Da stehe ich also vorm Bahnhof von Halle und verfluche die Deutsche Bahn. Irgendwo weit weg, wo es schöner ist als in Halle, bildet sich auf dem Gesäß von Hartmut Mehdorn wie aus dem Nichts ein blauer Fleck, als ich mit dem Absatz meiner linken schwarzen Sandalette ein paarmal kräftig zutrete, nur vermeintlich in die Luft. Dann greife ich nach meinem Rollkoffer voll Papier und rattere in die Unterführung. Mein ICE nach Berlin ist weg. Ich habe jetzt sehr, sehr viel Zeit.
Ich war ein paarmal beruflich in Halle, aber in der Stadt selbst war ich noch nie. Plattenbauten assoziiere ich. Stiernackige Nazis, die mit großen Keulen Vietnamesen jagen, ja, und Hans-Dietrich Genscher natürlich, der nach der Wiedervereinigung nicht oft genug betonen konnte, dass er aus Halle stammt, was der FDP im Osten, glaube ich, aber auch nichts eingebracht hat. Immerhin wird es auch hier wohl eine Fusgängerzone geben, da kann ich ein bisschen einkaufen, weil ich nichts mehr anzuziehen habe, nicht so mädchenhaft kokett mit vollen Schränken nichts anzuziehen, sondern so wirklich.
Etwas ratlos stehe ich vor einem Wegweiser und starre abwechselnd auf die verschiedenen Pfeile und auf mein Handy. Ich bin total orientierungslos, mir können Sie alles erzählen, und deswegen weiß ich auch nach Minuten nicht, ob ich rechts oder links rum laufen muss. Nur zurück ist falsch. Soviel ist klar, denn dort liegt der Bahnhof.
„Kann ich helfen?“, fragt mich jemand und ich atme auf. Ohne hilfsbereite Einheimische wäre ich schon vor Jahren irgendwo in den Wüsteneien am Rande der bewohnten Welt gelandet und würde dort verzweifelt nach Essensresten suchen, deswegen strahle ich meinen Retter an. Ja. Die Innenstadt, Geschäfte, irgendwas, wo man mehrere Stunden herumbekommt, bis der nächste ICE nach Berlin fährt.
Der Retter, das ist praktisch, muss auch in die Innenstadt. Er lehrt Musik, erzählt er mir, deswegen hat er ein Cello dabei, und er hat mit langen Haaren und Bart frappierende Ähnlichkeit mit dem Jesus in den Bibelcomics, die vor sehr vielen Jahren in meiner Schule auslagen. Ich dagegen erinnere keineswegs an einen der biblischen Engel oder auch nur an eine der geringeren Heiligen, ich wirke, wie man ab und zu in spiegelnden Schaufenstern sieht, irgendwie zerbeult und gerade heute ziemlich strapaziert und etwas fleckig.
Der Musiklehrer wohnt schon lange in Halle, erzählt er, deswegen kennt er sich hier aus. Er zeigt mir das Haus, in dem nach dem Krieg der russische Stadtkommandant gewohnt hat, und das Haus, in dem sein Großvater eine Ohrenarztpraxis hatte. Er zeigt mit den Händen, wie groß das Hallenser Urpferd war, er zählt mir alle fünf Türme von Halle auf, beschreibt die Orgeln der Stadt und pfeift ein Medley der besten Kompositionen Georg Friedrich Händels. Mir tun die Füße weh, ich bin schon den ganzen Tag unterwegs, die Woche war greulich, und ich schlafe dazu schon seit Tagen schlecht, weil Kind F. mir Nacht für Nacht ins Gesicht tritt. Über Musik lasse ich mir aber gern erzählen, auch wenn ich über Barockmusik kaum etwas weiß, und als wir vorm Händelhaus stehen, schaue ich auf die Uhr, verschiebe alle Einkäufe und komme mit. Instrumente gibt es hier, und dazu erzählt der Musiklehrer lustige Geschichten über das Musikmachen.
Als mein Handy brummt, der nächste Zug wäre auch zu spät, zucke ich die Schultern. Nein, sage ich. Ich will mich nicht bekochen lassen. Aber essen gehen möchte ich schon, und so sitze ich irgendwann in einem Hinterhof, trinke grünen Tee und esse Tomaten, erzähle das Beste aus meinem Leben, vor allem die Pannen und Pleiten, sofern sie lustig sind. Dann zahle ich und gehe. Und drehe mich nicht um.