„Was gibt’s denn da zu gewinnen?“, fragt der J., und ich erzähle was von Ruhm und Ehre. Der J. grunzt. Ruhm und Ehre sind gut. „Wo kann ich denn da …?“, klickt er ein bisschen durchs Internet.
(Wenn auch Sie so freundlich …? Die Konkurrenz ist aber hart. Kleiner drei. Auch sehr super. Dieses Schulblog lese ich auch gelegentlich, um mich schon mal vorzugruseln für 2018, wenn der F. zur Schule kommt.)
„Schnell!“, zische ich dem geschätzten Gefährten zu. „Er hat schon die Augen zu.“ Der J. legt den Finger auf den Mund und rollt den Buggy in möglichst gleichmäßiger Geschwindigkeit zwischen den Taschen und Tüchern hindurch Richtung Parfümerie. Es ist Samstag, kurz nach zwölf, und das Lafayette noch halbwegs leer.
Der J. und ich sind auf dem Weg zur Damenoberbekleidung, denn anders als der geschätzte Gefährte, der gleichbleibend groß und dünn seit Jahren dasselbe trägt, wechseln bei mir Größen, Farben, Formen und Vorlieben, und just für diesen Frühling habe ich rein gar nichts. Also so richtig gar nichts. Zumindest nichts, was mir passt. Ich brauche also mindestens ein Kostüm, diverse Oberteile und – wenn ich schon mal da bin – vielleicht noch ein paar Tücher, Shawls, Klimperketten oder so ähnlich. Wenn mir ein Mantel über den Weg läuft, um so besser.
Mit einem hellwachen F. ist allerdings schlecht einkaufen. Entweder er langweilt sich. Dann fängt er nach fünf Minuten an, rhythmisch mit den Beinen zu schaukeln, bis der Kinderwagen umzukippen droht, laute Oden an Würste und Plüscheulen zu singen oder so spitz zu schreien, dass ich entweder gar nichts erwerbe, oder irgendetwas ganz schnell zusammenknülle und damit zur Kasse renne, egal, ob es passt oder nicht. Ich kaufe deswegen an sich ganz gern online, aber weil ich nie Lust habe, etwas zurückzuschicken, geht die Anschaffung unpassender oder erschreckend hässlicher Kleidungsstücke auf Dauer zu sehr ins Geld.
„Jetzt schnell anprobieren.“, dränge ich den J. Richtung Aufzug. Inzwischen schläft der F. so tief und fest, dass man praktisch jedwede Tätigkeit, und sei sie noch so geräuschvoll, in seiner Nähe ausführen könnte, und was das Beste ist: Das wird nun für mindestens eineinhalb Stunden so bleiben. „Auf in die zwei.“, sporne ich mehr mich als den J. an und kreise mit dem Zeigefinger für einen Moment unschlüssig über dem Knopf mit der zwei. In Ruhe Anprobieren, sage ich mir. Das wär’s. Dann hätte ich vielleicht auch endlich einmal passende Sachen an und nicht nur irgendwas, was nicht platzt, wenn ich es trage.
„Was für eine langweilige Entscheidung.“, wispert es auf einmal neben meinem rechten Ohr. Ich drehe mich um. Der J. steht schweigend mit maximal neutralem Ausdruck auf meiner linken Seite und starrt auf sein iPhone. „Was hast du gesagt?“, frage ih sicherheitshalber und ernte ein langgezogenes „nichts“. „Du kaufst sogar Reinigungsmittel lieber als Kostüme.“, flüstert es weiter, und diesmal stimme ich zu. „Jaja.“, antworte ich ganz leise, damit der J. mich nicht für meschugge hält. Kostüme sind schrecklich. Anprobieren ist blöd. Ich mag mich nicht im Spiegel, ich mag mich nicht in Businesskleidung, und außerdem – jetzt spüre ich es auf einmal ganz deutlich – habe ich Hunger. „Ich könnte schon gut was essen.“, behauptet zeitgleich der J. und schaut mich auffordernd an. Entschlossen betätige ich den Aufzug. Nach unten, nicht nach oben.
Zwanzig Minuten später sitzen wir vor der Fischtheke des Lafayette auf zwei Stühlen und ordern die fabelhafte Fischsuppe des Hauses. „Und zwei Muscadet!“, bestellt der J. „Und einen salade du jour.“, füge ich hinzu. Dann stellen wir dem F. die Rückenlehne ganz nach hinten, öffnen seine Jacke, streichen ihm über die runden Wangen und die geschlossenen Augen und heben unsere Gläser. „Man muss die Feste ….“, nuschelt der J., und ich nicke energisch und tauche meinen Löffel tief in die duftende Suppe.
Ich bin fünf. Ich stehe vor dem Spiegel im Schlafzimmer meiner Eltern und drehe mich mit einem bunten Tuch auf dem Kopf, an dem Blechmünzen und kleine, bunte Perlen ganz leise klirren. Dann nehme ich das Tuch wieder ab. Ich will keine Zigeunerin sein. Auf dem Bett liegt ein orange-schwarz gestreifter Schlafanzug, aber ich will auch keine Tigerin darstellen. Keine Biene, keinen Arzt mit Stethoskop, auch kein Zauberer, sondern – ach – eine Prinzessin. Ein duftig-rosiges Kleid. Lange, offene Haare, ein Krönchen, vielleicht sogar ein bisschen echten Lippenstift.
Leider ist hier weit und breit nichts von dem Kleid zu sehen, das mir vorschwebt, und meine Mutter macht auch nicht den Eindruck, als wäre sie bereit, so etwas bis Rosenmontag noch zu kaufen. Genauer gesagt wirkt meine Mutter so, als würde aus meiner Prinzessinnenvision für den Rest meiner Tage nichts, obwohl die alles überragende Bedeutung des Prinzessinnenstatus für jeden klar denkenden Menschen auf der Hand liegen sollte und zudem in dicken Büchern vielfach dokumentiert ist, doch meine Mutter sagt nein.
Ich weine, schreie und argumentiere. Ich verspreche wochenlanges Silberputzen, Sockensortieren und sogar den zeitweiligen Verzicht auf die Kassette „Eliot das Schmunzelmonster“, und schließlich gibt meine Mutter nach. Im Prinzessinnentaumel springe ich auf dem Elternbett herum und jubiliere. Nicht einmal die Nachricht, das Prinzessinnenkleid aus rosa Tüll werde nicht angeschafft, kann mich stoppen. Immerhin verspricht meine Mutter eine farbenfrohe, wunderschöne Eigenkreation mit Schleier und Szepter. Glücklich gehe ich schlafen.
Rosenmontag bin ich um fünf Uhr wach und sitze auf der Bettkante neben meinem Vater. Mein Vater schläft, kneift im Traum ab und zu die Augenlider zusammen und schließt und öffnet den Mund. Er sieht nicht aus, als wache er gleich von selbst auf, obwohl doch heute Rosenmontag ist, Festtag der Festtage, und mein Vater als Vater einer Prinzessin ein echter König, denn man weiß ja, dass der Vater einer Prinzessin stets ein gekröntes Haupt besitzt. Meinen Vater allerdings ficht das nicht an. Er geht als Cowboy, wie immer.
Stunden später erst stehen meine Eltern auf. Noch mehr Stunden später werde ich verkleidet. Meine Mutter hat ein paar bunte, durchsichtige Tücher zusammengenäht, die bekomme ich als Kleid angezogen. Ein glitzernder Gürtel, ein glitzernder Stab. Statt einer richtigen Krone muss ich mit einem runden, glänzenden Haarreif vorliebnehmen. Dafür gibt es echten Lippenstift und rote Bäckchen und meine Haare werden mit einem Lockenstab und viel Haarspray in große, schwingende Locken verwandelt.
Auf dem Fest gibt es viele Prinzessinnen. Fast alle – ich ärgere mich sehr – haben eins der begehrten rosa Kleider. Ich bin eine Regenbogenprinzessin sage ich zu meiner Freundin K. Aber ich, entgegnet sie, bin eine echte Prinzessin, und da beiße ich mir auf die Unterlippe und gucke finster, bis das nächste Lied beginnt und ich mit all den anderen tanze. Hossa, schreie ich und recke die Hände gen Himmel. Entschlossen trinke ich zwei Limonaden, esse eine Waffel mit Puderzucker und knabbere mit meiner Freundin deren Zuckerketten ab, die sie in verschwenderischer Fülle um den Hals trägt.
Stunden um Stunden geht das so. Ich tanze und vergesse die Welt, ich lache, ich esse viel zu viel, aber dann setzen sich alle Kinder auf den Boden. Die Preisverleihung beginnt.
Sehr lange geben sich ausschließlich Erwachsene Blumen und sprechen von Dankbarkeit und Verdiensten. Wir gähnen und essen die letzte Zuckerkette auf und flüstern uns zu, was wir von den Kostümen der anderen halten, und wer wohl gewinnt. Ab und zu schiele ich begehrlich auf den Tisch mit den Preisen. Ich habe es auf den dritten Preis abgesehen, ein schön verpacktes Buchpaket, gestiftet von der Buchhandlung Moritz, rechne mir aber von vornherein keine Chancen aus, denn hier ist alles voller Prinzessinnen, die alle exakt die schönen Kleider, den glitzernden Schmuck haben, den anzuschaffen sich meine Mutter weigert. Neidvoll bewundere ich ganz besonders meine Freundin K. und zupfe ab und zu ein bisschen an ihrem rosa Rock. Ganz kurz trage ich auch ihre Krone und klimpere ein bisschen mit den Augen.
Stundenlang, so fühlt es sich zumindest an, zieht sich die Prämierung der besten Kostüme. Bisher war noch keine Prinzessin dabei. Der Jüngste unseres Zahnarzts bekommt einen Preis für seine Verkleidung als Maikäfer. Die Tochter einer Freundin meiner Mutter, die ich noch nie leiden konnte, wird für ihre Verkleidung als Teekanne prämiert. Ich verziehe das Gesicht. Eine Teekanne zu sein, erscheint mir ganz besonders sinnlos, aber einerseits passt es zu dieser widerlichen Person. Dass sie überhaupt einen Preis erhält, finde ich ausgesprochen erstaunlich, allerdings sind wir erst beim fünften Preis, und dass man eine Prinzessin – ich sehe meine Freundin K. an – nicht mit einem fünften Preis abspeisen kann, ist eigentlich auch klar. Dann schon eher eine Teekanne.
Als auf einmal mein Name fällt, bleibe ich reglos sitzen. „Na, du!“, flüstert die K. und gibt mir einen Schubs. Hochrot stolpere ich in die Mitte und steige die drei Stufen aufs Podium. „Der vierte Preis geht an Modeste als …..“, leicht verschämt schaue ich auf mein regenbogenbuntes Kostüm, „Zaubererin!“, fährt der Vorsitzende des Sportvereins fort, der die Preisverleihung vornimmt, und ich öffne und schließe ein paarmal lautlos den Mund. „Prinzessin!“, ächze ich, als der Vorsitzende meinen angeblichen Zauberstab („Szepter!“) lobt und mich auffordert, meinen Zauberumhang wehen zu lassen. Mit hochrot-verzerrte Gesicht schnappe ich mehrfach nach Luft und wische mit der einen Hand ein paar Tränen von meinen Wangen. Mit der anderen nehme ich eine Spielesammlung entgegen, die ich in ganz ähnlicher Gestallt bereits besitze. Zauberin also. Keine Prinzessin. Meine Mutter hat mich betrogen.
Eine halbe Stunde später klopft meine Freundin K. gegen die Toilettentür. Ich lasse sie ein. Die K. ist ebenfalls geknickt. Sie hat gar keinen Preis erhalten. Die Preise eins bis drei gingen an den Prinzessinnen in toto vorbei, vermutlich weil der Vorsitzende nur eine ganz hässliche Tochter hat, die passenderweise als Frosch erschienen ist, und so sitzen wir alle beide auf dem Toilettendeckel, essen aus einer zerknitterten Butterbrottüte saure Pommes, Schlümpfe und Colafläschchen von Haribo und schwelgen in Selbstmitleid unter unseren zerdrückten Kronen. „Du bist eine echte Prinzessin und jeder kann das sehen.“, tröstet mich die K. „Du bist die schönste Prinzessin in ganz R.“, behaupte ich.
„Rarad fahren!“, befiehlt der F., und dann fahre ich so schnell ich kann eine Runde um die grüne Wiese im Volkspark, und hinter mir kreischt der F. im Kindersitz voll Freude, weil man nie zu klein ist für den Rausch der Geschwindigkeit, diesen Taumel, wenn Wiese, Himmel, Frühlingsluft in einen bunten Rausch zerfließen, und weil es so gleißend hell ist, als würde die ganze Welt eigens für F. und mich illuminiert.
Schamlos gelb blüht schon der Ginster. Selbst die Hunde kläffen heller, ausgelassener, lauter wohl sogar als sonst, und ganz fremde Leute lassen sich gegenseitig beim Bäcker vor, als sei das sogar hier ganz normal.
„Der Mond! Schöner Mond!“, jubelt der F. hinter mir, und so fahren wir durch den Park. Vor uns die Sonne. Hinter uns der Mond, und der ganze Frühling noch vor uns. Alles auf Anfang, alles so neu, und das Jahr noch leuchtend und blank wie der just aus dem Berg geborene ganze Kristall.
Um 6:37 rüttelt der J. mich wach. Um 6:30 werde ich abgeholt, und dass ich um 6:45 tatsächlich voll bekleidet und mit den jeweils richtigen Kontaktlinsen in jedem Auge im Taxi sitze, ist eine logistische Meisterleistung, für die ich ganz unverdient nicht so gelobt werde, wie ich es eigentlich verdiene. Man wird ja ohnehin regelmäßig für Verdienste gelobt, die eigentlich gar keine sind, während die Dinge, für die man sich tatsächlich halb umgebracht hat, nie einer würdigt. Diese Taxifahrt zum Beispiel.
In Tegel wird es dann gemütlich. Ich sitze ein bißchen herum, putze mir auf der Flughafentoilette die Zähne, beglückwünsche mich zu dem Entschluss, gestern Abend trotz des wirklich langen Lamentos meines unglücklichen Babysitters nach unserer Rückkehr noch zu duschen und blättere im Süddeutsche Magazin. Da loben sich diese Woche lauter Frauen, die ich nicht kenne.
Einen Kaffee würde ich gern trinken, schaue ich verlangend die Espressomaschine am Imbisstand an. Leider ist es schon fast viertel nach sieben, die Stewardessen rascheln geschäftig herum, und dann wird geboardet. Ich gähne ein wenig herum, freue mich auf den Kaffee im Flugzeug und versuche mich angesichts der Nachrichten zu erinnern, ob ich eigentlich schon mal etwas von Sybille Lewitscharoff gelesen habe. Mir fällt nichts ein. Das kann aber auch an der Uhrzeit liegen. Morgens vor neun bin ich kognitiv nur unwesentlich begabter als ein Hamster.
Eine halbe Stunde später bin ich annähernd wach und mir ziemlich sicher, tatsächlich nie etwas von Frau Lewitscharoff gelesen zu haben. Fast bedaure ich das ein wenig. Ich lese eigentlich ganz gern die Ergüsse von Irren und würde sofort, wenn sich auch mir die Gelegenheit böte, bizarre und beleidigende Reden halten, am nächsten Tag alle Zeitungen kaufen und mich freuen. Einfach nur so. Aus Daffke.
Leider gibt es immer noch keinen Kaffee. Es gibt überhaupt nichts, nicht einmal Fortbewegung. Statt dessen steht das Flugzeug wie angeleimt auf dem Flughafen Tegel herum, und zu alledem geht meine Zeitung zur Neige. Meine Laune sinkt, ich ziehe ein paar schlechtgelaunte Grimassen und erinnere mich an die Zeiten, als es in Flugzeugen auch in der Economy Class morgens noch Semmeln gab, Kaffee und Joghurt. Sogar die Stewardessen sahen nicht so verhärmt aus, will es mir scheinen. Ich krame in meiner Tasche. Ich habe Hunger.
In meiner Tasche aber gibt es nichts. Ich finde immerhin meine Unterlagen. Ein iPad, ein bisschen Geld, zwei Stifte, eine Strickmütze und einen Gummihasen von Schleich. Zwei Pixibücher, von denen eins von einem Hund aus dem Tierheim handelt, das andere aber vom Weihnachtsmann, und ein steinaltes Amenity Kit, das wahrscheinlich Ausschlag verursacht, wenn man die Handcreme da drin wirklich benutzt.
„Mögen sie ein Croissant von mir?“, rettet mich immerhin der Passagier auf der anderen Seite des Ganges. Ich nehme natürlich sofort an. Aus dem Alter, in dem man von fremden Männern nichts annehmen darf, bin ich schon seit mehreren Jahrzehnten raus. Die Stewardess schaut mich scheel an. Ist es, frage ich mich, zwischenzeitlich nicht nur so, dass man keine Speisen mehr gereicht bekommt, sondern darf man in den Maschinen der Lufthansa jetzt auch nichts Mitgebrachtes mehr essen?
Aus reinem Trotz esse ich weiter. Dankbar unterhalte ich mich mit dem Croissantschenker, gebe mich – das ist eine längere Geschichte – versehentlich als eine 32 Jahre alte Berlinerin aus, was ja immerhin auch irgendwann einmal stimmte, und stimme dem Mann zu, der irgendetwas sagt, was sich immerhin nicht so irre anhört wie das von der Lewitscharoff. Halbwesen kamen jedenfalls keine vor. Ich glaube, es ging um Kunststoff.
Als die Maschine endlich abhebt, schlafe ich ein. Ich schlafe sehr, sehr fest. Ich träume sogar. Kleine, pelzige Tiere, irgendwelche Verwicklungen peinlicher und schwer verständlicher Natur. Erst im Sinkflug über Frankfurt werde ich wach.
„Einen schönen Tag!“, wünscht mir der Passagier mit dem Croissant, und die Stewardess lächelt schmallippig und scheint mich stumm zu verwünschen. Anscheinend waren ihr die Krümel wirklich nicht recht. „Ihnen auch!“, winke ich, greife nach meiner Tasche und trotte Richtung Ausgang. Nach der Ankunftshalle B 1 halte ich Ausschau, fahre mit Rolltreppen hoch und runter, frage ab und zu und biege zum Schluss einmal rechts ab.
Sie kennen das. Sie haben einen Haustürschlüssel. Und den für den Keller. Sie haben den Briefkastenschlüssel, den Schlüssel fürs Büro, den für die Wohnung ihrer besten Freundin, wo sie ab und zu dafür sorgen, dass die Katze nicht stirbt, und außerdem haben Sie noch – mehr so aus Nostalgie – den Haustürschlüssel ihrer Eltern. Man weiß ja nie.
Diesen Schlüsselbund haben Sie natürlich nicht in der Hosentasche. Sie sind ja eine Dame. Oder zumindest ein Mann, der Wert darauf legt, nicht total schiach auszusehen, weil drei Kilo Metall in einer Jackentasche mit der Folge einer gewissen Asymmetrie eigentlich jeden aussehen lassen wie den Glöckner von Notre Dame. Sie haben den Schlüssel deswegen in der Tasche.
Eine Weile geht das so seinen Gang. Eines Tages aber greifen Sie in ihre Tasche und da ist nichts. Beziehungsweise: Da, wo gestern noch Stoff war, das Innenfutter nämlich, ist jetzt nichts mehr, sondern ein Loch, und dieses Loch hat der Schlüssel gerissen. Sie ärgern sich sehr, Sie denken kurz über ein Etui nach, aber weil die unvorstellbar hässlich sind, kaufen Sie keins. Da trifft es sich doch, wenn Ihnen eine Freundin erzählt, sie hätte einen Freund, und der hätte etwas designt. Gut sieht das aus, denken Sie. Nun braucht es nur noch Käufer.
Oh mein Gott, beschwöre ich den Allerhöchsten im Namen aller Berliner. Wir mögen ein bisschen anstrengend sein. Aber das haben wir nicht verdient. Diese Dunkelheit. Diese alles durchdringende, feuchte Kälte, die selbst geborene Optimisten nicht an fröhliche Schlittenfahrten, sondern an den Tod erinnert.
Zu alledem habe ich mich vom F. überreden lassen, ohne Wagen das Haus zu verlassen. Seit er letzte Woche zwei geworden ist, fühlt der F. sich nämlich „groß“ und hat es vor fünf Minuten oben im warmen Flur deswegen strikt abgelehnt, sich in die Karre zu setzen. Mir kommt das entgegen, denn auf dem Weg zur Kita gibt es eine Treppe.
Nun aber stehen wir auf der Straße und frieren wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern und sein von H. C. Andersen aus Schicklichkeitsgründen verschwiegenes nacktes Kind. Auf den Bäumen vor dem Haus krächzen Raben ihr düsteres „Nevermore“, bei dem sich hier jeder aussuchen darf, was sie wohl meinen, und die Passanten sehen alle so aus, als sei ihr Hobby gelebte Misanthropie. So auch der F., der neben mir steht in seinem Schneeanzug mit einem Mund wie ein Strich und einer beunruhigenden Falte zwischen den Brauen. „Wollen wir denn jetzt mal?“, greife ich nach seiner Hand, aber der F. schüttelt den Kopf. Sehr entschlossen steht er da auf der Ecke zwischen der Tür der Konditorei im Erdgeschoss und einer dick verschneiten Bank. „Wir müssen jetzt los.“, unterstreiche ich meine Entschlossenheit und zerre den F. ein paar Meter weiter. „Nein!“, kreischt der F. auf einmal auf, schaut mich herausfordernd an, wirft seinen rechten Handschuh energisch in den Schnee und brüllt:
„Kalt!“, brüllt der F., und ich stimme ihm von Herzen zu. Entfärbt, eisig und so unwirtlich wie eben möglich empfängt uns die Stadt morgens um halb acht mit einem schmutzig-grauen Himmel, und alle anderen Leute am Flughafen sehen so aus, als sei Freundlichkeit zwischenzeitlich mit einer hohen Steuer belegt worden oder ganz und gar verboten.
Bratäpfel, Schlittschuhfahren, Schneemänner, bete ich mir die angenehmen Seiten des Winters vor. Der Kamin in der June Bar, Rehrücken Baden-Baden, Lesen im Bett und Feuerzangenbowle. Erschöpft gebe ich auf. Es nützt alles nichts. Der Winter ist das Letzte. „Noch fast zwei Monate bis Frühlingsbeginn.“, raunze ich herum und weiche dem vorwurfsvollen Blick des F. aus, der gerade nicht recht nachvollziehen kann, wieso wir hier sind und nicht mehr am Meer.
„Wenn dir was Gutes am Winter einfällt, sag’s mir.“, wende ich mich an den J., aber der schaut nur gepeinigt von unseren Koffern auf und versucht weiter, ein Taxi mit Kindersitz und riesigem Kofferraum zu organisieren.
Ich bin ja eigentlich gegen eBooks. Ich will schon aus lauter Neugier sehen, was Leute lesen. Mich interessiert, ob der dicke Mann mit dem offenen Hemd auf der Liege ganz vorne am Strand vielleicht Jane Austen liest. Oder Bret Easton Ellis. Oder die strichdünne Frau mit der strengen Brille und den vier hässlichen Kindern wirklich Russin ist, wie ich vermute.
Hier im Hotel allerdings hält sich die Neugier in Grenzen. Völker- und geschlechterübergreifend lesen die anderen Gäste, die noch Papier in Händen halten, von morgens bis abends Krimis. Da wird es bei den elektronischen Lesern nicht anders aussehen. Kriminalromane sind, so scheint es, nämlich die Bücher derer, die ansonsten angeblich nie zum Lesen kommen, weil sie jeden Tag stundenlang fernsehen müssen.
Neben den Krimilesern gibt es noch ein paar vereinzelte Leserinnen von Liebesromanen, also der Sorte, bei denen man gleich sieht, dass es gut ausgeht. Sachbücher werden nur ganz vereinzelt gelesen, meist Biographien. Am ganzen Strand scheint es – zumindest soweit sich das mir erschließt – nur zwei markante Ausnahmen zu geben: Eine ältere Frau mit orangefarbenen Haaren und Hühnerhals liest Arthur Koestler. Und ein dicker, roter Kerl mit wahrhaft erschreckendem Haarwuchs auf Rücken und Schultern liest seit Tagen im Pschyrembel, und wenn ich noch ein paar Tage darüber nachgrübeln muss, warum er das tut, spreche ich ihn an. Vielleicht bekommt er dann aber auch einen Heidenschreck und kauft sich ein eBook.
(Und wir: Der J. liest „Der bleiche König“. Ich habe gerade E M Delafields „Tagebuch einer Lady auf dem Lande“ und „Dracula“ durch und mache jetzt wieder weiter bei Evelyn Waugh.)
Komisch, sage ich zum geschätzten Gefährten. So stressig, wie eine Frau Baum bei faz.net und eine Frau Voigt bei Spiegel Online schreiben, ist es bei uns irgendwie nicht. Es mag diese Eltern geben, die ständig unausgeschlafen beruflich abgehängt in schmutzigen Wohnungen sitzen, sich gegenseitig nur noch als überfordert erleben und sich in ihrer knappen Freizeit Selbstvorwürfe machen, dass sie Job, Haushalt, Partner und Kind nicht gerecht werden. So würde ich auch nicht leben wollen. So muss man – meine ich – aber auch nicht leben.
Zunächst: Es mag Gegenden geben, da gibt es keine Ganztagskita. In den Großstädten ist das aber anders. Ich zum Beispiel bin Berlinerin. Ich wohne mitten im Prenzlauer Berg und kenne einen Haufen Eltern. Für alle – uns eingeschlossen – war die Kitasuche zwar ein Riesending. Wir haben den F. auf 17 Wartelisten schreiben lassen und mit Anrufen, niedlichen Bildchen und stetigen Nachfragen um den schönsten Kitaplatz gekämpft. Wie aber alle – wirklich ausnahmslos alle – haben wir am Ende aber eine Kita gefunden. Unsere liegt rund 300 Meter entfernt am Ende der Straße. Der F. kann schon heute zu Fuß zur Kita laufen, und hat dabei manchmal viel Zeit zum Trödeln und manchmal keine. Also alles so wie im echten Leben. Morgens, wenn wir ihn bringen, treffen wir die anderen Eltern, die alle in den umliegenden Straßen wohnen. Die Kinder begrüßen sich, und die anderen Eltern erzählen ein bisschen, was sie so machen und was die Kinder so tun. Besonders gestresst hören sie sich nicht an. Ein schlechtes Gewissen, wie es in den Artikeln heisst, habe ich deswegen übrigens nicht. Der F. ist nämlich sehr gern in der Kita und sieht auf den über 1.000 Bildern, die wir zu Weihnachten von der Kita auf einer CD-ROM bekommen haben, auch ziemlich glücklich aus.
Wenn man eine Ganztagskita hat, kann man aber auch arbeiten. Klar, wer für sein verdammtes „Häuschen“ eine Stunde Arbeitsweg in Kauf nimmt, weil er sich das sonst nicht leisten kann, hat ein Problem. Man muss aber nicht in einem Riesenschiff am Ende der Welt wohnen. Man kann auch gut mitten in der Stadt wohnen. Dann hat man meistens nicht so viel Platz, aber dafür viel mehr Zeit. Da muss man sich dann entscheiden, es sei denn, man ist ziemlich reich und kann auch in der Stadt 250 qm kaufen. Das muss man aber nicht. Wir wohnen auf vier Zimmern im Berliner Altbau, das ist eigentlich ziemlich schön. Ich glaube auch, dass dem F. dabei nichts abgeht. Am Ende der Straße ist ein Park, und die Kita hat eine großen Garten.
Wenn man jeden Tag arbeitet, macht man normalerweise auch Karriere. Wenn man das will. Und wenn man keine Karriere machen will oder kann, dann ändern die Kinder daran eigentlich nichts. Es mag noch die Chefs geben, für die Frauen mit Kind abgemeldet sind. Die Regel ist das aber nicht mehr. Man sollte allerdings nicht jede Extraaufgabe und jede Stunde über die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus unter Verweis auf sein Kind ablehnen. Modelle gibt es da viele. Ich kenne zum Beispiel ein Paar, da arbeitet jeder einen Tag pro Woche open end, also durchaus mal bis 21.00 Uhr oder später oder nutzt den langen Arbeitsabend, um Abendtermine zu absolvieren oder auch nur, um mit den Kollegen einen trinken zu gehen. Für das Kind zuständig ist dann der jeweils andere. Ein Abend pro Woche ist nun nicht so wahnsinnig viel. „Da kann ich nicht, aber wie wäre es Dienstag?“, ist aber gleich eine ganz andere Aussage als „Abends habe ich keine Zeit.“
Genauso Hausarbeit. Ich weiß nun nicht, wie Frau Voigt wohnt, in deren Augen Hausarbeit ein echtes Problem zu sein scheint. Wir machen da einfach nicht so viel. Wir haben einmal wöchentlich eine Putzfrau, kochen annähernd täglich tendenziell abwechselnd und ansonsten leben wir mit den Unvollkommenheiten unseres Haushalts. Wir backen also kein Brot, gießen unsere Blumen nur manchmal, und manchmal verfluchen wir einander, weil einer keine sauberen T-Shirts mehr hat oder so. Das finde ich aber in Ordnung. Genauso, wie ich es in Ordnung finde, dass der J. Dinge anders macht als ich. Dann haut es nämlich auch hin mit der halbwegs gerechten Haushaltsteilung: Man braucht eine gewisse Akzeptanz für den Umstand, dass der andere Teil der Familie Sachen anders regelt, andere Speisen kocht und anders aufräumt. Der J. etwa kann von selbst nur etwa zehn Gerichte und hat erst im letzten Jahr angefangen, aus Kochbüchern zu kochen. Das darf ich dann auch nicht kritisieren, wenn ich will, dass er auch weiterhin kocht und nicht immer nur ich. Ich bekomme deswegen zwar nicht immer das, was ich kochen würde, aber ich gewinne Zeit. Die kann ich dann etwa beim Malen mit dem F. oder beim Vorlesen oder schlicht allein in der Badewanne oder mit einem Buch verbringen, und eines Tages wird der J. ebenso gut oder besser (aber auf jeden Fall anders) kochen als ich. Das ist super, finde ich, und für den F. ist es bestimmt nett, von zwei Leuten jeweils ein bisschen anders lecker bekocht zu werden. Genauso ist es mit Babysittern, die gewährleisten, dass man auch mal als Paar vor die Tür kommt und sich statt über kaputte Staubsauger, böse Kollegen und Bindehautentzündungen im Kindergarten auch noch über Hamlet im DT, den neuen Film von den Coen Brüdern und das Essen im reinstoff unterhalten kann.
Vermutlich sind aber gar nicht die Kinder das Problem, sondern – das schreiben letztlich auch beide Autorinnen – der stetige Wunsch nach Optimierung, also der Herstellung eines Zustandes unrealistischer Perfektion. Dieser Wunsch ist aber schon seiner Natur nach nicht erfüllbar. Das zu realisieren ist allerdings nicht immer einfach, weil mit dem Abschied von der perfekten Mutter, Rechtsanwältin, Köchin, Aktivistin und Hobbygärtnerin mit dem perfekten After-Baby-Body natürlich auch Einschränkungen verbunden sind, die weh tun. Also ein Verzicht auf Geld, weil man eine Beförderung nicht mit aller Macht verfolgt. Oder auf gutes Aussehen, weil man Samstag morgen keine Lust auf die Kosmetikerin hat, sondern ausschläft. Oder es gibt regelmäßig immer mal wieder Kartoffelpüree aus der Tüte mit Würstchen aus dem Glas. Dann kann man sich entweder irgendwie asozial und schlecht fühlen oder satt und glücklich. Oder – und jetzt wird es für die meisten Leute hart – man verzichtet notfalls auf die besten potentiell erreichbaren Noten der Kinder, weil man keine Zeit und keine Lust hat, die Hausaufgaben notfalls selbst zu machen. Ich bin beispielsweise wild entschlossen, für die Schulkarriere des F. keinen Finger zu rühren. Entweder haut das von selbst hin oder nicht. Dasselbe gilt für Instrumente, Sport etc.
Letztlich hat man damit immer eine Wahl. Man kann man sich die Latte hoch legen, und dann hat man Stress. Oder man lässt die Latten irgendwo in der Ecke liegen. Man setzt sich ungebürstet und mit einem gekauften Picknick vom Bäcker auf eine Wiese, spielt mit dem Ball, liest Geschichten vor und brüllt zwischendurch kurz mal „seid jetzt alle still!“, wenn das Handy klingelt und jemand im Büro was will. Abends geht man dann heim, kocht nur, wenn man Lust hat, küsst sich auf dem Sofa und hebt die Gläser vom Flohmarkt auf das schöne Leben. Mit Kind.
Diese Website verwendet Cookies und das Tool Counterize, über das ich einige Daten, wenn auch keine IP-Adresse, erhebe und verwende. Wenn Sie auf meiner Seite bleiben, gehe ich davon aus, dass Sie damit einverstanden sind.OKNeinWeiterlesen