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13. Dezember 2015

Es ist stockdunkel, aber der F. ist schon wach und singt. Oh Tannenbaum. Ja, denke ich. Du mich auch.

Weil meine Stimme immer noch irgendwo anders Urlaub macht, würde ich die Karten zum Weihnachtsliedersingen in der Komischen Oper ganz gern zurückgeben. Weil alle anderen auch erkältet sind oder schon was vorhaben, wird aber nichts draus. Ich dusche also so schnell ich kann, der J. zieht den F. an, und dann laufen wir los. Im Bus erzählt der F. sehr laut jedem, der es hören will, dass er einen Drachen besitzt, der im Keller wohnt und einen eigenen Adventskranz besitzt. Der Drache singt auch sehr schön, er kann Feuer spucken, und er liebt die Musik so sehr wie der F.

In der Oper ist es rappelvoll. Die Eltern singen laut und schief, einige Kinder rutschen stumm auf ihren Sitzen, andere brüllen die Weihnachtslieder mit, bis ich besorgt nach oben schaue, ob der Kronleuchter schon schwankt. Neben mir gibt der F. sozusagen alles.

Von der Oper aus laufen wir bis zum Alex. Der F. wird, meine ich, gerade ob der Last von Schokoladennikoläusen und gebrannten Mandeln etwas rundlich, deswegen lassen wir die Busse fahren, und als Lohn der Mühen verspreche ich dem F. eine Fahrt mit dem Karussell am Roten Rathaus. Aus der Fahrt werden drei, über dem strahlenden F. singen die Engel, und als wir daheim ankommen, isst F. ganz schnell zwei Brötchen und geht zu Bett.

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Um kurz nach drei fahren wir nach Charlottenburg. Eigentlich, das versichern wir uns immer, wenn wir da sind, ist Charlottenburg schön. Hübsche Geschäfte, gediegene Restaurants, außerdem wohnen der P. und die K. da, die eine Wohnung haben, wie ich sie auch gern hätte, und außerdem so erkennbar mehr Geschmack als ich, dass ich immer ein bisschen neidisch bin, weil meine Wohnungen irgendwie nie so gut aussehen. Ihr Sohn ist auch hübsch, ein reizender Dreijähriger, mit dessen Freunden der F. sofort im Kinderzimmer verschwindet. Ich esse sehr viel Apple Crumble und trinke Wasser und Kaffee, rede die ganze Zeit über Restaurants, Kitas, Orte, wo man hinfahren will und Getränke, die wir gerne trinken, dass ich irgendwann feststelle, dass ich keineswegs gerade erst angekommen bin, sondern so langsam mal wieder aufbrechen sollte. Das machen wir dann auf: Langsam fahren wir den Ku’damm hoch, und in den Bäumen und an allen Gebäuden glüht und glitzert das Weihnachtsfest so verheißungsvoll, als stehe uns wirklich ein Wunder bevor.

Es ist das Höchste der Gefühle

Ganz klein war der F., lag auf einem safrangelben Kissen auf meinem Schoß, winzige Fäuste und die Unterlippe voller Milch. So winzig war er, lag warm und schwer auf meinem Unterarm, und mit der anderen Hand suchte ich auf youtube nach Musik. Grieg. Beethoven. Ein bißchen Händel, ein bißchen Pergolesi, und immer wieder Mozart. Das kunstvoll-künstliche Veilchen der Schwarzkopf. Eberhard Waechters virilen, schwarzen Don Giovanni, und den Papageno, und den immer wieder, denn dann lachte der F., griff mir mit seinen kleinen Fäustchen ins Haar und gluckste laut und glücklich.

Größer war der F., krabbelte auf den bunten Schaumstoffmatten im Wohnzimmer herum, zog sich hoch, und wedelte zur Musik mit dem Hintern wie ein sehr kleiner Skiläufer, und lachte und streckte die Hände aus, als wollte er alle Töne für sich festhalten, und als der F. so groß war, dass er richtig laufen und sprechen konnte, kauften wir ihm einen CD-Spieler und ein paar CDs. Mozart war auch dabei, das Beste aus der Zauberflöte für 2,99 EUR vom Radioorchester Bratislava. Abends saß der F. bei mir und hörte Musik.

Als der F. drei wurde, bekam er ein Buch, das handelte von der Zauberflöte. Wie also Prinz Tamino eines Tages von einer Schlange … und so weiter, und ab und zu darf der F. auf dem Sofa liegen und die Zauberflöte von Harnoncourt auf CD von vorn bis hinten hören. Weil die Zauberflöte sehr gruselig ist, so aus der Perspektive eines immer noch Dreijährigen, sitzt der F. dabei passagenweise sehr gern auf meinem Schoß und versteckt sich bei sehr spannenden Stellen hinter seinen Händen.

Gern hätten der J. und ich den F. in eine Bearbeitung für Kinder geführt, aber in ganz Berlin läuft gerade keine Zauberflöte für Kinder. Wir haben deswegen drei Karten für eine ganz normale Nachmittagsaufführung erworben, heute um 15.00 Uhr, und Karten am Rand gekauft, falls er nicht durchhalten würde, und dann saßen wir da. In der Staatsoper im Schillertheater, und der F. schlug die Hände vor die Augen, als die Schlange Tamino jagte.

Der F. staunte die Königin der Nacht an, lachte über Papageno, trauerte mit ihm über sein verloren geglaubtes Weibchen, jubelte über die zahmen Tiere und schunkelte sogar ein bißchen vor sich hin. In der Pause aß er eine Brezel und drängelte ungeduldig wieder auf seinen Platz. Am Schluss applaudierte er. Minutenlang, frenetisch, und strahlte dabei wie einer, der weiß: Es ist das Höchste das Gefühle. Mehr Glück hält das Leben nicht bereit. Ihm wie mir. Vor über 30 Jahren.

Zwanzig. Und drei.

Drei Jahre, sagen wir, und heben die Gläser. Drei Jahre, und wir haben keinem was gesagt und sind im grauen Kleid und ohne Schleier schnell zum Standesamt gefahren. Mit der M 10 und nicht mit einer gläsernen Kutsche. Es gab nicht mal Musik. Irgendwann, dachten wir, würden wir dann noch einmal richtig feiern, so richtig, also so mit Kleid und Walzer und allem drum und dran, aber dann verschlang der Alltag das Fest, und ich wäre mir wohl auch ein wenig dämlich vorgekommen, ich Unfestlichste von allen.

Am Ende ist also nur ein Essen daraus geworden. Zwei Tage am Meer, vier Großeltern, ein Kind, ein Paar, und am Sonntagmorgen fällt mir am Strand erst ein, dass ich den J. inzwischen länger kenne, als ich Zeit ohne ihn verbracht habe, damals. Irgendwann. In unvordenklichen Tagen.

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So viele Jahre

Am Ende der Woche aber bin ich wieder in Berlin, und die J. und ich erzählen uns im Banh Xeo Saigon das Beste aus unserem Leben, und dazu essen wir stundenlang einen vietnamesischen Feuertopf, also so eine heiße Brühe auf einem Gaskocher, in die wir Fleisch, Fisch, Krabben, Tofu und viel Gemüse werfen, um sie dann mit Reisnudeln und Sauce zu essen. Langsam beschlägt die Scheibe zur Greifswalder Straße, und ich nippe vom viel zu süßen Tee. Schwarz ist die Nacht und funkelt in den Fensterscheiben, als lebten andernorts Abenteuer fort, die wir nun nie mehr erleben.

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Auf einmal ist man alt, denke ich später auf dem Weg die Christburger Straße hoch Richtung Westen und sehe meinem Spiegelbild direkt in die Augen. Mir geht es ganz gut, schärfe ich mir ein, und jung war ich so lange, dass es zuletzt doch auch schon ein wenig fad war, dieses ständige Hoffen und Erwarten und auf dem Sprung sein nach irgendwohin. Angekommen bist du doch leidlich, rufe ich alles auf, was gut ist an meinem Leben, und dann lächele ich entschlossen in die fallende Nacht, lache mit der J. in der Saphire Bar, bestelle einen Drink, dessen Namen ich sofort wieder vergesse, und freue mich auf dem Weg zurück auf den Duft warmer Haare und den ruhigen Atem der Nacht.

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Die Anderen. Und ich.

Was für Kreaturen, denke ich in irgendeinem Restaurant tief im südlichen Schwarzwald und schaue mir im Internet die Leute an, die nach den Anschlägen von Paris auf die Straße gehen und gegen Flüchtlinge demonstrieren, auch wenn die Attentäter offenbar Franzosen oder Belgier waren. Denen geht es, schaue ich mir die grauen Jacken und schütteren Haare der Demonstranten an, doch nicht um Sicherheit. Die treibt auch nicht die Sorge, ob auch für die Obdachlosen noch genug Schlafplätze vorhanden sind, und für die Langzeitarbeitslosen genug Hartz IV. Diese Leute treibt der schiere Rassismus auf die Straße, weil sie aus irgendeinem Grunde glauben, sie seien bessere Menschen als andere und hätten ein besseres Leben als jene verdient.

So bin ich nicht, denke ich und bestelle mir eine Tasse Tee mit braunem Zucker und Sahne und ein Schokoladeneclair dazu. Ich gebe jedem Bettler. Ich habe meine alten Kleider gespendet, ich gebe Geld, und ich schreibe an fremde Regierungen und eigene, wenn amnesty international dazu aufruft. Ab und zu gehe ich sogar auf die Straße. Und doch, fällt es mir ein, kenne ich keinen einzigen Moslem. In meiner Schule gab es keine, in meinem Studium und Berufsleben habe ich keinen kennengelernt, und in meinem Kiez habe ich bisher noch keinen einzigen Araber oder Türken getroffen. Wer sich unwillkommen fühlt, wer meint, die Gesellschaft nehme ihn nicht freundlich auf. Wer irgendwann radikal wird, weil er nicht werden will, wie wir, weil wir ihn nicht mochten: Der meint auch mich.

Und dann fühle ich mich auf einmal nicht mehr so gut, kaum besser als die Schreihälse auf den ostdeutschen Straßen, hier, irgendwo weit weg von zuhause. Mit einer Tasse Tee in der Hand.

Sankt Martins Mantel

Wie kann man, denke ich zwei bis zwölfmal täglich, nur so sein. Wie kann man sich auf die Straße stellen und allen Ernstes behaupten, ausgerechnet die vor Geld platzende Bundesrepublik könne niemanden mehr aufnehmen, denn andernfalls reiche es nicht mehr für diejenigen, die schon hier leben.

Ihr Trottel, denke ich beim Überfliegen der Kommentarspalten. Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass auch nur ein Euro mehr bei euch landen würde, wenn von morgen an kein einziger Flüchtling nach Deutschland gelangt. Wie dämlich muss man sein, um nicht zu erkennen, dass der Mangel an Geld und Anerkennung für manche Deutsche nichts mit Ausgaben und Überfluss an anderer Stelle zu tun hat, sondern mit einer bewussten politischen Entscheidung, und wie schlecht und verkommen müssen Leute sein, die ernsthaft lieber andere Menschen im Meer ertrinken oder verelenden lassen möchten, als selbst auch nur ein alte Kleider oder ein bisschen Geld abzugeben oder einen Kuchen für neue Nachbarn zu backen, und wie heuchlerisch und kalt, um über christliche Werte zu sprechen, und nicht an einen römischen Offizier zu denken, der seinen Mantel mit einem frierenden Bettler teilt.

St. Martin and the Beggar, 1836 (oil on canvas)

So, wie ihr seid, denke ich und schaue mir eure Bilder im Internet an. So wie ihr will ich niemals sein, und so eine Welt, wie ihr sie wollt, hat niemand verdient, und dann spende ich euch zum Trotz Geld für die Seerettung, für Medizin, für Familiennachzug und kaufe ein für ein herzliches Willkommen, und wenn es auch nur für fünf Cent Gründe geben könnte, wieso ihr so seid, wie ihr seid: Ich will sie nicht wissen.

(Ihr anderen aber: Bitte gebt. Man liest immer, es sei die Aufgabe des Staates, zu retten und zu schützen. Das mag so sein. Aber vor allem ist es unsere Aufgabe. Ihre und auch meine.)

Das Phantom

Die Vorfahren der Katzen, Sie wissen das, lebten in dunklen Höhlen ganz tief im Wald. Den ganzen Tag schliefen sie da, schnarchten, wälzten sich träge hin und her, und manchmal zitterten ihre Schnurrhaare, wenn sie besonders schön träumten. Riesengroß waren diese Katzen, Freundinnen des Mondes und der dunklen Wälder, und als sie eines Tages beschlossen, sich den Menschen untertan zu machen, setzten sie ihr Leben in seinen Höhlen, seinen Hütten, seinen Schlössern und Einfamilienhäusern einfach fort. Wenn es denn nicht anders geht: Auch auf Etage. Wie unsere Katze.

Jeden Tag schläft unsere Katze Lilly auf einem Kleiderstapel im Schlafzimmer. Wenn kein Stapel da sein sollte, weil gerade jemand aufgeräumt hat, dann schläft sie auf dem Bett. Das darf sie nicht, aber was schert es – sagt sich die Katze – die Eiche, wenn sich die Sau und so weiter, und so räkelt sich die Katze selbst dann noch genüsslich auf der Decke, wenn ich ins Schlafzimmer komme und schimpfe. In solchen Momenten sind Katzen nämlich taub. Des Nachts aber sitzt Lilly mit tellergroßen Augen vor der Balkontür und spricht mit dem Mond und den Sternen. Manchmal, wenn ich noch wach bin, höre ich sie um Mitternacht auf dem Wohnzimmerparkett tanzen.

Ganz und gar nicht mag Lilly Kinder. Mit dem F. hat sie sich abgefunden. Er ist nicht besonders laut und nicht besonders grob, er kann streicheln und leise Katzenworte sagen, und außerdem kann er mit einer schönen, seidenen Schnur durch die Wohnung laufen und jauchzen, wenn die Katze ihm folgt. Erscheinen aber andere Kinder in der Wohnung, erst recht so sechs oder sieben, wie heute, und trampeln diese Kinder, rufen, singen, spielen auf der Triola und der Gitarre, lassen kleine Autos über den Boden fahren, der in der Mitte ein wenig durchhängt, weil das Haus alt ist und der Boden auch: Dann verschwindet die Katze auf Nimmerwiedersehen. Ich glaube, sie ist dann unterm Schrank. Ganz genau weiß man das aber nicht.

Weil der F. eine treue Seele ist, mag er seit er einjährig in die Kita gekommen ist, dieselben Kinder. Er mag seinen blonden Freund E., der schön malt und sich leicht fürchtet. Seinen Freund L., der von seiner Mutter schwarze Indianeraugen mitbekommen hat und vom Vater blonde Haare. Den N., der dem F. ab und zu zu wild ist, aber meistens genau richtig, weil auch der freundliche F. gern einmal etwas wilder wäre, und die anderen Kinder, die der  F. alle ab und zu mit Filzstiften malt, wie sie langbeinig und körperlos miteinander spielen. Keins dieser Kinder aber hat jemals die Katze gesehen. Dabei sind die Kinder nicht etwa selten da. Manche Kinder erscheinen hier ausgesprochen regelmäßig, alle fragen jedesmal nach der Katze, aber keiner weiß auch nur, wie sie aussieht. Lilly ist ein Phantom.

„Willst du dich nicht einmal zeigen?“, frage ich also heute Abend Lilly, als alle gegangen sind und ich am Küchentisch sitze, den Rechner vor mir und die Katze in meinem Rücken. „Purr!“, antwortet die Katze, und das heißt in der Katzensprache so viel wie „nein“. Ob wir nicht endlich aufhören könnten, ständig all diese Kinder einzuladen, fragt Lilly im Gegenzuge, und als nun wiederum ich verneine, schreitet Lilly majestätisch, den Kopf sehr gerade einmal um den Esstisch. „Aber alle wollen dich sehen.“, gebe ich zu bedenken. Die Katze aber schaut nur spöttisch und reibt mit dem Kopf am Türrahmen. „Dann geben sie sicher Ruhe und hören auf, dich zu suchen.“, locke ich Lilly zu einem einmaligen Auftritt.

Das, antwortet Lilly, sei sehr interessant. Aber ein Bild müsse reichen. Und Erkennbarkeit – Lilly maunzt laut und ein wenig abfällig – lehne sie grundsätzlich ab.

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Nichts als Gold

Der frühe Morgen ist schrecklich. Es ist dunkel und nass. Ich röchele wie ein schrecklich verschleimtes Nilpferd, der J. jammert, er sei eigentlich krank, und der F. schläft unbeirrt weiter. Wenn das nicht jeden Tag so wäre, ich verfiele stracks in Panik und würde Notärzte rufen, weil ich fürchten würde, er stirbt. Er ist aber nur müde, weil er abends bis zehn durch die Wohnung stromert, Rosinenbrot isst und singt.

Der nicht mehr so ganz frühe Morgen ist hektisch. Der Zeiger der Küchenuhr rückt doppelt, ach: dreimal so schnell wie sonst vor. Der F. sitzt sehr lange auf der Toilette, meine Haarspülung ist alle, das Brot hart, und der Käse schimmelt. Außerdem haben wir in der Kita diese Woche Obstdienst, und der J. hustet, als müsste ich noch vor dem Frühstück die Lunge des geschätzten Gefährten in mehreren hundert Einzelteilen im Badezimmer zusammenkehren. Wenn ich zufällig an Spiegeln vorbeischaue, sehe ich eine hochrote und auch sonst etwas strapaziert wirkende Person durch die Wohnung eilen.

Auf dem Weg wird es dann langsam besser. F. saust auf dem Laufrad auf dem Bürgersteig entlang zur Kita. Die Brotdose ist voll, Bananen, Trauben, Physalis und Nüsse eilig zusammengekauft, und als ich mich winkend verabschiede, bleibt die Welt zitternd stehen und fängt dann ganz, ganz gemächlich wieder an, sich zu drehen.

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An der Ecke stehen zwei Frauen und unterhalten sich. Ein älterer Mann erzählt seinem Hund eine lange Geschichte. Ein Jogger bellt ins Telefon. Eine junge Frau lächelt in ihren Kinderwagen, und auf das müde Gras fällt all das Gold des Jahres.

Beule

Der körperliche Höhepunkt, das ist sozusagen erwiesen, ist mit ungefähr 19 erreicht, und ab dann geht es bergab. Ich bin von meiner persönlichen Bestform also inzwischen 21 Jahre entfernt, und vor allem morgens sehe ich auch so aus. Außerdem ist inzwischen immer irgendetwas. Vor allem meine Augen. Minus elf, minus sieben – ich bin hochoffiziell blind, höre dazu ja auch schlecht, und dazu bin ich auch noch deutlich zu schwer. Tiefpunkt meiner physischen Existenz ist aber ganz eindeutig mein Gebiss.

Ich will an dieser Stelle nicht von meinen Wurzelbehandlungen sprechen. Auch der Wurzelspitzenresektion und der russisch-kalifornischen Zahnextraktion soll hier nicht gedacht werden. Eigentlich habe ich mich auch an dieses ständige Missbehagen auf der rechten Seite meines Kiefers gewöhnt, weil die Angst vorm Zahnarzt bisher jedenfalls meistens größer war als das miese Gefühl im Mund.

Eines Tages – es ist einige Wochen her – wache ich also morgens auf und bin schief. Also nicht so metaphorisch, sondern richtig. Konkret wölbt sich meine rechte Gesichtshälfte unterhalb des Kiefers, nicht ganz unähnlich einem Insektenstich, nur ganz eindeutig ohne Einstich ungefähr so, als hätte ich mir ein Taubenei direkt unter die Haut implantieren lassen. Ich also gekühlt, beklopft, gegooglet und Freunden und Familie etwas vorgejammert. Dann leicht beklommen eine Woche gewartet. Die Schwellung blieb und entstellte mich, wie ich fand, nicht ganz wenig. Ich ließ mir also Antibiotika verschreiben, denn die wirken meistens, wenn man nicht weiß, was es ist, und wartete dann noch zehn Tage ab. Nichts. Die Schwellung rührt, so viel ist klar, vom Lymphknoten her, aber die Ursache ist und bleibt, so säuseln die Ärzte, letztlich unbekannt.

Als ich fürchtete, michnie wieder fotografieren lassen zu können und nur noch im Dunkeln vor die Tür zu gehen, ging ich zum Arzt. Zum Zahnarzt diesmal. Meine Zahnärztin wiegte den Kopf. Vermutlich sind die meisten Zähne, die ich habe, irgendwie schadhaft, da fällt die Auswahl schwer. Am Ende flickte sie einen, schickte mich wegen eines anderen zum Chirurgen, der ihn dann rausriss, und bestellte mich schließlich für nach dem Urlaub. Ich also zum Chirurgen, aber die Schwellung ging nicht weg. Ich bin nach wie vor irgendwie ausgebeult.

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Nach dem Urlaub saß ich wieder auf dem bösen Stuhl. Die Ärztin wisperte beruhigende Worte, damit ich aufhöre, so fürchterlich zu schwitzen. Wenn Hunde in der Nähe wären, würden die alle entweder weglaufen oder sofort zubeißen, weil man überhaupt nicht mehr nach Angst riechen kann als ich in diesem Moment. Dann fing die Ärztin wieder an, in meinem Hund herumzufuhrwerken, die Geräusche waren recht schrecklich, und irgendwann tauchte sie aus meiner Mundhöhle wieder auf. Einige Stunden später war das Missbehagen komplett verschwunden.

Nicht verschwunden ist jedoch der dicke Lymphknoten. Jeden Morgen und jeden Abend stehe ich im Badezimmer vor dem Spiegelschrank und betaste die Schwellung. Ich glaube, es wird weniger. Ich bin mir aber nicht sicher. Ich vermute, dass fremde Leute mich inzwischen für leicht meschugge halten, weil ich ständig an meinem Kiefer knete, aber ich kann nicht anders. Ich habe, das ist Wahrheit, sogar schon gegooglet: „Lymphknoten abschwellen Tabletten“ und „Kosmetische Lymphknotenextraktion Kasse“, und wenn sich bis nächste Woche nichts tut, wird einer der Mitarbeiter des Debeka-Leistungszentrums Zeuge eines sehr merkwürdigen Anrufs.

Ausgerechnet Bananen

Meine Damen und Herren, ich habe ein Geständnis abzulegen. Anders als so gut wie jeder billig und gerecht Denkende, als der Löwenanteil der Zeitungsleser, Parkspaziergänger und Elternkindcafébesucher glaube ich nicht – hier denken Sie sich einen Trommelwirbel samt Tusch – an die Frühförderung kleiner Kinder. Also eigentlich aller Kinder vor dem Grundschulalter.

Vielleicht handelt es sich bei dieser Ansicht lediglich um eine Rationalisierung meiner Bequemlichkeit, um auch künftig mit gutem Gewissen auf dem Sofa zu sitzen, während andere Mütter mit ihrem Nachwuchs auf englisch turnen und mit eigens für die Förderung von Kleinkindern verfertigten Büchern und Kunststoffkästen deren Zahlenverständnis pauken. Vielleicht macht mir in nur wenigen Jahren der F. bittere Vorwürfe, weil alle anderen Erstklässler alles Mögliche können, was der F. nicht beherrscht, aber tatsächlich hat mir des F. Entwicklung bis heute eigentlich bestätigt, dass Kinder sich sowieso nichts merken und nichts lernen, es sei denn, sie streben nach dieser Fertigkeit von selbst. Konsequenterweise besucht der F. einfach die nächstgelegene Kita.

Heute nachmittag allerdings bin ich in Hinblick auf die Bildbarkeit Dreijähriger dann doch etwas schwankend geworden.

Dazu muss man wissen, dass der F. nach einer langen praktisch omniphagen Phase in den letzten Monaten etwas wählerisch geworden war. Nudeln ja, aber ohne Soße. Sushi ja, aber nur mit Lachs. Oliven ja, aber niemals Tomaten. Gurken ja, aber nur mit Schale. Äpfel ab und zu, Bananen niemals. Ab und zu Weintrauben und Orangen. Anderes Obst: Fehlanzeige.

Mir ist das tatsächlich ziemlich egal. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Kind Mangelerscheinungen zeigt, nur weil es nur noch drei bis vier Obst-und Gemüsesorten isst. Mein Gott, Äonen der Menschheitsgeschichte haben Menschen weniger Gemüsesorten gekannt und gegessen als heute. Im Norddeutschland der Steinzeit gab es schließlich auch Menschen, und selbst die Tundra ist nicht menschenleer. In der Kita allerdings muss des F. Verweigerungshaltung auf weniger Verständnis getroffen sein, denn am vergangenen Mittwoch Abend verlangte der F. auf einmal nicht nur nach Reis und Wurst, sondern auch nach meinem Linsencurry mit ordentlich Garam Masala und viel Koriander und erklärte: „Linsen machen sehr stark.“ Ich schaute auf. Der F. strahlte sein Linsencurry an. Spinat mache noch stärker, erklärte er. Dann aß er das Curry auf. „Hat deine Erzieherin dir das erzählt?“, fragte ich nach, und der F. nickte kauend und siegesgewiss.

ich unterdrückte den Impuls, dem F. zu erläutern, die gesundheitliche Wirkung des Spinats beruhe auf einem Messfehler und ließ ihn essen. Am nächsten Tag verlangte er nach einer Birne und aß mehrere rohe Möhren hintereinander auf. Freitag verzehrte er eine halbe Gurke, und am Samstag aß der F. einen ganzen Teller Mangold-Sellerie-Cremesuppe mit Croutons und knusperte nicht nur die Croutons. „Jetzt bin ich sehr stark!“, fuchtelte er mit dem Löffel und erklärte, er halte in seinem Zimmer einen Drachen, der sehr gefährlich sei, aber sich vor dem F. fürchte. „Kein Wunder – du bist ja so stark.“, versicherte ich ihm, und der F. strahlte über beide runde, rote Backen.

Am Sonntagnachmittag dann liefen wir von der Tram nach Hause. „Mir ist kalt.“, nörgelte der F., und das war vermutlich wahr. Es ist nämlich deutlich kühler, als man so denkt, wenn man aus dem Fenster schaut. „Ich werde bestimmt erkältet.“, drohte der F. mit dem schlimmsten aller Übel sozusagen, aber dann kam ihm der rettende Gedanke. Er wolle, verlangte er, jetzt auf der Stelle eine Banane.

Ich glaubte nicht recht an den neu erwachten Bananenhunger des F. Man lehnt doch nicht ein ganzes, halbes Jahr den Bananenverzehr als „eklig“ ab, und beißt dann in die nächste Banane, weil eine Erzieherin gesagt hat, dieses Obst sei besonders gesund. Entweder mag man Bananen oder nicht. Aber gut, gute Vorsätze soll man fördern: Ich spazierte also in den knallvollen LEKR-Markt, der auch am Sonntag einfach alles verkauft und erstand drei Pfund Bananen. Ich würde, nahm ich mir vor, des abends ein Bananenbrot backen.

Nun aber sitze ich hier. Es gibt kein Bananenbrot. Es gibt aber auch keine Bananen mehr, denn kaum war ich zuhause und hatte die Bananen abgeladen, riss der F. die erste Banane auf und biss herzhaft in die gelbe Südfrucht. Dann ging ich spazieren. Als ich wiederkam, saß der J. auf dem Sofa und spielte Gitarre, der F. stand mampfend in der Küche, und auf dem Mülleimer lagen die Schalen von fünf Bananen.