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Sommer, egal

Das war der Sommer, denkst du, wenn du nicht schlafen kannst und aufstehen musst und stehst auf dem Balkon. Das war ein bisschen wenig Badesee und Biergarten und nackte Beine und Kreuzberg nachts um halb fünf. Das war kein Sommer, an den du dich erinnern wirst, das waren keine großen Nächte, da war keine Sonne nur für dich da und keine Nacht hat dir ihre Dunkelheit tief in die Haut geschlagen und sich an deinem Blut so satt getrunken wie irgendwann vor Zeiten: Fast ist es nicht mehr wahr.

Wahrscheinlich wird der F. irgendwann von diesem Sommer erzählen, in dem er Schwimmen gelernt hat. Vielleicht erinnert sich der J. an einen kühlen Sommer auf dem Golfplatz. Ich aber, ich werde irgendwann nicht mehr wissen, was diesen Sommer war und was in die anderen Sommer gehört, die noch kommen, und ich wüsste manchmal gern, was mir an diesem Sommer einmal leidtun wird, wenn die letzten Sommer sich dem Ende neigen.

I Need the Cheats

Im Grunde, meine Damen und Herren, ist das hier nichts für mich. Schon das Setting. Ich habe schon nie verstanden, wie Leute Monate ihres Leben mit den Sims vergeuden können, um dann genau das zu tun, was sie auch sonst tun, also arbeiten, Häuser einrichten, Familien gründen und so. Ich mag meine Familie, ich lehne es jetzt auch nicht pauschal ab, Möbel zu kaufen, gleichwohl, wie kann man ernsthaft … aber ich schweife ab. Um darauf zurückzukommen: Ich hätte niemals ein Spiel gekauft, in dem eine mittelalte, mittelgroße und leicht übergewichtige Frau in blauen Kleidern in jedem neuen Level ein Büro aufsucht, oder kleine Geschicklichkeitsspiele auszuführen hat, auch mal ein Jump and Run so zwischendurch, in dem sie in einem tollkühnen Sprint versucht, doch noch auf den letzten paar Zentimetern Energy (der Balken im Bild färbt sich dunkelrot) von Terminal 1 zu Terminal 2 zu kommen. Oder gleichzeitig mit ihrer Mutter zu telefonieren, Spaghetti zu kochen und für ein um sie herumtanzendes Kind einen lachenden Pilz zu malen, ohne dass Stift, Handy oder Topf begleitet von einem dumpfen Knall herunterfallen, um auf dem Fußboden zu zerschellen.

Spätestens nach Level KW 33 hätten auch Sie, da bin ich mir ganz sicher, abgeschaltet. Die kurzen Filmsequenzen, in denen hässliche Gnome, sogenannte Taxifahrer, absurde Sachen sagen, scheinen sich zu wiederholen und sind auch nicht lustiger als deutsche Komiker, die im Fernsehen auftreten. Zu recht hätten auch Sie bemängelt, dass es durchweg gar nicht möglich war, die Verkehrsmittel zu erreichen, denen man nachjagen sollte. Außerdem ergibt die Storyline des Levels „Gottverdammter Dienstag“ keinen Sinn, weil ein halbwegs normaler Mensch nicht so geisteskrank agieren würde wie die ansonsten verdammt durchschnittliche Frau, deren Bedienung über ein Handy mit kaputtem Display jetzt auch nicht so wirklich Spaß macht. Sie hätten deswegen, oh geneigter Leser, die Frau einfach ausgemacht, was indes, wenn man dazu verdammt ist, diese Frau zu sein, natürlich keine ernsthafte Alternative darstellt. Nach gründlicher Überlegung sage ich deswegen hier: Ich brauche die Cheats.

Ich würde es etwa sehr begrüßen, wenn mit der Eingabe von SUN das Szenario sich schon so grundsätzlich verbessern würde. Ich möchte eine Stadt am Meer im Sonnenschein, architektonische Schönheiten gern gesehen. Mit HEIDION könnte man die Frau auf 1,78 vergrößern und gleichzeitig auf Kleidergröße 36 verschlanken. Sie könnte dann auf einmal auch ordentlich schreiten statt ständig zu stolpern. Mit ENDLICHMODERN hat sie auf einmal 24 verschiedene Kleidungsstücke zur Auswahl anstatt des immer gleichen (oder zumindest täuschend ähnlichen) blauen Kleides mit Blazer.

Mit WARTETAUFMICH würden auf einmal alle Verkehrsmittel erreicht. Mit BISTDUIRRE gewönne die Frau auf einmal die wunderbare Fähigkeit, im richtigen Moment nicht ans Telefon zu gehen oder wahlweise einfach aufzustehen und zu verschwinden. Bei Eingabe von DIEABSOLUTEMAMA wüchsen ihr mehrere Hände und Ohren. Ich gebe zu, dass die Eingabe von GODDESSMODESTE, worauf einfach alles funktioniert, dem Spielvergnügen ein wenig abträglich sein könnte, aber mit BAZOOKA würden die wesentlichen Probleme, die einem schönen Leben entgegenstehen, nach wenigen farbenfrohen, wenn auch nicht ganz geräuschlosen Minuten einfach so und endgültig verschwinden. Das wäre schön.

 

Per Voi Risplenda Al Fato

Da stehe ich also vorm Bahnhof von Halle und verfluche die Deutsche Bahn. Irgendwo weit weg, wo es schöner ist als in Halle, bildet sich auf dem Gesäß von Hartmut Mehdorn wie aus dem Nichts ein blauer Fleck, als ich mit dem Absatz meiner linken schwarzen Sandalette ein paarmal kräftig zutrete, nur vermeintlich in die Luft. Dann greife ich nach meinem Rollkoffer voll Papier und rattere in die Unterführung. Mein ICE nach Berlin ist weg. Ich habe jetzt sehr, sehr viel Zeit.

Ich war ein paarmal beruflich in Halle, aber in der Stadt selbst war ich noch nie. Plattenbauten assoziiere ich. Stiernackige Nazis, die mit großen Keulen Vietnamesen jagen, ja, und Hans-Dietrich Genscher natürlich, der nach der Wiedervereinigung nicht oft genug betonen konnte, dass er aus Halle stammt, was der FDP im Osten, glaube ich, aber auch nichts eingebracht hat. Immerhin wird es auch hier wohl eine Fusgängerzone geben, da kann ich ein bisschen einkaufen, weil ich nichts mehr anzuziehen habe, nicht so mädchenhaft kokett mit vollen Schränken nichts anzuziehen, sondern so wirklich.

Etwas ratlos stehe ich vor einem Wegweiser und starre abwechselnd auf die verschiedenen Pfeile und auf mein Handy. Ich bin total orientierungslos, mir können Sie alles erzählen, und deswegen weiß ich auch nach Minuten nicht, ob ich rechts oder links rum laufen muss. Nur zurück ist falsch. Soviel ist klar, denn dort liegt der Bahnhof.

„Kann ich helfen?“, fragt mich jemand und ich atme auf. Ohne hilfsbereite Einheimische wäre ich schon vor Jahren irgendwo in den Wüsteneien am Rande der bewohnten Welt gelandet und würde dort verzweifelt nach Essensresten suchen, deswegen strahle ich meinen Retter an. Ja. Die Innenstadt, Geschäfte, irgendwas, wo man mehrere Stunden herumbekommt, bis der nächste ICE nach Berlin fährt.

Der Retter, das ist praktisch, muss auch in die Innenstadt. Er lehrt Musik, erzählt er mir, deswegen hat er ein Cello dabei, und er hat mit langen Haaren und Bart frappierende Ähnlichkeit mit dem Jesus in den Bibelcomics, die vor sehr vielen Jahren in meiner Schule auslagen. Ich dagegen erinnere keineswegs an einen der biblischen Engel oder auch nur an eine der geringeren Heiligen, ich wirke, wie man ab und zu in spiegelnden Schaufenstern sieht, irgendwie zerbeult und gerade heute ziemlich strapaziert und etwas fleckig.

Der Musiklehrer wohnt schon lange in Halle, erzählt er, deswegen kennt er sich hier aus. Er zeigt mir das Haus, in dem nach dem Krieg der russische Stadtkommandant gewohnt hat, und das Haus, in dem sein Großvater eine Ohrenarztpraxis hatte. Er zeigt mit den Händen, wie groß das Hallenser Urpferd war, er zählt mir alle fünf Türme von Halle auf, beschreibt die Orgeln der Stadt und pfeift ein Medley der besten Kompositionen Georg Friedrich Händels. Mir tun die Füße weh, ich bin schon den ganzen Tag unterwegs, die Woche war greulich, und ich schlafe dazu schon seit Tagen schlecht, weil Kind F. mir Nacht für Nacht ins Gesicht tritt. Über Musik lasse ich mir aber gern erzählen, auch wenn ich über Barockmusik kaum etwas weiß, und als wir vorm Händelhaus stehen, schaue ich auf die Uhr, verschiebe alle Einkäufe und komme mit. Instrumente gibt es hier, und dazu erzählt der Musiklehrer lustige Geschichten über das Musikmachen.

Als mein Handy brummt, der nächste Zug wäre auch zu spät, zucke ich die Schultern. Nein, sage ich. Ich will mich nicht bekochen lassen. Aber essen gehen möchte ich schon, und so sitze ich irgendwann in einem Hinterhof, trinke grünen Tee und esse Tomaten, erzähle das Beste aus meinem Leben, vor allem die Pannen und Pleiten, sofern sie lustig sind. Dann zahle ich und gehe. Und drehe mich nicht um.

Morgens nach Tegel

„Nach Tegel.“, schnalle ich mich an und gähne ein bisschen, denn es ist noch früh. „Hrrrr.“, macht der Taxifahrer, oder so ähnlich. Dann fährt er los.

Nach einigen Minuten ziehe ich mein Handy aus der Tasche. In dreißig Jahren wird mein Sohn F. die wesentlichen Funktionen meines iPhones fest ins Gehirn verschraubt haben und auf mich Urmensch lächelnd herabsehen, aber noch brauche ich dieses Gerät, um mit Menschen zu sprechen. Ich zücke also mein Telefon. In diesem Moment interveniert der Taxifahrer. „Hier nicht telefonieren. Hören schöne Musik.“ Aus den Boxen hinter mir dröhnen blechern billige Bässe. „Musik!“, schreit der Taxifahrer. „Musik!“

***

„Sie wollen bestimmt zu ihrem Liebsten.“, strahlt der Taxifahrer mich fröhlich an. Er sieht ein bisschen aus wie Danny de Vito auf deutsch. Oder Karlsson vom Dach. Gut gelaunt wirft er meinen Rollkoffer in seinen Kofferraum, und ich überlege ergebnislos, ob es überhaupt irgendwelche Frauen gibt, die in einem blauen Kostüm und mit einem Aktenkoffer morgens um halb sechs ihren Freund besuchen.

Ich besuche keineswegs meinen Liebsten, sondern lediglich ein Oberlandesgericht im Rheinland, deswegen jubele ich auch nicht zurück, sondern grunze nur eine Art Gruß, schwinge mich auf die Rückbank und starre in mein Telefon. „Grüßen Sie ihn von mir!“, trällert der Taxifahrer und küsst ein paarmal laut lachend in die Luft und spreizt dabei alle zehn Finger.

***

Es ist spät. Der J. und ich setzen uns ins Taxi. Ich bin fürchterlich müde. Zusammengekauert, nicht ganz unähnlich einer großen, aggressiven Kröte, sitzt der Fahrer hinterm Steuer.

Kaum habe ich mich angeschnallt, fährt er mit einem jähen Ruck los. Ich falle mit dem Kopf fast gegen den Fahrersitz, werde zurück in das Polster gedrückt und schaue den J. stumm an. Zwischen uns schläft unser Kind. Wenn ihm heute etwas passiert, wird es mir lebenslänglich leid tun, mit kleinen Kindern nicht einfach Jahr für Jahr nach Norderney zu fahren wie andere Leute auch. Dann immerhin geht es los. Auf einmal aber brüllt der Taxifahrer unvermittelt los: „Ich hasse Auto fahren in Berlin.“

Ich auch, denke ich. Ich auch.

M. und Moldavien

„Du hast ja den anderen geheiratet!“, schallt es in maximaler Lautstärke aus dem Hörer, und ich muss lachen. „M.!“, sage ich, und überlege, wie lange ich nicht mit ihm gesprochen habe. Es müssen einige Jahre sein.

In meiner Erinnerung sitzt er klein und breitbeinig mit viel zu kurzen Beinen auf seinem Küchentisch. Die Achtziger gehen zu Ende, deswegen ist hier ziemlich viel schwarz, Acrylglas, irgendwo bestimmt stilisierte Flamingos, und jede Menge gefrostetes Glas. Ich bin ungefähr 14, seit einer Woche mit seinem Sohn liiert, der mir in seinem Kinderzimmer bei Kirschtee und Kerzenschein Rilke vorliest.

M. würde niemals Rilke lesen. M. ist laut, M. hat überhaupt keinen Geschmack, er kann weder trinken, ohne zu schlürfen, er isst eigentlich alles mit dem Löffel, noch wird er sich jemals merken können, welche Werte seine Exfrau ihm eigentlich an die Wand gehängt hat. Ich bin mir bis heute sicher, M. fand die Bilder schlimm.

M. erzählt die unwahrscheinlichsten Geschichten der Welt, die sich in den nächsten 15 Jahren alle als wahr erweisen. M. hat mal Gudrun Ensslin geküsst und saß in einem afrikanischen Zwergstaat zwei Wochen im Gefängnis. Seine Narben stammen tatsächlich aus einem Krieg. M. hat keine Manieren, aber ziemlich viel Geld, zwei Ehen hinter sich und zwei Kinder, denen er ab und zu peinlich ist. Ich bin abwechselnd eine und die Freundin von M.s ältestem Sohn und tatsächlich immer ein bisschen verstimmt, wenn ich ihn besuche, und M. ist nicht da. Als wir uns für immer und endgültig trennen, tut es mir tatsächlich nicht nur um ihn, sondern auch um seinen Vater ein bisschen leid.

Heute ist M. 72. Zwei weitere Ehen liegen ihm hinter ihm. Nun aber, so versichert er mir, habe er die Frau seines restlichen Lebens gefunden. Sie sei 32, stamme aus einem Dorf in Moldavien, und sei absolut grandios. 1,82 groß, über einen Meter lange Beine, dazu klüger als alle seine Exfrauen zusammen, inklusive der Professorin, mit der aber auch nur ganz kurz … ich koche mir während der folgenden Ausführungen  Kaffee. Am Ende schält sich folgende Geschichte heraus:

Wo auch immer M. sie kennen gelernt hat, es muss außerhalb der EU gewesen sein, denn vor einer unbestimmten Anzahl von Jahren war seine neue Braut schon einmal in die EU eingereist, und zwar mit der Identität einer Freundin. „Aha.“, sage ich und betrachte etwas ratlos meine Fingernägel.

Über das Wieso und warum weiß M. leider auch nichts. Jetzt aber soll sie zu ihm kommen und bei ihm einziehen, ich und nicht einer seiner indiskreten Dorfanwälte soll ihm sagen, wie das geht, dann will er sie heiraten, nachdem sie einen Haufen Verträge unterschrieben haben werden, und mindestens – an dieser Stelle wird er für seine Verhältnisse ziemlich leise – die fünf Jahre bei ihm bleiben, die jemand verheiratet mit einem EU-Bürger zusammenleben muss, um ein eigenständiges Bleiberecht zu bekommen. Dann wird er 78 werden. Und sie ist vielleicht weg. Aber gelohnt, sagt er und wird wieder laut. Gelohnt haben wird es sich auf jeden Fall.

Und ich glaube, er hat recht.

 

 

 

An der Ampel

Stellen Sie sich also eine Ampel vor. Vielbefahrene Straße, hinten Plattenbauten, weiter vorn ein Park. In der Mitte fährt die Tram.

An die Ampel steht eine Frau. Also so eine ganz normale Frau, mittelalt und mittelschwer, eher so ein bisschen kurzgewachsen. In einem so schon  etwas egalen blauen Kostüm, sichtbar auf dem Arbeitsweg. Auf dem Kopf trägt sie Kopfhörer, also das internationale Zeichen für: Bitte keine Kommunikation.

Die Frau hat es eilig. Sie wissen das nicht, aber in zehn Minuten schließt die Kita, sie muss laufen. Ungeduldig hämmert die Frau auf dem Ampelknopf herum.

Was in den nächsten Sekunden passiert, weiß ich nicht genau. Fühlen Sie sich von dem technischen Unverstand der Frau herausgefordert? Glauben Sie, die Aufklärung über die Wirkungslosigkeit der Knopfbetätigung verbessere Ihr Leben oder zumindest das Leben der fremden Frau? Hat mein geschätzter Gefährte, der exemplarisch zurückhaltende J., recht, und es handelt sich um eine berlinerisch verkümmerte und ganz und gar nicht erfolgversprechende Form der zwischengeschlechtlichen Kontaktaufnahme? Wie auch immer: Sie treten also auf die Frau zu, räuspern sich und erklären ihr, dass es rein gar nichts brächte, dieses Malträtieren des Knopfes.

Die Frau reagiert irgendwie weniger dankbar als gedacht. Sie lassen sich aber gar nicht irritieren. Möglicherweise sind Sie sogar mit dem Fahrrad angehalten, um Ihre Erklärung loszuwerden, da fahren Sie doch nicht ohne Erläuterung einfach wieder los. Vermutlich sind Sie sogar etwas enttäuscht über die unfreundliche Frau. Sie reden also einfach weiter  bis die Ampel grün wird. Die garstige Frau läuft Ihnen dann nämlich einfach davon.

Frauen, seufzen Sie vermutlich in diesem Moment. Es gibt einfach keine Dankbarkeit mehr. Selbst wenn Sie wüssten, dass Sie im laufenden Jahr des Herrn 2017 der vierte waren, der der fremden Frau das Berliner Ampelwesen erklären wollte, würden Sie immer noch sehr schlecht über die undankbare Frau denken, aber die ist schon längst über alle Berge, spurtet durch den nahegelegenen Park und denkt sich vielleicht nur leicht genervt ihren Teil.

 

Oder auch nicht.

Ach was, sagt sie und wischt ein einen imaginären Fussel von ihrem weißen Jumpsuit. Von den schönen Punks sei sie ja total ab. Nicht einmal den G. würde sie noch treffen, obwohl der ja so quasi mehr ihre große Liebe, aber was soll man von jemandem schon halten, der sich in Norwegen verkriecht, nur weil er seine Frau mit seiner Nichte betrogen hat.

Hmm. Tja., sage ich, was ja eigentlich nie wirklich falsch ist, und trinke einen weiteren halben Liter sehr kalten Earl Grey mit zermatschten Kumquats. Sehr zufrieden sieht die liebe A. aus, wie sie in schneeweißer Seide auf einer Bierbank am Görlitzer Park sitzt und den Dealern Schönheitsnoten zwischen 1 und 10 gibt. Glaubt man der A., die eine kleine Vorliebe für etwas mesquine Herren pflegt, handelt es sich um eine Versammlung wirlich hübscher Leute, die den Vergleich mit keiner anderen Gruppe Berliner Männlichkeit scheuen müssten.

Die A. jedoch hat, so höre ich, auf ihre sozusagen mittelalten Tage nun doch zur konsequenten Einehe gefunden. Schade, schießt es mir durch den Kopf, denn zwar gönne ich dem über die Jahre doch etwas gebeutelten Gefährten der A. diese Phase der hart verdiente Ruhe, allerdings erzählen mir ansonsten inzwischen verdammt wenig Leute etwas über die leichtlebig-lustige Seite des Berliner Lebens, weil alle Welt nur noch über Immobilienpreise und ihren Beruf spricht. Dabei sind die meisten Berufe noch nicht einmal sonderlich unterhaltsam.

Die A. immerhin ist nach wie vor komplett berufslos, weil das Konzept nicht zu ihr passt. Ich habe nie herausgefunden, was sie tagsüber eigentlich genau macht, aber abends geht sie meistens aus. Manchmal begleitet sie ihr Mann, ein freundlicher Wirtschaftsprüfer, der die Oper liebt. Oder er hat berufliche Termine, und sie kommt mit. Manchmal ist ihr Mann unterwegs, und dann muss die A. allein sehen, wie sie es schafft, nicht an Langeweile zu sterben.

Ganz ab und zu kommt die A. dann ein wenig angetrunken nach Hause. Eigentlich mag die A. nicht so gern alkoholische Getränke, aber ganz gelegentlich sitzt sie dann doch daheim allein vorm Rechner. Unter ihr liegt der Winterfeldplatz, über ihr wölbt sich ein schwarzer, lichtloser Himmel, und wenn die A. dann so sitzt, wird sie, so sagt sie mir, doch ein wenig melancholisch.

Wenn die A. melancholisch wird, muss sie immer an den D. denken. Der war eigentlich nie so richtig ihr Freund, weil leider immer irgendetwas dazwischengekommen ist. Seine erste Freundin etwa. Oder ihr zweiter Freund. Und als sie beide wirlich einmal zeitgleich ineinander verliebt waren, war sie leider in Bordeaux für ein Auslandssemester und er in Marburg.

Heute wohnt er in Karlsruhe. Sie lebt in Berlin Schöneberg. Meistens sehen sie sich einmal im Jahr, nämlich kurz nach Weihnachten, und dann sind so viele Leute da, dass sie nie auch nur drei Sätze ungestört wechseln können. Außerdem hängen meistens seine ungezählten (ich glaube, es sind drei) Kinder an seinen Hosenbeinen, das stört natürlich auch.

An sich ruft die A. ihn nie an. Sie schreibt ihm auch nie, denn was soll das bringen. Nur, wenn sie melancholisch ist, legt sie sich aufs Sofa und schreibt ihm eine E-Mail. Dass man sich mal wieder. Und dass es doch. Und überhaupt. Die schickt sie dann ab.

Ein- oder zweimal hat sie am nächsten Tag Mails hinterhergeschickt, dass sie betrunken nicht ernst zu nehmen sei. In seinem Fall ist ihr das auch nicht peinlich. Denn zwei- oder dreimal im Jahr bekommt sie Mails von ihm, in denen steht, dass sie. Und nur sie. Und ganz und gar. Und: schade.

Die A. und der D. haben sich auf diese Mails noch nie geantwortet. Aber irgendwann, dafür spricht schon das Gesetz der Wahrscheinlichkeit, werden sie mal zeitgleich betrunken und melancholisch vorm Rechner sitzen, und dann. Ja dann. Oder auch nicht.

 

Bei Nacht

Wie ein Gemisch aus Lehm und stumpfen Steinen schlägt der Regen hart auf die Dächer. Das ist kein leichter, lauer Sommerregen, das ist noch nicht einmal der warme Monsun in den Straßen Bangkoks, wo ich vor fast 15 Jahren im weissen Kleid vor dem Seven Eleven in der Sathorn Soi 16 stand, dampfend durchnässt bis auf die Knochen, lachend mit einer Flasche Bier in der Hand.

Der Boden ist von den Niederschlägen der letzten Tage schon so durchtränkt, dass die trübe, braune Brühe auf der Straße steht wie ein schmieriger Strom aus Schlamm. Es ist kurz nach drei. Dunkel sind die Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Nutzlos, sich selbst genug, beleuchten nur die Schaufensterlampen Schmuck, Möbel und Kleider.

Als ich klein war, erzählte meine Mutter mir, dass bei Nacht die Dinge zu einem eigenen Leben erwachen, aber so lange ich auch am Fenster bleibe: Schlaff hängen die Ketten des Juweliers vom Regal, und die Beine der Betten des Tischlers zucken nicht einmal ein winziges bisschen.

Kalt ist es, als ich schließlich in der Loggia stehe, einen Trenchcoat über dem Nachthemd und mit nackten Füßen. Schon entfärbt sich die Nacht, der Himmel wird bleich wie ein Fischbauch und ich lege mich wieder ins Bett und male mir warme, goldleuchtende Nächte aus, raschelnde Kleider, Haut, Wodka aus eiskalt beschlagenen Gläsern und Lampions in den Bäumen.

Geld

Erschreckt sehen wir uns an. Das – sehr empfehlenswerte – Ryokan nimmt keine Karten. Unter vielfältigen Entschuldigen und Erklärungen, die wir alle nicht verstehen, reicht man uns die Karte zurück. Wir müssten, so erscheint es auf dem Display des Handys, das man uns entgegenhält, im nahegelegenen Ort Geld holen und zurückkommen.

Kein Beinbruch, versichern wir uns. Man ruft uns ein Taxi, wir steigen in dasselbe, lassen uns zwischen Reisfeldern und kleinen Holzhäusern zehn Minuten in die nächste Kleinstadt fahren und steuern einen Supermarkt an. Da gibt es meistens Geldautomaten.

Leider kann auch der Fahrer kein Englisch. Eigentlich kann in dem Ort überhaupt niemand englisch, das stört aber niemanden. Alle haben Handys, in die sprechen sie und lassen dann Google Translator übersetzen. Das funktioniert ganz gut. Auch der nette, ältere Taxifahrer versteht nicht sofort, aber so nach und nach, was wir wollen.

Vorm Supermarkt sind wir noch ganz optimistisch. Leider kommt der J. nach zwei Minuten zurück. Anderer ATM. Dieser nimmt nur japanische Karten. Der Taxifahrer fährt also weiter. Auch der nächste ATM funktioniert jedoch nicht mit VISA. Und der übernächste auch nicht. Wir diskutieren, ob vielleicht Paypal funktioniert, ob man überweisen kann, wie wir das verständlich machen, wenn wir uns so schon kaum verständlich machen können, und dann beschließen wir, dass wir jetzt einfach zum Hotel zurückfahren und den besten Weg irgendwie mit denen klären. Mit starker Betonung auf irgendwie.

„Halt!“, rufe ich nach ein paar Kilometern. Eine Post. Postunternehmen liegt so eine gewisse Internationalität im Blut, die wissen bestimmt was, und ganz richtig klebt an den beiden Geldautomaten im Vorraum ein Schild. Visa. Gottseidank, lobe ich meinen Schöpfer und schiebe meine Karte in den Schlitz, der sie laut schnalzend verschlingt.

Leider gibt es für meine Karte auch hier keinen Service. Ich fluche. Vielleicht komme ich für die Flüche des heutigen Vormittags eines Tages in die Hölle. Weil auf der mir zuletzt gezeigten Seite steht, man solle mal fragen, gehe ich, als ich fertig geflucht habe, rein. Natürlich kann auch hier niemand englisch, in diesem ganzen Ort kann niemand englisch, wozu auch, aber schließlich kommt doch jemand mit mir vor die Tür, schiebt feierlich meine Karte in den Schlitz und es passiert| nichts. Mit beiden Händen und einem freundlichen Lächeln wird mir meine Karte wieder überreicht.

Inzwischen stehen auch der J. und der F. neben mir. Wir schieben nun hintereinander alle Karten, die wir überhaupt haben, in den verdammten Automaten. Höflich steht der Postangestellte neben uns und erklärt etwas, was wir auch nicht verstehen. Die Situation ist insgesamt schon eher so mittel.

Irgendwann aber stöhnt der J. erleichtert auf. Kreditkarten verweigert die höllische Maschine nach wie vor. Aber er erkennt – an dieser Stelle ertöne ein Tusch – VPay.

(Ja. So habe ich auch geguckt.)

Das Abhebungslimit von VPay zwingt uns zwar, gleich alle unsere ec-Karten hintereinander in den Automaten zu stecken. Aber immerhin: Erleichtert sitzen wir zehn Minuten später im Taxi. Irgendetwas sagt mir, dass der Taxifahrer sich über uns Anfänger herzlich amüsiert, während er uns wieder zum Hotel fährt, wo wir unser Gepäck einladen, bar bezahlen, und dann zum Bahnhof fahren, wo der Taxifahrer uns fröhlich winkend entlässt.

Der Welt abhanden gekommen

Damals zum Beispiel. 1994, eine Kleinstadt in Italien. Ich im Doppelstockbett, neben mir die N., die trockene, riesige Semmel zum Frühstück, Aprikosenmarmelade und Kaffee. Eine Woche lang zuhören, dass die N. den F. liebt und deswegen den D. nicht lieben kann, und dann ist die N. doch mit dem D. zusammen, dessen Tante irgendwo am Meer eine Villa hat, und fährt mit ihm dorthin. Ich könnte auch mitkommen, bin aber nach einer Woche Verständnis für die immergleichen Klagen der N. dermaßen müde, mir die erwartbaren weiteren Klagen anzuhören, dass ich meine Sachen packe und verschwinde. Da stehe ich nun am Bahnhof und weiß nicht weiter.

25 Jahre später würde ich aufs Handy schauen und wüsste, wohin. Vermutlich hätte auch die N. mich schon dreimal angerufen und ich wäre zurückgekommen. So aber fahre ich erst ans Meer, treffe zwei Mädchen aus Marburg, die ich von einer Party flüchtig kenne, fahre mit denen nach Rom, treffe dort – er ist seit Wochen da – immer noch den J.2 und fahre weiter mit ihm nach Süden. Weil wir nur zu Lesen haben, was wir haben, liest mir der J.2 aus seinem Xenophon vor und rezitiert Gedichte. Er liebt die Expressionisten, damals, und der schnelle Puls der „Menschheitsdämmerung“ mischt sich mit dem ratternden Zug und dem Film aus Schweiß und Staub auf meiner Haut. Wo wir ausgestiegen sind, habe ich vergessen. Es war ein kleines Dorf, weitab vom Meer, inmitten von Wäldern. Eine Abtei gab es, wo die Mönche sehr schön sangen.

Ob der verwilderte Aprikosenhain am Rande des Dorfes hinter der ausgebrannten Ruine eines Hauses noch steht? Die überreifen, im hohen Gras gärenden Früchte, umsummt von den Wespen. Zwischen den Bäumen das weiche, leicht faulig riechende Moos. Meine zerstochenen Beine. Die schwefelgelben Flechten auf der Schattenseite der Mauern. Die alte Frau im Laden neben der Kirche, die keine Sprache sprach außer Italienisch, und wie überrascht wir waren, dass sie unser Latein irgendwie verstand. Vielleicht tat sie auch nur so. Die sauren, länglichen Tomaten und der stumpfe Ricotta, der Gottesdienst am Sonntagmorgen, und wie selbstverständlich es uns erschien, in diesem Nest komplett aus der Welt gefallen zu sein, unerreichbar für jeden,  auf eine Art, die es jetzt nicht mehr gibt, wie weit wir auch fahren.