Allgemein

Gelesen

Ich habe mir Reisebücher gekauft. Ein klassische Ersatzhandlung eigentlich: Ich würde so gern wieder reisen. Also so richtig reisen, so mit einer kleinen Tasche am Arm, einem Ticket und einer Kreditkarte, Sonnenbrille nicht vergessen, und dann einfach los. Ein Bahnhofshotel in Bukarest und dann mit irgendwelchen dahergewehten Passanten auf den nächsten Markt, sich zeigen lassen, wo man hier die beste Suppe isst. Sich überreden lassen, immer weiter nach Osten zu fahren, mit Zügen am besten. Kartenspielen mit Fremden in einem heißen, abgeschabten Abteil. Auf einem leergefegten Flughafen in Asien stranden, nachts mit den Taxifahrern diskutieren, und dann am Morgen übernächtigt, überwältigt an einem fremdem Hafen sitzen und in die Sonne blinzeln. Nicht wissen, wo man morgen Abend die Auge schließt. Statt dessen nun: Ein Ferienhaus, ein Mietwagen und acht Tage mit den Schwiegereltern, die wegen ihrer eher eingeschränkten Kommunikationsprozesse – mein Schwiegervater kennt nur zwei Gesprächsthemen – vermutlich nicht einmal den Turing-Test bestünden. Nun ja.

Zu Fuß

Schon vor dem eigenen Urlaub gereist mit Patrick Leigh Fermor. Sie wissen schon. Der Mann, der 1933 als entlaufener Schuljunge von von England aus nach Europa reist, um zu Fuß bis nach Konstantinopel zu laufen. Eine unglaubliche Reise, ein Füllhorn von Begegnungen, kreuz und quer über den Kontinent, um mit dem Adel Ungarns zu tanzen, mit Pferdeknechten Bier zu trinken, und so gestochen scharf und farbig einen letzten Blick auf dieses alte Europa zu werfen, bevor es unterging: Zerrissen, zerbomt und geteilt. Zwei Teile begründeten – nein: vertieften – den Ruhm Leigh Fermors. Der dritte, der letzte Teil der Reise, ist nun posthum erschienen, und mit leisem Bedauern versteht man, wieso der Autor selbst die vielen bunten Flicken nicht mehr zusammenzufügen vermochte. Es war am Ende auch alles schon allzu lang her. Für ein paar Abende ohne Bedauern aber reicht es, und lohnt sich nicht zuletzt für die paar goldenen Adern im Schiefer der verfallenden Zeit. Mir hat es – bei allen Schwächen – gefallen.

(Patrick Leigh Fermor, Die unterbrochene Reise, Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié)

Auf hohem Ross

Keine Ahnung, warum ich das überhaupt gekauft habe. Ich habe von Altmann schon einmal ein Buch gelesen. Da ging es um seinen bayerischen Heimatort, ein verlogenes, verstunkenes Kaff. Dass man in so einem Nest nicht leben und atmen kann, leuchtet mir irgendwie ein. Ich könnte das auch nicht. Dass man durch die Welt zieht, einfach um des Fremden in der Fremde willen: Auch das erscheint mir einleuchtend. Ich mag auch keine hässlichen Menschen, die halbnackt und schwitzend durch den Petersdom schnaufen, und ich würde meine Urlaube ebenfalls nicht in einem Club verbringen, all inclusive mit einem Bändchen am Arm. Da bin ich aber nicht besonders stolz drauf, und zu einem besseren Menschen macht mich das auch nicht. Den Leuten vor Ort wäre ein Neckermann-Tourist, der Geld für Kitsch ausgibt, Henning Mankell liest und sich abends für 10 Euro ein Eisbein servieren lässt, vermutlich auch lieber als ein Backpacker, der die heiligen Schriften des örtlich ansässigen Kultus gelesen hat, sich mit allen unterhalten will, egal, was die davon halten, und dann für 20 Cent das Nationalgericht isst.

Mir erscheint diese Form des Reisens oft eher etwas distanzlos, aufdringlich nachgerade, und sich öffentlich zu rühmen, ein besserer Reisender zu sein als andere Leute, empfinde ich als mindestens taktlos, wenn nicht gar als nachgerade hoffärtig. Um nicht zu sagen: Widerwärtig arrogant.

(Andreas Altmann. Gebrauchsanweisung für die Welt. )

Im Cabrio

Reizend dagegen, vergnügt, raschelnd vor fröhlich-sinnloser Geschäftigkeit, wirbelt das Buch von der Riviera an mir vorbei. 1931 ist es erschienen, Klaus und Erika Mann haben es geschrieben, und es ist genau die Küste, die wir lieben: Dieser schmale Streifen Land zwischen Marseille und Menton. Sehr viel geschieht gar nicht in diesem eher schmalen Reisebüchlein. Man fährt herum, trifft hier diesen und dort jenen. Man geht zum Friseur, isst mal scheußlich und mal fabelhaft, erfreut sich des Lichts, des Nichtstuns, der Casinos, der Nachtclubs, wirft einen flüchtig-trägen Blick auf Städtchen und Dörfer und ist schon wieder weg.

Unsere Cǒte d’Azur ist das – bei allen Ähnlichkeiten – nicht. Was wir sehen ist geprägt vom Boom des französischen Südens in den Fünfziger und Sechziger Jahren. Ein bisschen aus der Zeit gefallen sieht es dort heute bisweilen aus, ein wenig rührend passé auf diese sehr gemütliche Weise, die gerade wieder ein wenig in Mode kommt: Wie eine Karikatur von Paul Flora, die so langsam, langsam ein wenig Nostalgie und Patina ansetzt. In den Dreißigern aber war die Cǒte d’Azur nicht ein wenig unmodern und sehr gemütlich, sondern todschick, rasant, es war Jugend und Jazz und F. Scott Fitzgerald, und es nimmt dem kleinen, schnell gelesenen Büchlein nichts, dass Klaus Mann am Ende nach Cannes nur zurückkehren sollte, um 1949 an Drogen und Einsamkeit zu sterben.

(Klaus und Erika Mann, Das Buch von der Riviera)

Havelland

Dann aber wische ich mir die Äste aus dem Gesicht und halte den F. ganz fest, damit er nicht von der Bank fällt, denn der Traktor schaukelt nach rechts und nach links, immer quer zu den Feldern, und der F. dreht den Kopf so weit er kann, damit ihm keine Kuh, keine Gans und kein Strauch voll Holunder entgeht. Den J., den S. und die M.2 kann ich schon gar nicht mehr sehen, die hinter uns am Karolinenhof warten, und ich blinzele in das gelbe, herbstliche Licht.

Schön ist es hier, atme ich ein und drücke den F. fester an mich, der vor Vergnügen neben mir auf der Bank ein klein wenig hüpft. Schön war es in Ribbeck heut‘ morgen, kräftig und warm das Gulasch auf den Bänken auf dem grünen Gras, lustig und spät der Samstag mit der C. und der J.

Jeder könnte es schön haben, denke ich mir, denn das grüne Gras, das Licht, Käse, Liebe und Wein: Das gibt es doch für viele. Warum denn Leute Ärger anfangen und alles kurz und klein schlagen, weil sie es wichtig finden, dass ihr Landkreis zum einen und nicht zum anderen Land gehört. Wieso es wichtig sein soll, dass die Nachbarn oder das ganze Nachbardorf irgendwelche religiöse Fragen richtig auslegen. Wie ihre Frauen sich anziehen, ob die Straßenschilder nun in der einen oder anderen Sprache beschriftet sind: Als wär‘ das nicht alles egal. Als wäre das ständige Rumoren nicht eine Sünde gegen den Segen der Erde, dumm und frech noch dazu. Als sei es nicht genug, an einem Sommertag, einem der letzten im Jahr, am Ende der Welt durch die Felder zu fahren.

Schwer tragen die Bäume am Obst, und die Schwalben ziehen ein letztes Mal übers satte, ermüdete Land. Schon sind wir zurück. Der F. drückt seine Kopf gegen meinen Arm und steigt freudig vom Hänger. „Etz Ponyreiten!“, läuft er zu den beiden hübschen, wartenden Pferden, und ich wische die schwarze Gedanken aus meinem Gesicht. Heute ist es noch schön.

(Möge es immer so bleiben.)

Bernsteintage, Samstag (1)

Bitte nicht. Es ist doch erst 7:30 Uhr. Und heute ist Samstag. Kleines Monster, geh‘ wieder schlafen. Oder koch‘ mir einen Kaffee. Oder sag‘ dem Papa, dass er mir einen Kaffee kochen soll. Dann stehe ich vielleicht auf und gehe zu Rewe und auf den Markt am Arnswalder Platz. Krautsalat, Feldsalat und tiefgekühlte Brezeln.

Bitte nicht. Sag‘ bitte irgendetwas. Wenn du jetzt nichts sagst, dann schläfst du, und wenn du jetzt schläfst, bist du heute abend bis in die Puppen wach. Das finde ich doof, weil ich heute abend lange aufbleiben und mit der I. und dem S. die Legenden von Andor spielen will, und da musst du schlafen. Wach also auf und iss Nudeln mit mir. Ja, es gibt Nudeln. Direkt vom Markt, ein Pfund Ravioli mit Ziegenkäse und Trüffeln von Pasta e più. Schau, dass ist doch ein guter Grund aufzustehen.

Hab‘ ich’s doch gewusst. Jetzt bist du wach. Lass uns gleich um die Ecke ein Geschenk für deinen Freund L. kaufen. Der wird auch zwei. So wie du. Wir kaufen Knete, und weil wir schon mal da sind, kaufen wir eine Bastelschere und Kinderkleber für dich. Wenn wir zu Hause sind, darfst du lauter bunte Papierfetzen damit in Stücke schneiden, und die klebst du dann auf einen Kerl, den Mama für dich ausschneidet. Der Kerl friert und braucht ein schönes, buntes Fell.

Jetzt aber los. Wir fahren mit der Tram bis zum Mauerpark, und dann läufst du auf deinen kurzen Beinen durch den ganzen Park bis zum Moritzhof, weil sie da Tiere haben. Nein, Mama hat keine schlechte Laune deinetwegen. Die hasst nur diesen räudigsten der Berliner Parks, und alle, die da inmitten von Scherben und Dreck sitzen, grölen und grillen. Der Rasen sieht aus, als habe er eine ansteckende Krankheit, und die Leute wirken so, als müsse man mindestens zehn Semester Soziale Arbeit studiert haben, um ihnen anders als mit gereiztem Unverständnis zu begegnen.

Angekommen wird aber alles gut. Da, schau, die haben Tiere. Und gleich gibt es auch ein Frozen Yogurt. Die Papas stehen in der Sonne und unterhalten sich über das Leben in Büros. Die Mamas sprechen über sonderbare Unistädte. Deine Mama hat übrigens auch in einer besonders merkwürdigen Unistadt studiert, da glauben manche Leute bis heute nicht, dass es da überhaupt eine Uni gibt. Das lag an ihrem miesen Abi, aber darauf ist die Mama – das ist ein bisschen verrückt – sogar ein wenig stolz. Das musst du nicht verstehen.

Am Ende läufst du die ganze, lange Kopenhagener Straße zur Tram. Vor einem Haus bleiben deine Eltern stehen und freuen sich ein bisschen, weil sie da keine Wohnung gekauft haben. Das hatten sie mal diskutiert und sogar mit einem Makler gesprochen. Das ist vier Jahre her. Heute wohnen da immer noch keine Leute, und die Fenster scheinen ganz neu eingesetzt zu sein. Wahrscheinlich dreimal pleite gegangen in der Zwischenzeit. Wie es halt so geht.

Am Ende bist du so, so, so müde und planscht unmotiviert noch ein bisschen in der Badewanne herum. Es gibt eine Brezel, Weintrauben und eine Wurst, etwas Apfelsaft, und als die I. und der S. kommen, darfst du noch kurz guten Abend sagen. Dann gehst du schlafen. In der Küche werden Schlachten auf dem Spielbrett geschlagen, während du schläfst, man trinkt Bier, man isst Brezeln, Käse aus Brodowin, den unfassbar leckeren Leberkäse der Hermannsdorfer Werkstätten und Salat.

Dann wird es dunkel und still.

Für mich.

Ich fahr‘ so gern Rad. Sommer muss es sein, so wie jetzt, und einen Rock muss ich tragen, so einen ganz leichten. An den Füßen habe ich Sandalen, noch besser: gar nichts, und so trete ich schneller, immer schneller, und die Stadt rauscht an mir vorbei als ein Wirbel aus Farben, Lichtern, Gerüchen. An den Ampeln kommt die Stadt kurz zum Stehen, taumelt, rappelt sich auf, hupt als ein reizbarer Kreuzberger oder lehnt sich lässig nach vorn als Hipster mit Bart auf dem Rennrad.

Dann geht es weiter. Am Schlesischen Tor riecht es kurz nach Fett, nach Käse und einer Spur Kreuzkümmel und Schweiß. Auf der Oberbaumbrücke singt ein Junge mit Hut. A-Changin‘ höre ich noch. Dann bin ich schon weg. Links neben mir klingelt und rattert die Tram, und hinter der O2-World geht die Sonne unter und färbt den Staub der Stadt so rot wie Campari.

Zwischen den Türmen der Frankfurter Allee ist der Himmel schon rosa. Blau und grün, zart wie Seide schwingt der Zenit über mir wie ein Tuch. Am Park, weiß ich, wird es dann dunkeln, und die rauchenden Grills riechen würzig nach Würsten und Fett. Die Brunnen rauschen, als hätten sie nie etwas anderes getan, und auf den Straßen klappern die Teller und klingen die Gläser alle für mich, für mich. Für mich.

Halb sechs Heringsdorf

Es ist noch ganz still. Zwischen den Vorhängen fällt ein schmaler, gleißender Spalt Licht auf das Bett, und hinter Bäumen und Sand rollt, rauscht und zischt das Meer vor den Winden.

Mit offenem Mund liegen der J. und der F. neben mir und halten sich im Schlaf fest an den Händen. Wie im vollen Lauf in die Kissen gesunken, liegen sie da, die Knie angewinkelt, die Haare an der Stirn festgeklebt von der warmen Nacht. Am Brustbein des F. haftet noch immer ein bisschen Sand und rieselt aufs Laken.

Noch ist die Promenade fast leer. Noch läuft ein einsamer Jogger von Ahlbeck nach Heringsdorf. Noch führt eine Frau in kurzen Hosen ganz allein einen Pudel spazieren, und auf dem Meer schaukelt ein Boot einsam auf den Wellen. Noch scheint sogar das Wasser im Pool des Hotels zu schlafen und kräuselt sich sanft, ganz sanft, als würde es etwas sehr Feines, sehr Subtiles träumen, ein Traum quasi in Spitzen und Pastell.

Mein Buch könnte ich holen, beschließe ich, und schleiche mich vom Balkon zurück ins Zimmer. Ein paar Seiten lesen, Patrick Leigh Fermors letzten Teil der Reise nach Konstantinopel, einen grünen Tee, die Füße ausstrecken in die immer wärmere Sonne. Allein im Pool ein paar Bahnen ziehen, solange alles noch schläft.

„Komm, Mama.“, ruft es da halblaut vom Bett. „Gleich.“, rufe ich zurück, atme noch einmal tief die weiche, sonnengeschwängerte Luft dieses Morgens ein, blinzele in das weißgoldene Licht überm Meer und lege mich wieder aufs Bett. „Jetzt frühstücken?“, wispert der F. und reibt sich vorfreudig den kleinen, weichen Bauch. An die Würstchen denkt er bestimmt. Vielleicht auch an Fisch und an Eier.

„Später.“, streichele ich ihm den Kopf, schließe noch einmal die Augen, und der Schlaf trägt mich weg. Neben mir träumt auch der F. von den Freuden des kommenden Tages, und unten am Meer sitzt die rosenfingrige Göttin des Morgens Aurora und singt und gurrt mit den Nixen, bis der Tag sie verjagt.

Bingo

Ich bin ja an sich eigentlich ganz friedlich. Ich warte ziemlich lange ruhig vor Schaltern ab, wie die Leute vor mir sich umständlich beraten lassen. Musiker in der U-Bahn hasse ich zwar, aber wenn einer kommt, konzentriere ich mich auf die Werbung an den Fenstern. Sogar mein Zeitungslesen bleibe ich halbwegs ruhig. Nur die Passwörter: aber hören Sie selbst:

Ich sitze also vorm Rechner, und dann heisst es: Ihre Authentifizierung ist leider nicht möglich. Oder auch: Ihr Passwort ist leider nicht bekannt. Da sitze ich dann. Totale Leere im Hirn. Ich hätte geschworen, das Passwort lautete schon immer „Bingo“. Aber auch bei der dritten Eingabe verhöhnt mich das Gerät und behauptet, von „Bingo“ hätte hier keiner je was gehört. Ich probiere ein bisschen herum. „Bingo1977“. „bingo“. „Bingobingo“. Ich bin mir sehr sicher, das Gerät lacht. Oder ist es der Gott des Netzes selbst, der auf einer watteweißen cloud sitzt und hämisch kichert?

Irgendwann kapituliere ich. Aber war das wirklich ich, die diese Sicherheitsfragen eingegeben hat? „Wo haben sich deine Eltern kennengelernt?“ – Ja, was weiß denn ich? War ich dabei? Und wieso geht meine Mutter nie ans Telephon, wenn man sie am dringendsten braucht? Und warum soll die Antwort auf „Wie hieß dein erstes Haustier?“ nun auch falsch sein? ich werde doch noch wissen, wie mein Hund … nein. Gut. Vorbei.

An meine Alternativadresse lasse ich mir einen Link für ein neues Passwort schicken. Ich klicke. „Ihr neues Passwort“ lese ich, schon wieder halbwegs hoffnungsfroh. „Bingo“ gebe ich. „Bingo“ ist aber falsch. Ich muss Zahlen, Sonderzeichen und Groß- wie Kleinbuchstaben eingeben. Ich verzweifele. Wie soll ich mir „Bingo::4711“ jemals merken? Ich notiere „Bingo ::4711“ in meinem Schlüsselbund, der aber auch ein Passwort wissen will. Das steht zum Glück verbotenerweise in meinem Handy. Aus Geheimhaltungsgründen unter „Onkel Schorsch“. Mein gleichnamiger Onkel ist zwar schon seit Jahrzehnten tot, aber das wissen die Leute, die irgendwann mein Handy klauen, ja hoffentlich nicht.

Die nächsten drei Monate ist Ruhe. Dann bin ich zwei Wochen weg. Urlaub, Ende der Welt. Kein Bedarf für „Bingo::4711“, und prächtig gelaunt, strahlend und gebräunt sitze ich wieder vorm Rechner. Da. Schon wieder. Mein Passwort ist nicht bekannt.

„Bingo:4711“ gebe ich drei-, vier-, fünfmal ein. Ich bin mir sicher, dass Passwort ist richtig. Im Schlüsselbund steht es doch auch. Das Internet macht sich lustig über mich. Käme in diesem Moment einer und würde mir eine Authentifizierung per Daumendruck anbieten: Ich schickte den ganzen Datenschutz zur Hölle und sagte einfach ja. Statt dessen: „BinGo&1918“. Sechs Monate später: „BINgo=5689“. „bIn=Go43“. „bin3$GO4“. „b-i/N9GO“

Komisch, dass nicht viel mehr Rechner aus Fenstern fliegen.

 

Samstagnacht

„Machst du ein Bild von uns?“, zupft mich auf der Oberbaumbrücke ein Mädchen am Kleid und hält mir ihr Handy entgegen. „Klar.“, rücke ich das Mädchen mit ganz glatten, langen, schwarzen Haaren und ihren supermageren Freund mit Hut in die Mitte des Bildes, hinter ihnen den Fernsehturm und die schwarze, spiegelnde Spree.

Ein paar Meter weiter singt ein Junge mit einer Gitarre, zwei sehr junge, sehr dünne Mädchen klatschen in die Hände, und die Nacht schwappt in heißen Wellen durch die Straßen der Stadt. „Das sieht gut aus!“, lobt das Mädchen ihr Bild, und ihr Freund nickt mir beifällig zu. „Wo geht man denn hier noch so hin?“, fragt sie mich, und fast fühle ich mich geschmeichelt, dass irgendwer auf Erden mir noch zutraut, ich wüsste Bescheid.

Jeder Laden meines Lebens hat seit Jahren dicht, liegt es mir auf der Zunge, aber dann nenne ich doch ein paar Namen und fahre langsam nach Norden. Ins Bett.

Madame antwortet

Frau Nuf hat gefragt. Ich antworte:

Was haben dich deine Kinder gelehrt?

Die meisten Mütter behaupten, seit der Geburt ihrer Kinder seien sie viel gelassener geworden und würden nicht mehr alles so ernst nehmen. Die müssen irgendwie anders gestrickt sein als ich. Ich kann mich bis heute innerhalb von fünf Minuten von so einer Art Buddhistin in einen betrunkenen Torero und dann in ein sehr schüchterne Dreizehnjährige verwandeln, die nicht weiß, wohin mit ihren Händen. Ich bin nämlich nicht der Jakobsweg, sondern mehr so die Achterbahn. Mit schlecht angezogenen Schrauben. Geburt und Aufzucht des F. haben daran auch rein gar nichts geändert.

Möglicherweise habe ich vom F. also gar nichts gelernt. Wickeln, kochen, Frösche imitieren und Puzzlen konnte ich nämlich auch schon vorher. Höchstens – aber vielleicht ist das doch nicht das Geringste – ist eine Erkenntnis hängengeblieben: Normal reicht. Ich wollte immer „A Life Less Ordinary“, und eine Durchschnittsperson zu sein oder zu werden, hat mich immer frustriert. An manchen Tagen wäre ich nach wie vor gern eine begabte Schriftstellerin, wunderschön oder zumindest Hauptperson eines sehr interessanten Dramas. Nur für den F. gilt das alles nicht. Der ist total normal und genau richtig. Er kann ratzekahl überhaupt nichts, was nicht die allermeisten gesunden Zweijährigen beherrschen. Er ist fröhlich, verfressen, verspielt, oft unfreiwillig und bisweilen absichtlich komisch. Er ist weder hochbegabt, noch hypersensibel. Er hat auch keinen sonstigen physischen oder psychischen Besonderheiten, die ihn aus der Masse seiner Altersgenossen herausheben, aber ich habe ihn noch nie auch nur einen Deut anders haben wollen, als er ist. Er ist normal toll. Diese beiden Adjektive zusammenzubringen ist mir vorm F. nie gelungen.

Was hilft dir in den anstrengenden Zeiten (Schlafmangel, Autonomiephase & Co.)?

Ich muss gestehen, so anstrengend finde ich das meistens gar nicht. Das mag jetzt am F. liegen, der ein freundlicher Kerl mit gutem Schlaf und gesundem Appetit ist. Etwas anstrengend ist zwar die Liebe des F. zu endlosen Wiederholungen. „Nochmal“ ist kein schönes Wort. Aber wenn es wirklich nervtötend wird, zwinge ich den F. zur Abwechslung: Auf keinen Fall nochmal Bobo Siebenschläfer, und außerdem macht die Mama jetzt ihre Musik an.

Was fehlt dir aus dem kinderlosen Vorleben? Ist es für immer verloren? Kommt es wieder und wenn ja, wie?

Früher – also vorm F. – bin ich morgens um 8.30 aufgestanden. In die Küche getappt. Kaffee aufgesetzt. Dann Kontaktlinsen, Zähneputzen, geduscht und angezogen, Kaffee getrunken und ab aufs Rad. Um 9.30 mit einem Becher Kaffee am Schreibtisch.

Heute klingelt der Wecker vor 7.00. Der F. ist meistens schon vorher da. Es ist nicht so, dass er morgens irgendwelche Aktivitäten verlangt. Im Gegenteil, er liegt in der Mitte zwischen dem J. und mir wie ein kleiner, nasser Sack und will den Bauch gestreichelt bekommen. Oder die Stirn. Dann, etwas wacher, will er vorgelesen bekommen, frühstücken, auf dem Topf  sitzen, sich sehr langsam anziehen und noch langsamer Zähne putzen. Währenddessen mache ich mich irgendwie fertig, putze Obst, bestücke eine Frühstücksdose, antworte dem F. schlaftrunken auf diverse Fragen und singe, wenn das von mir verlangt wird. Der F. singt sehr laut mit.

Wenn ich den F. gegen 9.15 in der Kita abgeliefert habe, fahre ich ins Büro. Um 9.30 bin ich am Schreibtisch. Ich fahre den Rechner hoch und male mir mit Grauen aus, wie das eigentlich aussehen soll, wenn er irgendwann mal schulpflichtig wird. Um 8.00 Uhr morgens. Um 8.00! 12 lange Jahre!

Was hast du mit den Kindern für dein Leben dazu bekommen?

Singen. Ganz laut. Ziegen streicheln. Auf dem Sofa sitzen und laut kläffen. In der Küche tanzen. Ständig Brot und Becherkuchen backen. Alle Kinderbücher wiederentdecken. Schaukeln. Sandburgen bauen und mit Muscheln verzieren. Ganz große Seifenblasen machen.

Jemanden an der Hand halten, der glaubt, ich könnte alle Monster verscheuchen, die es gibt.

Die Monster verscheuchen.

Über welche Tabus im Zusammenhang mit Kindern wird zu wenig geschrieben und was sind deine Erfahrungen dazu?

Wird über irgendetwas in Zusammenhang mit Kindern zu wenig geschrieben? Ich bin ja Prenzlmutter, das bedeutet, dass keine kindliche Regung unkommentiert bleibt. Alle Leute, die ich kenne, sondern ununterbrochen Kommunikation über Kinder ab. Ich finde das bisweilen auch ganz spannend, besser immerhin als Musik, die ich nicht kenne. Oder Fußball. Insbesondere die negativen Seiten der Elternschaft werden aus meiner Sicht derzeit eher etwas mehr betont, als es meiner Erfahrung entspricht.

Wenn es überhaupt irgendein Tabu in Zusammenhang mit Kindern gibt, dann höchstens ein Bekenntnis zur mütterlichen Bequemlichkeit. Dabei täte es den meisten Leuten, ihren Kindern und ihren Beziehungen ganz gut, wenn sie es sich ein bisschen bequem machen würden. Ich kenne diverse Leute, die sich fürs Stillen halb umgebracht haben. Oder die wegen der vermeintlich besseren Kita oder Schule halbe Tage durch Berlin fahren. Oder jahrelang Urlaube machen, zu denen sie eigentlich keine Lust haben, nur weil sie glauben, so ein öder Ostseeurlaub sei so toll für Kinder.

Ich dagegen bin absolut pro Bequemlichkeit. Ich glaube, dass der mit großen Anstrengungen vermeintlich verbundene Vorteil nur sehr selten die Nachteile aufwiegt. Aber erzählen Sie das mal in größerer Runde auf dem Spielplatz. Sie werden auf Dutzende Personen treffen, die jede Abwägung der kindlichen mit den mütterlichen Interessen als Frevel ansehen. Bisweilen frage ich mich, ob die wirklich glauben, dass diese Opferbereitschaft sich irgendwie in erhöhtem Lebensglück ihres Nachwuchses niederschlägt. Hinsichtlich ihres Lebensglücks allerdings – da reicht ein Blick – scheint das Konzept irgendwie nicht aufzugehen.

 

Gepfiffen

Mit der Zeit arrangiert man sich ja mit seinen Unfähigkeiten. Ich beispielsweise kann weder singen noch Handstand. Wenn ich Englisch spreche, fallen den Liebhabern der englischen Sprache wegen meiner miesen Aussprache die Augenbrauen aus, und meine Fähigkeiten zur Fischzubereitung sind eher rudimentär. Das stört mich aber alles nicht. Wer in lupenreinem Queen’s English auf den Händen Fisch gebraten bekommen will, soll gefälligst jemand anders fragen. Das ist mir schnuppe.

Früher war das anders. Ich war beispielsweise jahrelang Mitglied des Schulchors, um dem damals sehr verehrten G. möglichst nahezukommen. Im Ergebnis hat das alles nicht hingehauen, das Singen wie das Nahekommen, aber für einen ordentlichen Gesang hätte ich damals schon Einiges gegeben. Ebenso Ballett. Ich musste fünf Jahre tanzen, und habe jede einzelne Stunde gehasst. Weil ich ein schlechter Mensch bin, habe ich mich sogar ein bisschen gefreut, als die Lehrerin dann krank wurde, und ich nicht mehr tanzen musste. Aber nur einmal zu können, was diese Frau von mir wollte: Das wär‘ schon was gewesen. Heute natürlich alles egal.

Übrig bleiben ziemlich wenige Fähigkeiten, die ich bis heute ganz gern hätte. Ich versuche es immer wieder mit Fisch. Da muss doch was gehen. Ich wäre gern etwas sportlicher, aber mehr so aus optischen Gründen wegen Gewicht und so. Ich würde gern kraulen können, weil ich im Brustschwimmodus – wie man in manchen Spas ja leider auf großen Spiegeln sieht – an meine Großmutter erinnere, nur abzüglich der Badekappe. Doch wenn heute nacht eine gute Fee an mein Fenster pochte und mich fragte, was ich denn ab sofort …. sie hätte da noch einen Wunsch über, dann fiele mir das alles nicht ein, sondern ich gurgelte schlaftrunken, aber ehrlich nur: Ich  möchte pfeifen können.

So richtig hoch und laut und schrill. Jahrzehntelang versucht, viel öfter als Fisch braten oder Kraulen, nie gelungen, und anders als bei vielen anderen Unfähigkeiten: Das ärgert mich immer noch. Damit bin ich noch nicht fertig. Die Fee kann kommen.

Spanisch

„Verdammt.“, flucht der J. und ich pflichte ihm bei. Wir haben beide in elektronischen WM-Tipprunden auf Spanien gewettet, und mit Spanien sieht es schlecht aus. Ich belege gerade Platz 128, und über das Ranking des J. darf ich öffentlich nicht sprechen.

„Wie kann denn sowas nur ….“, stöhnt der J. auf dem Sofa und dreht seine Locken nervös um den Zeigefinger, wie er es immer macht, wenn er sich ärgert. Ich dagegen gähne. Mein Interesse an Sport samt Wettplatzierung hält sich nämlich in ausgesprochen engen Grenzen. „Die sind doch gekauft.“, ächzt der J. weiter und saugt an seinem Lammsbräu alkoholfrei, und mir wird auf einmal alles klar. Die Spanier. Die Kanzlerin in Brasilien. Und tatsächlich sind ja in der Chefetage der deutschen Wirtschaft ziemlich viele Leute fußballinteressiert. Wenn die alle zusammenlegen – also hier ein Milliönchen, da ein Milliönchen. Hier 500 Ausbildungsplätze im deutschen Maschinenbau. Da eine Fabrik irgendwo im spanischen Hinterland, wo normalerweise Fuchs und Hase einander ¡hola! sagen. Und dann ein sehr nervöser, sehr besorgter Prinz Felipe, wie er die spanischen Fußballspieler quasi bekniet, für das nationale Wohl dieses eine ganz besondere Opfer zu bringen. Die gesenkten Köpfe der Spieler. Das mannhafte Nicken, und dann mit zusammengebissenen Zähnen Augen zu und durch.

Ich glaube, ich muss meine weiteren Tipps noch mal ändern.