. nach einigen Wirren ein paar Jahre mit einem Herrn E. liiert, das ging aber auch in die Brüche. Mehrere Jahrzehnte hatte die Tante R. daraufhin allein gelebt, ihren Resthof regiert, ihre Patienten und irgendwelche jungen Therapeutinnen herumgescheucht und lange Wanderurlaube unternommen, gemeinsam mit irgendwelchen anderen postklimakterischen Damen. Dann aber setzte sich die Tante R. zur Ruhe, die inneren Kinder verließen den Hof, sie kaufte sich eine Finca in Andalusien und las sehr viel.

Irgendwann auf einem Familientreffen – ich glaube, ich war sogar dabei – kam sie auf einmal wieder mit Herrn H. Der war inzwischen ebenfalls Rentner, verdiente sich ein Zubrot als sogenannter Medienberater und sprach nur noch eine krause Mischung aus englisch und deutsch. Man spekulierte schon, er werde wieder bei ihr einziehen, da erschien sie auf einmal auf einer Taufe im weiteren Familienkreise mit Herrn E. Die Familie des Begleiters ist, obschon ausgesprochen protestantisch, einigermaßen hartgesotten in Herzensverwicklungen, zuckte deswegen nicht einmal mit der Wimper und hieß Herrn E. wieder im Familienkreise willkommen.

Als aber im letzten Jahre mein Begleiter selbst einmal im Münsterlande weilte, fuhr er spontan auch bei der Tante R. vorbei und setzte sich in ihre Küche. Die Küche dieser westfälischen Bauernhäuser ist riesig, es gibt einen mannshohen Kamin und an den Wänden hängen gigantische Töpfe und Pfannen früherer Zeiten, in denen man die inneren Kinder von Tante R’s früheren Patienten in einem Stück hätte zubereiten können. Neben dem Kamin jedenfalls saß Herr H.

Herr H. wirkte ganz zuhause. Er las in der taz, welche bei älteren Herren sehr beliebt ist, trank Lapachotee und kochte dem Besuch Kaffee, als die Tür aufging, und herein kamen Herr E. und die Tante. Man wohne, so vernahm der Begleiter, derzeit dort selbdritt.

Wie sich im Laufe des Abends herausstellte, war das Zusammenleben nur teilweise geprägt von Harmonie. Tante R. gilt als temperamentvoll, Herr H. hat auch nicht mehr alle Latten am Zaun, und Herr E. ist zwar einigermaßen ausgeglichen, aber beim Verhältnis 2:1 hilft das auch nicht mehr weiter. Als der Begleiter auf dem Weg zu Frau und Kindern wieder im Auto saß, war er jedenfalls recht froh, entkommen zu sein. Eine Weile meldete er sich jedenfalls mit gutem Grund nicht mehr bei der Tante.

Erst vor einigen Tagen hörte man erneut von Tante R. und den beiden Herren. Alle drei, so vernimmt die familiäre Fama, befinden sich in Spanien auf der Finca, die man sich, so der Begleiter, allerdings eher als so eine Art schlechtgeheizten Stall vorzustellen habe. Dort indes sei es zu einer erneuten Auseinandersetzung gekommen, die Tante habe ihr Auto bestiegen mit dem Herrn E. an ihrer Seite, der Herr H. sei hinterhergekommen, dann sei die Tante, welche schon immer eine miese Autofahrerin gewesen wäre, vom Wege abgekommen, und nun liege sie mit einem gebrochenen Bein danieder, der Herr E. sei auch ziemlich zerbeult, und der Herr H. wiewohl auch schon 75, müsse beide pflegen.

„Das ist ja entsetzlich trist.“, seufze ich, als wir die Konditorei verlassen. „Ich muss los.“, sagt der Begleiter, welcher gerade den Kindersport seiner Ältesten schwänzt, und winkt nach einem Taxi. „Wir sehen uns Donnerstag.“, verabschiede ich mich und lasse mir von ihm wie immer nach jedem Streit seit über 30 Jahren zum Abschied etwas ins linke Ohr flüstern. Auf dem höre ich nämlich nichts.

Dann gehe ich heim.

Sozusagen Glück gehabt

Sitze ich also – vorletzte Woche vielleicht – mit Freund M. im Sorsi e Morsi, nette Bar im Prenzlauer Berg, um noch so ein wirklich allerletztes Glas auf den Heimweg zu trinken. Draußen schon so ein wenig ungemütlich, drinnen wie immer dunkel und voll und verraucht, Rotwein und Negroni auf den Fisch in der Fischfabrik und das Bier in dieser italienischen Craft Beer Bar in der Prenzlauer Allee.

Sitzt vor uns ein Paar, nein, ein Date eher. Ein etwas reservierter Mann, durchaus soignierter Bürger im Vorbereitungsstadium Ende 20, und ihm gegenüber eine leicht exaltierte Frau, nicht die höhere Tochter, die er mal heiraten wird, sondern eher die Kategorie Mädchen, die zwar schon so irgendwas studieren, aber dann eher nicht so Lektorin bei Hanser werden, sondern eher Sozialarbeiterin mit nebenbei Kellnern.

Sie legt sich mächtig ins Zeug. Sie gestikuliert, sie lacht eine Nuance zu laut, sie schüttelt ihre Haare und schaut ihn herausfordernd an. Er dagegen weicht immer weiter zurück, den Oberkörper leicht zurückgelehnt, und sein Unbehagen steht ihm so sichtbar ins Gesicht geschrieben, dass sie mir fast ein bisschen leid tut, und der M. und ich schauen uns schon als reine Zuschauer der Szenerie peinlich berührt an.

Geschickt wäre es jetzt an ihrer Stelle, das Tempo herunterzufahren oder einfach zu gehen und sich mit jemandem zu verabreden, der auf leicht übersteuerte Leute steht. Statt dessen kippt sie, ob aus Nervosität oder mit Absicht, ihr Wasserglas um und bespritzt ihn schrill lachend mit den feuchten Fingern, was er, so wie er aussieht, nicht einmal bei Frauen schätzen würde, die er wirklich mag. Geniert schaue ich an den beiden vorbei und überlege, ob und wann ich eigentlich genauso peinlich wirke und segne meinen Schöpfer dafür, solche Gelegenheiten auf der Stelle zu vergessen.

Als beide gehen, schauen wir uns an. Auf dem Boden neben ihren Platz glänzt feucht das verschüttete Wasser. Aus diesen beiden wird wohl kein Paar, denke ich und trinke den obligatorischen Limoncello. Nicht mal für die nächsten paar Wochen. Dann stehen wir auf der Straße, die beiden sind nicht mehr zu sehen, und ich bin so dankbar wie selten, verheiratet zu sein, weg vom Markt dieser Eitelkeiten, nicht mehr gezwungen, mich vor fremden Leuten lächerlich zu machen, wenn ich mich melde, oder ständig mein Telefon zu fixieren und ungeduldig darauf zu warten, dass die sich melden, und mir Gedanken zu machen, was irgendwas zu bedeuten hat, was vermutlich überhaupt nichts zu bedeuten hat, über irgendwen mehr als flüchtig nachzudenken, herumzugooglen, was bei ersten, zweiten, dritten, vierten Dates passieren sollte, weil man ja nicht weiß, ob das Date nicht doch mit dieser Erwartungshaltung erscheint, ständig sehr hoffnungsvoll oder sehr enttäuscht zu sein, und verdränge auf dem Weg durch den dunklen Prenzlauer Berg, wie oft ich sehr glücklich war, damals, lachend auf den Wellenkämmen der heiteren Meere, und die Sonne so gleißend, das Salz des Lebens so glitzernd wie nie.

Damals in Polen

Schläfst du schon, frage ich so circa kurz nach zwei, und er tut so, als hätte er nur auf meinen Anruf gewartet. Ich bin all das so müde, fahre ich fort, und dass ich so gern auf der Stelle meine Siebensachen packen und mit dem F. an der Hand einfach davonfahren würde, aber dass das natürlich nicht geht, weil ich 42 bin und nicht 20, und erwachsene Leute nicht einfach ihrem Leben davonlaufen dürfen, um irgendwo an einem Strand mit ihren Freunden zur Gitarre zu singen.

Wie die anderen Leute eigentlich ihr Leben aushalten, fragen wir uns, weil die ja eigentlich so ganz zufrieden wirken, wenn man sie in ihren Anzügen durch Mitte laufen sieht, aber vermutlich sehen wir genauso zufrieden aus, denn komfortabel ist diese Daseinsform ja durchaus. Verlangt einem nichts ab außer Lebenszeit und Seele.

Ob die anderen eigentlich gefunden haben, was sie suchten, und gut damit leben können, dass die Suche zu Ende sein soll und sie nie wieder finden werden, fragen wir uns gegenseitig und haben keine Antwort, wie immer, wenn es wichtig wird, und fangen an zu lachen aus lauter Ratlosigkeit. Erzählen uns das Böseste und Beste des Jahres. Wo wir waren. Was wir gelesen haben. Sehr gutes Essen hier und anderswo. Die schönsten Schuhe, die ich jemals hatte, oh, fast zehn Zentimeter, lackschwarz mit kleinen silbernen Knöpfen. Wie gut es uns damals ging, ohne dass wir das wussten. Und ob wir wohl nochmal wie damals in Polen.

(Wohl nicht.)

Die Straßen komme ich entlang geweht

Aber als ich auf der anderen Seite der S-Bahn stehe, kommt die Tram doch erst in 15 Minuten, und der Rotwein aus dem Burgenland schwappt in meinem Kopf hin und her, als würde es so stürmen wie letzte Woche, als es ganze Bäume mit Wurzeln aus der Erde riss, und die Hexen der Stadt fielen allesamt von den Besen.

Heute nacht aber weht ein milderer Wind. Am Litfaßplatz drehen sich ein paar welke Blätter in gelb und rot im weichem Scheine der Laternen. Im Wartehäuschen sitzt ein ganz junges Paar, so jung, dass man meinen möchte, es müsste seit Stunden zuhause sein, aber hier ist Berlin, und wann lebt man mehr als in Nächten.

Zwischen den Schienen der Tram pickt ein Rabe nach Krümeln und kehrt erst am Morgen zu Odin zurück. Durch die Straßen der Stadt streichen Wölfe. Doch ich, ich wehe die Straßen entlang, glücklich von Himmel und Nacht, und mehr Windsbraut, sagen die Hexen: als jede von uns.

Hämmern und bohren

Ach wissen Sie, so unpraktisch bin ich eigentlich gar nicht. Ich kann ordentlich kochen und weiß, wo man einen Kardinal hinsetzt, wenn er zum Essen kommt. Oder was man machen kann, wenn Bratensauce aufs Tischtuch kommt. Ich kenne mich auch mit der Pflege von Holzmöbeln aus, könnte Socken stopfen, wenn ich mehr Zeit hätte und Socken teurer wären, und außerdem kann ich wirklich viele Flechtfrisuren, für die mein Sohn leider dramatisch zu kurze Haare hat. Aber wissen Sie was: Ich hatte noch nie einen Bohrer in der Hand.

Ganz früher war das natürlich nicht nötig. Da war ich ja noch daheim. Und etwas später rief ich, wollte ich etwas anhängen oder aufbauen oder so, meinen Vater an. Der packte dann ales zusammen, setzte sich ins Auto und fuhr los. Manchmal fragte ich auch meinen jeweiligen Freund, außer, der J. bekleidete gerade diese Funktion, denn der hat diesbezüglich auch keine Ahnung.

In Hinblick auf leckende Siphons, abblätternde Türen, Bilder, die dringend mal aufgehängt werden müssen und Lampen für Decke und Wand war es eindeutig ein Fehler, ausgerechnet den J. zu heiraten, aber wenn man die Gelegenheiten, bei denen man sich einen Heimwerker wünscht, zu den Gelegenheit in Relation setzt, bei denen gutes Aussehen und Originalität überzeugen, überwiegen nach wie vor die Argumente, die für den J. und gegen einen netten Berliner Handwerker sprechen. Meine Bilder, Regale, Lampen jedoch hängen sich von der positiven Einschätzung meiner damaligen Entscheidung leider immer noch nicht auf. Einen Hausmeister, der schnell einmal für einen Fünfer anpackt, habe ich nicht. Immer mag ich auch nicht auf meinen Vater zählen, und so überlege ich ernsthaft, nunmehr, in meinem 42. Lebensjahre, einen Kurs zu belegen, in dem man lernt, wie man Nägel in die Wand bekommt, an seiner Küche herumschraubt, Dübel befestigt und bohrt. Es wird wunderbar werden.

Engel in Action

Nehmen wir, sprach also einer der Engel der Verwirrung zu den anderen, eine beliebige junge Dame. Oder nein. Nehmen wir besser so eine Dame in mittleren Jahren, die sind gefühlvoller. Die Dame ist recht schön und ganz blond und sehr schlank mit Tendenz zur Magerkeit.  Setzen wir die Dame in eine Wohnung, schönes Innenstadtviertel, Altbauten, Antiquitäten, ein bisschen Kunst, mehr so Yasmina Reza als Pollesch, das ganze Setting, und legen der Dame ihr Telefon in Reichweite auf den Tisch. Da soll aber niemand anrufen. Den Gatten der Dame setzen wir nicht ihr gegenüber. Für ihn haben wir uns richtig was ausgedacht, ihn setzen wir nämlich auf einen Diwan in einem sehr hübschen Bed and Breakfast irgendwo ziemlich weit weg, Blick aufs Meer, alles sehr malerisch, und um die Handlung so ein bisschen zu befeuern nehmen wir dem Mann die Kleider weg. Weil nackte Leute ganz allein langweilig sind, platzieren wir eine noch viel jüngere Dame als seine Frau gleichfalls auf den Diwan. Aus Gründen der Symmetrie soll diese Dame auch rein gar nichts anhaben.

Aha, sagen die anderen Engel und nicken. 

Die Berliner Dame wird währenddessen immer unruhiger. Lassen wir sie in ihrer Wohnung hin und herlaufen, nervös mit den ordentlich manikürten Nägeln auf die glatten Oberflächen ihrer Möbel klopfen, wir denken an eine Nussbaumanrichte, Wiener Werkstätten, vielleicht lassen wir sie auch grundlos ihr Kind anraunzen, und außerdem könnte sie Telefonate mit ihrem Assistenten im Büro führen, immer so hart am Rande der Hysterie. Davon ruft ihr Mann aber auch nicht an.

Die Ärmste, seufzen die anderen Engel. 

Schließlich – Wochen sind vergangen – sehen wir die inzwischen ziemlich abgemagerte Dame mit bläulichen Schatten unter den Augen hektisch mit ihrem Telefon fuchteln. Ihr Mann war zwar zwischendurch kurz da, jetzt ist er aber wieder weg, und die Dame ruft in immer kürzeren Abständen ihre Mutter, ihren Bruder, ihre mitfühlenden Freundinnen und die lustige, böse Freundin, die jeder hat, an und holt sich Tipps für den Umgang mit dem Abwesenden. Die meisten Tipps sind schlecht bis unbrauchbar, schließlich kann man jemanden, der nicht da ist, schlecht rauswerfen, und außerdem hilft es der Dame überhaupt nicht, mit jemanden, der nicht anruft, Schluss zu machen. Davon ruft er schließlich erst recht nicht mehr an. Die böse Freundin hat dann die rettenden Idee.

Oh nein, stöhnen die anderen Engel und halten sich die Hand vor den Mund. 

Tja, grinst der Engel der Verwirrung, scrollt im Handy der Dame ziemlich weit nach unten, drückt auf einen Namen, der eigentlich auch gar nicht so wichtig ist, lässt die Dame ein bisschen plaudern und flüstert ihr einen Treffpunkt ins Ohr. Und einen Termin. Für die Berliner Engel: Das Soho House.

Setzen wir nun die Dame an einen Tisch, setzen wir einen eigentlich ganz egalen Herrn daneben, lassen wir die Dame täuschend echt lächeln, die beiden einander sich zuneigen, bis sich sehr helles und sehr dunkles Haar berühren, vermischen, wie eine in den Achtzigern einmal sehr moderne Frisur. Den Herrn immer mehr Wein nachbestellen, irgendwann beim Kellner einen Schlüssel ordern, der dann auch kommt, die beiden sich küssen, das Zimmer aufsuchen, zum dem der Schlüssel passt, und dann blenden wir ab. Engel, die wir sind.

Schade, wispern einige der jüngeren Engel und stoßen sich glucksend mit den Ellenbogen an. 

Während dessen lassen wir den Gatten besagter Dame mit einer anderen, ebenso jungen Person sich ganz anderswo auf einem Sofa herumrollen. Lassen wir die mitfühlenden Freundinnen besorgte Warnungen aussprechen, die Mutter von nichts wissen, den Bruder desgleichen, und das Kind in einer ganz anderen Wohnung auf dem Sofa sitzen und angstvoll warten, was nun geschieht.

Das aber, sagt der Engel der Verwirrung, wisse er selbst nicht, denn auch er könne sich nur die Locken raufen und die kleinen, silbernen Hörner kratzen, die zwischen den goldblonden Strähnen verführerisch blitzen.