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Nichts als Gold

Der frühe Morgen ist schrecklich. Es ist dunkel und nass. Ich röchele wie ein schrecklich verschleimtes Nilpferd, der J. jammert, er sei eigentlich krank, und der F. schläft unbeirrt weiter. Wenn das nicht jeden Tag so wäre, ich verfiele stracks in Panik und würde Notärzte rufen, weil ich fürchten würde, er stirbt. Er ist aber nur müde, weil er abends bis zehn durch die Wohnung stromert, Rosinenbrot isst und singt.

Der nicht mehr so ganz frühe Morgen ist hektisch. Der Zeiger der Küchenuhr rückt doppelt, ach: dreimal so schnell wie sonst vor. Der F. sitzt sehr lange auf der Toilette, meine Haarspülung ist alle, das Brot hart, und der Käse schimmelt. Außerdem haben wir in der Kita diese Woche Obstdienst, und der J. hustet, als müsste ich noch vor dem Frühstück die Lunge des geschätzten Gefährten in mehreren hundert Einzelteilen im Badezimmer zusammenkehren. Wenn ich zufällig an Spiegeln vorbeischaue, sehe ich eine hochrote und auch sonst etwas strapaziert wirkende Person durch die Wohnung eilen.

Auf dem Weg wird es dann langsam besser. F. saust auf dem Laufrad auf dem Bürgersteig entlang zur Kita. Die Brotdose ist voll, Bananen, Trauben, Physalis und Nüsse eilig zusammengekauft, und als ich mich winkend verabschiede, bleibt die Welt zitternd stehen und fängt dann ganz, ganz gemächlich wieder an, sich zu drehen.

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An der Ecke stehen zwei Frauen und unterhalten sich. Ein älterer Mann erzählt seinem Hund eine lange Geschichte. Ein Jogger bellt ins Telefon. Eine junge Frau lächelt in ihren Kinderwagen, und auf das müde Gras fällt all das Gold des Jahres.

Beule

Der körperliche Höhepunkt, das ist sozusagen erwiesen, ist mit ungefähr 19 erreicht, und ab dann geht es bergab. Ich bin von meiner persönlichen Bestform also inzwischen 21 Jahre entfernt, und vor allem morgens sehe ich auch so aus. Außerdem ist inzwischen immer irgendetwas. Vor allem meine Augen. Minus elf, minus sieben – ich bin hochoffiziell blind, höre dazu ja auch schlecht, und dazu bin ich auch noch deutlich zu schwer. Tiefpunkt meiner physischen Existenz ist aber ganz eindeutig mein Gebiss.

Ich will an dieser Stelle nicht von meinen Wurzelbehandlungen sprechen. Auch der Wurzelspitzenresektion und der russisch-kalifornischen Zahnextraktion soll hier nicht gedacht werden. Eigentlich habe ich mich auch an dieses ständige Missbehagen auf der rechten Seite meines Kiefers gewöhnt, weil die Angst vorm Zahnarzt bisher jedenfalls meistens größer war als das miese Gefühl im Mund.

Eines Tages – es ist einige Wochen her – wache ich also morgens auf und bin schief. Also nicht so metaphorisch, sondern richtig. Konkret wölbt sich meine rechte Gesichtshälfte unterhalb des Kiefers, nicht ganz unähnlich einem Insektenstich, nur ganz eindeutig ohne Einstich ungefähr so, als hätte ich mir ein Taubenei direkt unter die Haut implantieren lassen. Ich also gekühlt, beklopft, gegooglet und Freunden und Familie etwas vorgejammert. Dann leicht beklommen eine Woche gewartet. Die Schwellung blieb und entstellte mich, wie ich fand, nicht ganz wenig. Ich ließ mir also Antibiotika verschreiben, denn die wirken meistens, wenn man nicht weiß, was es ist, und wartete dann noch zehn Tage ab. Nichts. Die Schwellung rührt, so viel ist klar, vom Lymphknoten her, aber die Ursache ist und bleibt, so säuseln die Ärzte, letztlich unbekannt.

Als ich fürchtete, michnie wieder fotografieren lassen zu können und nur noch im Dunkeln vor die Tür zu gehen, ging ich zum Arzt. Zum Zahnarzt diesmal. Meine Zahnärztin wiegte den Kopf. Vermutlich sind die meisten Zähne, die ich habe, irgendwie schadhaft, da fällt die Auswahl schwer. Am Ende flickte sie einen, schickte mich wegen eines anderen zum Chirurgen, der ihn dann rausriss, und bestellte mich schließlich für nach dem Urlaub. Ich also zum Chirurgen, aber die Schwellung ging nicht weg. Ich bin nach wie vor irgendwie ausgebeult.

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Nach dem Urlaub saß ich wieder auf dem bösen Stuhl. Die Ärztin wisperte beruhigende Worte, damit ich aufhöre, so fürchterlich zu schwitzen. Wenn Hunde in der Nähe wären, würden die alle entweder weglaufen oder sofort zubeißen, weil man überhaupt nicht mehr nach Angst riechen kann als ich in diesem Moment. Dann fing die Ärztin wieder an, in meinem Hund herumzufuhrwerken, die Geräusche waren recht schrecklich, und irgendwann tauchte sie aus meiner Mundhöhle wieder auf. Einige Stunden später war das Missbehagen komplett verschwunden.

Nicht verschwunden ist jedoch der dicke Lymphknoten. Jeden Morgen und jeden Abend stehe ich im Badezimmer vor dem Spiegelschrank und betaste die Schwellung. Ich glaube, es wird weniger. Ich bin mir aber nicht sicher. Ich vermute, dass fremde Leute mich inzwischen für leicht meschugge halten, weil ich ständig an meinem Kiefer knete, aber ich kann nicht anders. Ich habe, das ist Wahrheit, sogar schon gegooglet: „Lymphknoten abschwellen Tabletten“ und „Kosmetische Lymphknotenextraktion Kasse“, und wenn sich bis nächste Woche nichts tut, wird einer der Mitarbeiter des Debeka-Leistungszentrums Zeuge eines sehr merkwürdigen Anrufs.

Ausgerechnet Bananen

Meine Damen und Herren, ich habe ein Geständnis abzulegen. Anders als so gut wie jeder billig und gerecht Denkende, als der Löwenanteil der Zeitungsleser, Parkspaziergänger und Elternkindcafébesucher glaube ich nicht – hier denken Sie sich einen Trommelwirbel samt Tusch – an die Frühförderung kleiner Kinder. Also eigentlich aller Kinder vor dem Grundschulalter.

Vielleicht handelt es sich bei dieser Ansicht lediglich um eine Rationalisierung meiner Bequemlichkeit, um auch künftig mit gutem Gewissen auf dem Sofa zu sitzen, während andere Mütter mit ihrem Nachwuchs auf englisch turnen und mit eigens für die Förderung von Kleinkindern verfertigten Büchern und Kunststoffkästen deren Zahlenverständnis pauken. Vielleicht macht mir in nur wenigen Jahren der F. bittere Vorwürfe, weil alle anderen Erstklässler alles Mögliche können, was der F. nicht beherrscht, aber tatsächlich hat mir des F. Entwicklung bis heute eigentlich bestätigt, dass Kinder sich sowieso nichts merken und nichts lernen, es sei denn, sie streben nach dieser Fertigkeit von selbst. Konsequenterweise besucht der F. einfach die nächstgelegene Kita.

Heute nachmittag allerdings bin ich in Hinblick auf die Bildbarkeit Dreijähriger dann doch etwas schwankend geworden.

Dazu muss man wissen, dass der F. nach einer langen praktisch omniphagen Phase in den letzten Monaten etwas wählerisch geworden war. Nudeln ja, aber ohne Soße. Sushi ja, aber nur mit Lachs. Oliven ja, aber niemals Tomaten. Gurken ja, aber nur mit Schale. Äpfel ab und zu, Bananen niemals. Ab und zu Weintrauben und Orangen. Anderes Obst: Fehlanzeige.

Mir ist das tatsächlich ziemlich egal. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Kind Mangelerscheinungen zeigt, nur weil es nur noch drei bis vier Obst-und Gemüsesorten isst. Mein Gott, Äonen der Menschheitsgeschichte haben Menschen weniger Gemüsesorten gekannt und gegessen als heute. Im Norddeutschland der Steinzeit gab es schließlich auch Menschen, und selbst die Tundra ist nicht menschenleer. In der Kita allerdings muss des F. Verweigerungshaltung auf weniger Verständnis getroffen sein, denn am vergangenen Mittwoch Abend verlangte der F. auf einmal nicht nur nach Reis und Wurst, sondern auch nach meinem Linsencurry mit ordentlich Garam Masala und viel Koriander und erklärte: „Linsen machen sehr stark.“ Ich schaute auf. Der F. strahlte sein Linsencurry an. Spinat mache noch stärker, erklärte er. Dann aß er das Curry auf. „Hat deine Erzieherin dir das erzählt?“, fragte ich nach, und der F. nickte kauend und siegesgewiss.

ich unterdrückte den Impuls, dem F. zu erläutern, die gesundheitliche Wirkung des Spinats beruhe auf einem Messfehler und ließ ihn essen. Am nächsten Tag verlangte er nach einer Birne und aß mehrere rohe Möhren hintereinander auf. Freitag verzehrte er eine halbe Gurke, und am Samstag aß der F. einen ganzen Teller Mangold-Sellerie-Cremesuppe mit Croutons und knusperte nicht nur die Croutons. „Jetzt bin ich sehr stark!“, fuchtelte er mit dem Löffel und erklärte, er halte in seinem Zimmer einen Drachen, der sehr gefährlich sei, aber sich vor dem F. fürchte. „Kein Wunder – du bist ja so stark.“, versicherte ich ihm, und der F. strahlte über beide runde, rote Backen.

Am Sonntagnachmittag dann liefen wir von der Tram nach Hause. „Mir ist kalt.“, nörgelte der F., und das war vermutlich wahr. Es ist nämlich deutlich kühler, als man so denkt, wenn man aus dem Fenster schaut. „Ich werde bestimmt erkältet.“, drohte der F. mit dem schlimmsten aller Übel sozusagen, aber dann kam ihm der rettende Gedanke. Er wolle, verlangte er, jetzt auf der Stelle eine Banane.

Ich glaubte nicht recht an den neu erwachten Bananenhunger des F. Man lehnt doch nicht ein ganzes, halbes Jahr den Bananenverzehr als „eklig“ ab, und beißt dann in die nächste Banane, weil eine Erzieherin gesagt hat, dieses Obst sei besonders gesund. Entweder mag man Bananen oder nicht. Aber gut, gute Vorsätze soll man fördern: Ich spazierte also in den knallvollen LEKR-Markt, der auch am Sonntag einfach alles verkauft und erstand drei Pfund Bananen. Ich würde, nahm ich mir vor, des abends ein Bananenbrot backen.

Nun aber sitze ich hier. Es gibt kein Bananenbrot. Es gibt aber auch keine Bananen mehr, denn kaum war ich zuhause und hatte die Bananen abgeladen, riss der F. die erste Banane auf und biss herzhaft in die gelbe Südfrucht. Dann ging ich spazieren. Als ich wiederkam, saß der J. auf dem Sofa und spielte Gitarre, der F. stand mampfend in der Küche, und auf dem Mülleimer lagen die Schalen von fünf Bananen.

Sonntag, 4. Oktober 2015

Hey, denke ich und schneide mir ein weiteres, allerletztes Stück Torte ab: Ich habe euch so gern.

Voll liegt der Boden mit Geschenkpapier und Spielzeug, wenn man nicht aufpasst, tritt man auf ein Kind, aber ich rede und lache und esse Kuchen, bis es ruhiger und ruhiger wird und ich mit SvenK und seiner Frau und dem J. allein am Küchentisch sitze inmitten von Essenszeiten, umflossen von der Abendsonne und ganz bei mir.

Samstag, 3. Oktober 2015

„Meine Eltern gehen in die Komische Oper Berlin. Aber ich darf nicht mit. Dabei sind da auch Kinder.“, beschwert sich der F. telefonisch bei meiner Mutter, während ich in meinem Schrank nach einem Kleid wühle, das halbwegs lässig aussieht, weil in einer Berliner Oper ein Abendkleid mit Schmuck vermutlich noch verrückter als nackt wirken würde.

Als wir im Taxi sitzen, weil der Bus nicht kommt, bin ich schon reichlich aufgekratzt und bester Stimmung. Der J. allerdings jammert, das sei ihm alles zuviel, und auf unseren Plätzen schweigt er mich anklagend an, als er hört, dass „Ball im Savoy“ über drei Stunden dauert.

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Dann aber geht es los. Ich lächele und lache, ich fange fast an, mit den Fingern zu schnipsen, ich freue mich über Dagmar Manzel und Helmut Baumann, und auch der J. lockert sich zusehends auf. Am Ende dann, als der Applaus verebbt, schlendern wir durch die noch immer warme Luft, und durch das gelbliche Licht der Laternen Unter den Linden ziehen wir Richtung Norden, erzählen uns gegenseitig ganz alte und sehr neue Geschichten, und gehen früh zu Bett. Irgendwo in dieser Stadt schreit die Nacht nach Rausch und Fleisch und Flitter, aber ich schlafe und träume nur von den langsam fallenden Blättern.

Freitag, 2. Oktober

„Oh, nein!“, entfährt es mir. Morgen ist also nicht nur ein verschwendeter, weil ohnehin freier Feiertag. Morgen haben auch alle Geschäfte zu. Nicht unähnlich einem begossenen Pudel stehe ich vor der Bäckerei Zessin und frage mich, wann ich jetzt eigentlich was einkaufen soll. Ich habe Besuch am Sonntag, und es wird nicht einfach, die erforderlichen Reste einzuholen, wenn Morgen auf einmal so gar nichts geht.

„25 Jahre deutsche Einheit!“, zwinkert mir ein Kollege im Büro zu, dem ich meine Komplettamnesie berichte, und ich zucke mit den Schultern. Als die Mauer fiel, war ich 14, aber die Erinnerungen sind spärlich, blass, gleichgültiger als die Schul- und Sportfeste, Parties und Ausflüge, an die ich mich aus jenem Jahr erinnere. Vielleicht war ich damals zu beschäftigt mit mir selbst. Vielleicht war es mir auch schlicht nicht wichtig. Ganz bestimmt hätte ich nie damit gerechnet, einmal in Ostberlin zu wohnen, seit – warten Sie – nun auch schon wieder über 15 Jahren.

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Sonntag, 27. September

Wer Berlins Mütter sehen will, geht zu den Kinderkonzerten der Komischen Oper. Sicher, auch die Staatsoper, die Philharmonie, die Deutsche Oper weit im Westen haben Konzerte für Kinder. Die volkstümlichste der Berliner Opern in der Behrensstraße aber zieht sie alle an: Die tätowierte Mutter mit den Rastalocken und dem Kind mit dem Totenkopfshirt. Die Prenzlmutter im roten Wollkleid mit einem Riesenfliegenpilz drauf, die Mutter im grauen Armanikleid mit sehr schönen, rauchig-gelben Cabochons in den Ohren, eine ganz dicke Mutter mit Mallorca-T-Shirt, und der ganze Boden ist voller tobender, jubelnder, rennender Kinder.

Zwischen den anderen Kindern tappt auch der F. an meiner Hand zu seinem Platz. Wir sind nicht zum ersten Mal hier, aber zum ersten Mal in dieser Spielzeit. Der F. ist ein bißchen aufgeregt, weil er das Orchester liebt, vor allem das große Cello, weil er sich auf die Puppenspielerin freut, die im letzten Jahr eine große Puppe über die Bühne gezogen hat, und weil dem F. Musik immer so in die Glieder fährt, dass er unbedingt tanzen und sich rotglühend begeistern muss. „Wann geht es denn endlich los?“, mosert er bis um elf, und dann erscheinen endlich Musiker, die Puppenspielerin hat diese Spielzeit eine Riesenkatze, die dem F. noch besser gefällt als die Puppe vom letzten Jahr, und auch wenn ein bißchen viel gesprochen wird, und zu wenig musiziert, hat der F. jede Menge Anlass zu Applaus und Jubel für ein bißchen Haydn, ein bißchen Händel, ein bißchen Mozart, bis wir wieder auf der Straße stehen, und der F. den ganzen Weg nach Hause die Linden entlang lauthals singt und klatscht und hopst.

 

Samstag, 26. September

Urlaub mit Kindern

Irgendwo habe ich gelesen, die frühe Neuzeit habe Kinder als Ungeheuer angesehen, reiner, böser Trieb. Erst seit Rousseau glauben alle, Kinder seien eigentlich nett, und nur die Gesellschaft verderbe den Charakter. Wie sich dieser Glaube zwei Jahrhunderte gehalten hat, ist mir zumindest allerdings schleierhaft. Nach drei Jahren des Lebens mit Kind und zwei Wochen mit vier von der Sorte weiß ich: Löwenbändiger nichts dagegen. Als Sklavin der Natur kann ich aber inzwischen damit leben, auch im Urlaub nicht länger als bis 8.30 zu schlafen, und vor zehn Uhr abends keine Unterhaltung von mehr als drei Sätzen am Stück zu führen. Weil ich mit den Familien H. und B. aber seit mehr als zehn Jahren befreundet bin, ist das nicht so schlimm. Wir sprechen weiter, wenn die Kinder nicht mehr ununterbrochen mit uns sprechen. In vier bis fünf Jahren oder so. In diesem Urlaub haben wir, glaube ich, im Wesentlichen spätabends miteinander gesprochen oder beim Wandern. Ich war allerdings nur einen Tag wandern, und auf einer weiteren Miniaturwanderung waren zwei der Kinder mit.

Urlaub in Le Thoronet

Zum Wandern und Anschauen ist die Provence ganz schön. Kulinarisch auch alles sehr toll, aber da liegt man in Frankreich ja selten ganz daneben.

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Mit den Kindern wäre allerdings ein etwas küstennäherer Ort besser, außerdem kann man in Le Thoronet nicht einmal zum Bäcker ohne Auto. Warum wir trotzdem exakt da gelandet sind? Finden Sie einmal ein Haus mit eingezäuntem Pool und ausreichend Schlafzimmern und Bädern und einem Rasen zum Spielen zu einem Preis, den sich auch Berliner Juristen und nicht nur Londoner Investmentbanker leisten können. Le Thoronet also. Sobald die Kinder alle schwimmen können und es auch ein nicht eingezäunter Pool tut, pirschen wir uns wieder an die Küste heran.

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Neue Erkenntnis: Ich bin streng

Mit dem Selbstbild ist das ja so eine Sache. Ich halte mich eigentlich für eine ziemlich wurschtige, halbwegs lässige Mutter, liberal aus Zeitmangel mit eher etwas unterentwickelten Ansätzen zu einer traditionell-bürgerlichen Erziehung. Offenbar stimmt das aber nicht, und die M. hat es mir sogar explizit bestätigt: Ich bin konservativ. Und ich bin streng. Ich bestehe darauf, dass mein Sohn während langer Mahlzeiten am Tisch sitzen bleibt. Ich korrigiere den Umgang mit Besteck. Ich finde, dass Kinder aufstehen sollten, um Erwachsene zu begrüßen, und wenn wir im Auto sitzen, bestimmen die Erwachsenen die Musik.

Ich weiß noch nicht, wie ich das finde. Aber ich muss wohl damit leben, und mein Sohn auch.

Alte Erkenntnis: Ich habe Höhenangst

Letztes Jahr also. Da waren wir in Sainte Maxime. An einem Tag fuhren der J. und ich mit dem Auto die Gorges du Verdon entlang. Ich starrte in die Schlucht, die Schlucht starrte zurück, und ich beschloss, zurückzukehren. Zu Fuß.

Überraschender Weise – zumindest für mich – liegt der Wanderweg durch die Schlucht leider nicht ganz unten. Er schlängelt sich vielmehr auf ungefähr halber Höhe die Schluchtwand entlang, und neben einem klafft also 22 Kilometer lang ein mehrere hundert Meter tiefer Abhang und fletscht, wenn man versehentlich mal hinschaut, mit den Zähnen.

Es war eine schöne Strecke, es sah auch toll aus. Aber ich habe nicht sehr viel davon gehabt.

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Sehr tolles Essen

Es ist ein paar Wochen her, da sprachen wir zu sechst darüber, ob wir im Urlaub eigentlich ab- oder zunehmen. Ich glaube, ich bin die einzige, die zunimmt. Ich esse nämlich für mein Leben gern, und zwar ausschließlich ziemlich fettes Zeug. In Frankreich: Törtchen, Fleisch, Muscheln, Fisch, ach: Eigentlich alles. Ich liebe es auch, üppig einzukaufen und dann stundenlang zu kochen.

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Das beste Essen gab es aber auch diesmal wieder außer Haus: Am vorletzten Abend fuhren wir zu viert – die Kinder blieben beim dritten Paar – zu Chez Bruno und aßen Trüffel.

Ich habe niemals mehr Trüffel gegessen oder leckerere Trüffel, und es wird nach menschlichem Ermessen Jahre dauern, bis ich irgendwo Trüffel esse, die diesem Trüffelerlebnis auch nur halbwegs nahe kommen. Aber angefangen bei dem ersten Trüffeltoast, gefolgt von einer sagenhaften Kartoffel mit Sommer- und Albatrüffeln, einer unsagbar tollen dunkelroten Taube mit Foie Gras und Trüffeln, einem fabulösen, vanilligen, angesichts unserer Begeisterung freundlicherweise gleich doppelt gereichten Trüffeleis und einem Pfirsich Melba war jeder Gang perfekt, der Service herzlich, der Wein gut, und wenn ich jemals wieder in diese Ecke Frankreichs komme: Ich komme wieder.

Ganz alte Erkenntnis: Freunde sind toll

Mit Familie H. fuhren wir ja schon weg, als wir alle noch nicht einmal richtige Berufe hatten. Wir waren in Stockholm, in Venedig, in der Toskana, wir waren an der Ostsee, und obwohl wir eigentlich kaum gemeinsame Urlaubsinteressen haben, weil der J. und ich weder campen noch wandern, und Familie H. weder kocht noch teure Restaurants bevölkert, läuft das immer gut. Mit Familie B. waren wir noch nie verreist, auch wenn wir uns auch schon seit 13 Jahren kennen, aber auch mit Familie B. würde ich morgen wieder wegfahren. R. und I. und M. und M.: Ihr seid nämlich super.

Samstag, 12. September

Um neun kommt das Taxi, jetzt aber bitte schnell, nein, nur die beiden Koffer, Gate sieben, und dann noch einen letzten Kaffee und zwei Stunden eingeklemmt in Reihe sieben. Es ist nicht einmal für mich genug Platz, und ich verfluche die Lufthansa für die Ausgründung von germanwings, und germanwings für seine Fürchterlichkeit an sich. Neben mir sitzt der F. und starrt mit runden Augen aus dem Fenster, und kurz fällt mir ein, dass er keine Ahnung hat, wie Fliegen einmal aussah, als auch europäische Staaten sich noch Luftverkehrslinien leisteten, weil das einfach dazugehörte, egal, ob man damit Geld verdienen konnte oder nicht.

In Nizza stehen wir zu zehnt um einen gewaltigen Gepäckberg herum. We, gehört eigentlich dieses ganze Zeug? Was ist da drin? Und wie bekommen wir das erst zu Terminal 2 und dann in unseren Wagen?

imageNachmittags um drei ist dann doch alles gut. Wir laufen durch das Haus, das genauso aussieht, wie ein provenzalisches Landhaus aussehen soll, starren von der Veranda weit ins Land bis zu sehr blauen Bergen am Horizont, und aus dem Laub an der Veranda ernte ich einen Teller blauer Trauben, sehr süß und prall und ganz schwarzviolett.

Samstag, 29. August

Kilometer entfernt brummt eine Fähre von Falster nach Møn. Es ist so still, man hört die Bienen summen, ein paar Vögel rascheln im Laub, und ich höre den F. im Sand leise mit ein paar Steinen sprechen. Es muss schön sein, denke ich, wenn die ganze Welt belebt ist, in den Birken eine leichte, neckische Fee flirrt, die Meere bewohnt sind von weinenden Meerjungfrauen mit wogenden, grünen Haaren und unter der Erde Riesen Felsen wälzen, um Schätze zu verstecken. .

Wann das eigentlich aufhört, frage ich mich und versuche mich zu erinnern. Wann die Erde aufhört, zu atmen, wann die Büsche nur noch grün und die Tiere nur noch Fleisch auf Beinen sind, und für einen Moment will ich mich vor den F. werfen und alle Entzauberung der Welt von ihm abhalten mit einem schlanken Stab aus Weide, einem silbernen Glöckchen und einem Spruch, den ich leider nicht weiß.

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