Leben

Blöde Bärte

Gut, schlimmer geht immer. Mein Sohn, der liebenswürdige F., könnte zum Beispiel Fußball spielen und ich würde jeden Samstagmorgen auf irgendeinem Sportplatz dieser ziemlich ausgedehnten Stadt der G-Jugend der Rotation Prenzlauer Berg dabei zuschauen, wie sie sich mit den Buben irgendeines anderen Clubs um den Ball balgt. Es wäre kalt und nass, aus großen Kannen würde saurer Kaffee ausgeschenkt, und außer mir wären alle anderen Eltern begeisterte Fußballfans und würden mit schrillen Schreien ihre Kinder anfeuern.

Doch auch das angenehmste, Fußball ganz und gar gleichgültig gegenüber stehende Kind hat seine dunklen Seiten. Ich etwa war heute das neunte Mal im Deutschen Historischen Museum, dem DHM. Sie haben richtig gelesen: Das neunte Mal. Und da sind die Besuche nicht mitgerechnet, die vorzeiten ohne den F. stattfanden.

Die Besuche verlaufen immer gleich. Der F. trabt im Laufschritt auf die Kasse zu, ich kaufe für 8 EUR eine Eintrittskarte und für weitere 3 händigt man dem F. einen Audioguide aus. Die ersten Male habe ich noch „deutsch, für Kinder“ gesagt, inzwischen sind wir Stammkunden und erhalten das Gerät mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der man Horst in der Eckkneipe ein Pils samt Korn hinstellt. Sodann läuft der F. alle 25 Stationen der Kinderführung ab, beginnend mit der Ritterzeit und endend mit dem ersten Weltkrieg. Kurz nachdem Scheidemann die Republik ausruft, ist Schluss. Was aus dieser Republik geworden ist, kann man im Untergeschoss sehen, wenn man älter ist als fünf.

Natürlich kenne ich jedes einzelne Exponat. Den Augsburger Jahreszyklus, die Pesthaube, die Bilder vom Sonnenkönig, vom Soldatenkönig, das erste Auto, das Berliner Mietshaus, na, die ganze Sammlung eben, und wenn es dem F. – was manchmal vorkommt – gelingt, andere Kinder zum Mitkommen zu überreden, höre ich auch jedesmal dieselben begeisterten Tiraden. Das Lieblingsbild des F. zeigt übrigens den Morgen nach der Schlacht von Waterloo.

Irgendwann so zwischen dem vierten und dem fünften Besuch wurde mir fad und ich begann, dem F. andere Museen anzupreisen. Ich habe eine Jahreskarte für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die sollte sich schließlich lohnen, und so führte ich den F. zu den Römern und zu den Ägyptern, wir waren bei Sauriern und Heiligen, standen vor Nofretete und Caesar, aber nach jedem Besuch drängte der F. auf einen weiteren Rundgang durchs DHM.

Woanders ist es doch auch schön, behauptete ich, aber der F. ließ sich nicht erweichen. Nofretete hätte eine komische Krone. Die römischen Mosaiken in Zypern wären schöner und in seinem Römerbuch zudem besser zu sehen. Saurier wären nur was für Babies. Zuletzt, das war kurz nach Weihnachten, schleppte ich den F. ins Pergamonmuseum, und hinter dem Ischtartor, hinter dem Markttor von Milet und dem Codex Hammurabi entfuhr dem F. dann der finale Seufzer: Die Babylonier würden Löwen schlachten und wären daher fies. Die Assyrer hätten blöde Bärte.

Napoleon dagegen sei glattrasiert.

Das Katzometer

Bei meinem Lateinlehrer waren es die Zigaretten. Mehr als eine Schachtel am Vormittag bedeutete einen nervlichen Zustand, bei dem man besser etwas Abstand hielt. Beim J.2 bemerkt man Gereiztheit an einem leichten Zucken der rechten unteren Gesichtshälfte, und einer meiner Profs fing bei etwas heftigeren Amplitudenausschlägen an, hektisch mit den Händen herumzufuchteln. Ab und zu ging dann irgendwas zu Bruch.

Mir, so sagt man, bemerkt man nervliche Strapazen eigentlich nicht so schrecklich an. Auch ich bemerke oft erst nach Wochen, ach: Monaten, dass irgendwas nicht stimmt. Als ich über Wochen jede Nacht um 3:20 aufgewacht bin, da habe ich mich dann schon irgendwann gefragt, ob der seelische Haussegen vielleicht so ein Stück weit schief hängen könnte. Oder damals, als ich 17 war und mich in ein grauenhaftes, so zum Glück zumindest in meinem Leben einmaliges Durcheinander verschiedener kreuz und quer verliebter Leute verstrickt hatte, irgendwann Überblick und Fassung verlor und auf einmal am ganzen Körper fürchterlichen Juckreiz bekam, vor allem auf der Kopfhaut, schrecklich war das, und außerdem hatte ich nach einigen Wochen quasi überall trockene Hautschuppen vom vielen Kratzen.

Nun bin ich nicht mehr 17 und ich schlafe wie ein Stein. Wie es mir geht, kann ich allerdings bis heute nicht auf Anhieb ganz zutreffend sagen, irgendwie fehlt mir da ein Organ, das andere Menschen haben, aber zum Glück benötige ich das auch gar nicht. Ich habe ja die Katze.

Nun ist es nicht so, dass meine Katze über besondere Fähigkeiten verfügen würde. Vielleicht verfügt sie nicht einmal über die normalen Fähigkeiten einer Katze. Es handelt sich um eine Rassekatze, sie bewegt sich also kaum und sieht im Wesentlichen eigentlich nur schön aus. Das Katzometer für Madames persönliches Wohlbefinden hat deswegen weniger mit dem wirklich sehr schönen Tier, als mit mir zu tun, denn mein ganz persönlicher Grad an Genervtheit ist unmittelbar an meinem Verhältnis zur Katze abzulesen: Geht es mir gut, bekommt die Katze Streicheleinheiten, ich sage ihr schöne Dinge und genieße ihr lautes Schnurren. Geht es mir mehr so mittel, verhalte ich mich zur Katze neutral, freue mich aber immer noch über ihre Schönheit und ihr freundliches Wesen. Aber dann, wenn ich wirklich ziemlich genervt bin, nervt mich sogar das Schnurren und Maunzen, und ich habe mich auf dem Höhepunkt meiner Genervtheit tatsächlich bereits dabei ertappt, wie ich der Katze eine vorwurfsvolle Ansprache darüber gehalten habe, dass ich nun wirklich genug davon hätte, dass nun auch noch sie etwas von mir will. Und wenn es nur Trockenfutter ist.

Gerade wird es aber deutlich besser.

Der Regen regnet jeden Tag

Jahresrückblick 2017

Ich lebe jetzt fertig, schreibe ich irgendwann im Frühjahr in einer Mail und mich schaudert ein wenig. Ich bin 41. Brechts Radwechsel fällt mir ein, das Gedicht, in dem der Dichter nicht gern ist, wo er herkommt, und nicht gern dort, wo er hinfährt, und trotzdem ungeduldig auf die Weiterfahrt wartet. So geht es auch mir, denke ich morgens auf dem Weg ins Büro und laufe durch den kalten, trüben Regen. Mein Leben sieht gut aus, weiß ich, aber besonders zufrieden macht es mich nicht. Ich fühle mich, schreibe ich irgendwann im April, so gelangweilt und erschöpft zugleich wie jemand, der 16 Stunden am Tag Dosen stanzt. Es sind teure Dosen, das ist wahr. Aber das macht es nicht besser.

So wie Brecht geht es mir nicht, erkenne ich. Da ist es Mai. Ich bin nicht besonders glücklich und ich erwarte nichts von der Zukunft, in der keine Veränderungen angelegt sind, weil ich die vier Wände meines Lebens fest verleimt habe, und alle Fenster fester verschlossen sind, als ich mal dachte. Wenn ich rüttele, passiert nichts. Aber da, wo ich herkomme, ging es mir einmal sehr gut, erinnere ich mich. Ich war an manchen Tagen sehr unglücklich, an manchen anderen aber war ich ein Feuerwerk, die große Oper und alles, was ein Mensch sich wünscht, der sich leicht langweilt. So gut ging es mir damals, suche ich in mir die alten Zeiten zusammen und laufe durch die braunen Pfützen im Park.

So will ich nicht sein, denke ich, da ist es Sommer, und schaue die Menschen an, die so ein Leben schon sehr lange führen. So wäre ich nie, weiß ich, das ist in mir nicht angelegt, und alle Pokale, die es dafür gibt, so zu sein, will ich nicht haben. Vielleicht könnte ich, überlege ich einige Wochen, in meiner Dosenfabrik umräumen, andere Dosen stanzen, was auch immer, aber dann schaue ich mich um und mir graut davor, und vermutlich ginge es auch gar nicht.

Ich wünsche mir Abenteuer, schreibe ich einer Freundin, da ist es Juli. Das Unvorhergesehene, das Experiment, diesen Zustand des Hellwachseins, zuckende Blitze und Nächte am Meer. Ich will nicht jetzt schon wissen, was in drei Jahren passiert, ich möchte noch einmal jemand anders sein, und ich will mein Leben und mich wieder bewohnen. Ich will mein Leben nur mit Menschen teilen, die ich mag.

Es ist ein warmer, schwüler Sommer, vom Himmel fallen die Wasser, als wollten sie uns alle ersaufen. Im Internet kursieren Bilder, in denen die Bahnhöfe von Berlin im Wasser verschwinden wie die von Atlantis. Am Horizont tauchen Wale auf, riesig, schillernd und irisierend. Najaden winken mir zu, tief hängen warme, dunkle Wolken von meinem Himmel in meine Stadt und in meinen Kellern säge ich Holz für meine eigene Arche.

In der Küche

Vier bin ich oder fünf, sitze unterm Tisch, denn da störe ich nicht, und schaue auf die leberwurstbraun bestrumpften Beine meiner Großmutter unter der wehenden Schürze, die durch die Küche hin und her läuft und immer hurtig, nie hektisch Tag für Tag drei Gänge auf den Tisch bringt. Meine Großmutter wirft nie etwas weg, kauft so wenig wie möglich, deswegen stammt so gut wie alles Gemüse aus dem Garten, den sie liebt und pflegt, und in den ich gern geschickt werde, um aus dem Weg zu sein zum einen, und zum anderen, um in einer weißen Schüssel aus Emaille mit blauem Rand Bohnen, Erdbeeren, Gurken oder eine Handvoll Dill zu holen. Riesengroß wuchern die Bohnenranken mir weit über den Kopf.

Meine Großmutter plant das Essen jeder Woche in einem schwarzen, linierten Buch mit roten Ecken, um ganz und gar sicherzustellen, dass nicht auf einmal der Rindsbraten vom Sonntag verdirbt, weil es weder Montag noch Dienstag Gröstl oder einen Ungarischen Salat mit Paprika und Tomatenmark und harten Eiern gibt. Sie ist die Königin der Resteverwertung: Gibt es am Montag Pfannkuchen mit Marmelade, tauchen am Mittwoch einzelne Pfannkuchen gefüllt mit süßem Quark und mit Eischnee überbacken als Nachtisch auf. Oder in Streifen geschnitten in einer Hühnerbouillon, die wiederum, da kann man sicher sein, von einem Hühnerfrikassee übrig geblieben ist. Am Ende jeder Woche steht, wie bei einer guten Mathematikaufgabe, jeweils eine glatte null.

Fünf bin ich oder sechs, sitze mit einem Messer am Garten, grau schraffierte Wachstuchdecke auf dem Tisch, und schäle Kartoffeln, Möhren, aber nicht zu dick, reibe Sellerie oder schneide einen Schinkenrest in ganz gleich große, rosafarbene Würfel für einen Salat. Seit kurzem gibt es eine Moulinette, seitdem gibt es noch mehr Gemüsesalate und Puffer, die bei uns mit dicker, saurer Sahne serviert werden, sehr gern mit Räucherfisch oder Matjes. Dazu gibt es grünen Salat, Gurken- oder Bohnensalat, je nach Jahreszeit. Einmal die Woche gibt es Fisch, zweimal Fleisch und je einmal Eintopf, etwas mit Nudeln oder Reis und süß.

Niemals sehe ich meine Großmutter etwas wiegen oder mit einem Litermaß messen. Vor ihr steht beim Kochen immer eine kleine Tasse, in der Tasse ein kleiner und ein großer Löffel, damit misst sie eigentlich alles: Auf drei Tassen Bouillon braucht es einen großen Löffel Mehl und einen mit Butter für die Bindung und eine halbe Tasse Sahne. Für einen einfachen Kuchen braucht es vier Eier, drei Tassen Mehl, zwei Zucker und eine Tasse flüssige Butter, einen kleinen Löffel Vanillezucker, selbst gemacht, und einen weiteren kleinen Löffel Backpulver. Wer Apfelkompott kochen will, braucht für jeden Apfel einen kleinen Löffel Zucker und auf vier Äpfel einen halben Löffel Anis. Dasselbe gilt für Zeiten: So gut wie nie stellt die Großmutter die Eieruhr. Fleisch wird mit dem Daumen geprüft, in Gemüse kurz angeschnitten, und mancher Fisch wird von jeder Seite so lange angebraten, wie ein Ave Maria dauert, das die Großmutter natürlich nicht aufsagen muss, weil sie in den Zehenspitzen hat, wann ein Fisch durch ist.

Sechs oder sieben bin ich und meine Großmutter beginnt, laut in meine Richtung zu zählen und mich wiederholen zu lassen, was sie tut. Sie hat hunderte von Rezepten im Kopf, scheint es mir, und ich bewundere meine Großmutter für diese Gedächtnisleistung, die mir ebenso artistisch erscheint wie die des Großvaters, der Zahlen, Daten und Gedichte in seinem Kopf hortet und ab und zu abfragt. Ich habe ein gutes Gedächtnis, ich fürchte seine Fragen nicht, die Schwesterchen die sonntäglichen Mahlzeiten verleiden. Vor meiner gütigen Großmutter fürchtet sich keiner.

Kauft meine Großmutter ein, gehe ich an ihrer Hand und trage ein buntes Netz wie sie, nur kleiner. Meine Großmutter spricht mit allen Händlern, erkundigt sich nach nach kranken Beinen, Ärger mit der Versicherung, der Versetzung der Kinder, und bestellt immer ganz genau das, was auf ihrem Einkaufszettel steht. Ab und zu erklärt sie mir, warum sie diese Linsen kauft und nicht jene, was Mehl von Mehl unterscheidet, wozu man Süßrahm braucht und wozu sauren, wann es sich nicht lohnt, die teuren Pfirsiche zu nehmen, und welches Suppenfleisch man auch noch essen kann und wie, und wie lange Speisen halten, roh oder gekocht. Wie man den Tisch deckt, lerne ich, und wie man Servietten faltet. Wo man Würdenträger hinsetzt, was man wem zu essen gibt, und welche Speisen für Kranke, für Männer, für Wöchnerinnen oder für Kinder am besten sind, und wie man ein festliches Essen am besten plant, wenn man niemanden zur Hilfe hat, was, wie meine Großmutter hinzufügt, gebe Gott niemals eintreten möge, solange ich lebe.

Von allem, was meine Großmutter mir gewünscht hat, ist kaum etwas eingetreten. Ich führe kein großes Haus, das sie mir prophezeit hat. Mein Mann ist kein Botschafter und kein Bankier. Ich habe kein, wie man so sagt, festes Mädchen, und ich vermisse auch nichts davon, aber manchmal, wenn ich in der Küche stehe, um schnell ein paar Nudeln zu kochen oder Currypaste in Kokosmilch rühre, dann tut es mir doch leid um die Großmutterküche, die Großmuterrezepte und die ganze Großmutterwelt, in der ich doch auch nicht glücklich geworden wäre.

Aber wer weiß.

Dolcezza d’Amore

In vorweihnachtlicher Versöhnlichkeit, meine Damen und Herren, wollen wir einmal nicht darüber urteilen, was in einer uns sozusagen entfernt bekannten Dame vorgegangen sein muss, als sie, obschon verheiratet und Mutter, einfach so letzten Donnerstag ihr Herz an einen ganz anderen Herrn als ihren Eheherrn verschenkt hat. Vielleicht ging es aber auch gar nicht in erster Linie um ihr Herz.

Nun ist es mit Herzen ja so eine Sache. Die Dame gilt generell als ein klein wenig, gar nicht so arg sehr, aber vielleicht ein bisschen flatterhaft. Der Herr, um den es hier gehen soll, ist dagegen, wenn auch anderweitig verheiratet, ein schon als ausgesprochen beständig bekanntes Wesen, und vielleicht macht das die ganze Sache zwar in den Augen aller billig und gerecht Denkenden nicht besser, aber zumindest für den Romantiker ein wenig leichter verdaulich, denn der ihr nunmehr zumindest lose zugehörige Herr behauptet  steif und fest, er sei überhaupt schon immer bis über beide Ohren, na, und so weiter. Was Leute in solchen Situationen eben so sagen.

Am Freitag Abend jedenfalls stand besagter Herr nun einigermaßen spontan vor der Haustür der Dame, die dort mit ihrem Gatten und den gemeinsamen Kindern ein verhältnismäßig kultiviertes, wenn auch möglicherweise etwas reizarmes Leben führt, spielte eine Runde Backgammon mit dem Herrn des Hauses, plauderte mit besagter Dame, las den Kindern etwas vor und verabschiedete sich über die Weihnachtsfeiertage, weil er die mit seinen Kindern bei seinen Eltern verbringt. Die Verhältnisse sind nämlich allseitig ein wenig kompliziert. Dem besuchten Paar ließ er einen belgischen Gewürzkuchen da, den Kindern schenkte er belgische Schokolade, und die Dame bekam so halb heimlich eine Bonbonkette, also so eine zusammengebundene Kette mit so vielen Bonbons, wie Tage vergehen, bis man sich wiedersieht. Die meisten Leute findet das kitschig, aber die sind wahrscheinlich schlicht gerade nicht verliebt.

Auch unsere Dame ist schon sehr angetan von dem wirklich sehr hübschen Mann, aber verliebt ist sie definitiv nicht. Damen verlieben sich einfach nicht so schnell. Diese Dame schnitt die Bonbonkette deswegen einfach auseinander, stellte eine ihrer wirklich schönen, englischen Silberschalen auf den Tisch und drapierte die Bonbons darin. Ein paar Stunden später waren die Bonbons weg.

Im Laufe des Tages dachte die Dame nicht mehr an die Bonbons. Abends allerdings erhielt sie eine E-Mail von dem abgereisten Herrn. Das war an sich nicht weiter erstaunlich, weil der abgereiste Herr ihr ständig schreibt, aber diesmal war ein Bild von einem Bonbon dabei – offenbar hatte er auch sich eine Kette gebastelt – das er malerisch auf ein aufgeschlagenes gutes Buch geschoben hatte, und das Buch wiederum lag auf einem Intarsientischchen vor einer sehr, sehr schönen seidenen Tapete. Unter diesem Bild stand nur „Und Dein Bonbon?“

Die Dame fluchte. Noch unromantischere Leute hätten vermutlich einfach zugegeben, die Bonbons verfüttert zu haben, aber zum einen ist unsere Dame nicht so unromantisch, wie es für ihr Seelenheil vorteilhaft wäre, zum anderen will sie den hübschen Mann behalten und vermutet, dass er ein solches Gestädnnis übel nehmen könnte. Unsere Dame begab sich also am Samstagmorgen zum Einkaufen und erwarb dort, unter anderem, einen ganzen Beutel gleichartiger Bonbons, die sie zähneknirschend zusammenband, um vermutlich mindestens zwei Wochen Bonbon für Bonbon stimmungsvoll drapiert zu fotografieren. Wie man hört, überlegt unsere Dame inzwischen, ob es in der Stadt nicht doch noch irgendwo ähnlich reizende, aber weniger romantische Leute gibt, also mehr so ohne Bonbons, und lässt sich von lieben Freunden hänseln, die ihr vorhalten, kleine Sünden bestrafe der liebe Gott halt sofort.

Ein Fest fürs Leben

Es gibt einen Haufen Gründe, sagt man, wieso es der verstorbene Vater des B. möglicherweise nicht in den Himmel geschafft haben könnte, zumindest dann, wenn der liebe Gott wirklich so ein humorloser Kerl ist, wie manche sagen. Ich aber, ich weiß, dass er doch auf einer der weißesten Wolken überhaupt sitzt, mit den Beinen baumelt und den Engeln unter die Röcke schielt, seit der B. fünf Schulfreunden gemailt hat, weil er selbst keine Zeit hat und wohl auch keine Lust. Anders als sein Vater ist der B. nämlich kein so besonders volkstümlicher Typ.

Leider hat Silvester eigentlich niemand Zeit, der eine Familie hat. Wir hoffen deswegen alle, dass einer der anderen Angeschriebenen wider Erwarten doch kann, oder der B. selbst seinem Herzen einen Stoß gibt, denn von den Leuten, die in dem Bus sitzen werden, war noch keiner je in Frankreich, und zumindest der Vater des B. hat keinem seiner postmortalen Gäste eine Reise ohne Cicerone zugetraut. Vermutlich haben sie es alle seit Jahren nicht mehr an andere Orte als in den Penny Markt am Bahnhof und die Kneipe Bei Helga geschafft, wo ein Bier und ein Korn noch 2,20 EUR kosten, und manche Gäste im Wesentlichen von Helgas Erdnussflips leben, die sie in Plastikschüsseln auf die Theke stellt.

Wieso der Vater ausgerechnet in dieser wirklich miesen Kneipe von Zeit zu Zeit sein Bier zu trinken pflegte, würde sein leicht verspannter Sohn mir vermutlich nicht einmal dann erzählen, wenn er es wüsste. Vielleicht hat es mit seiner Kindheit zu tun, über die er nie sprach. Vielleicht war seine Vorliebe für diese Kneipe Ausdruck einer Art Outlawromantik, aber was es auch war: Er war dort gern gesehen, und zwar nicht nur, weil er freigebig Runden ausgab.

Ich war ja nicht dabei, aber er muss mit den Stammgästen oft über Paris gesprochen haben. Er sprach überhaupt gern über Paris, er hatte ein paar Jahre dort gelebt und auch als ganz junger Arzt in einem französischen Krankenhaus gearbeitet, und sein Französisch war so gut, dass ab und zu Franzosen annahmen, er käme aus irgendeinem anderen Teil Frankreichs. Wenn das geschah, freute er sich über alle Maßen und erzählte in den folgenden Wochen gern davon.

Ich stelle mir vor, dass Paris, ach: Frankreich generell, für die Stammgäste bei Helga, die nie reisen konnten, mit den Jahren auch zu einem Sehnsuchtsort wurde. Belmondo, Jules et Jim, Delon, Catherine Deneuve, irgendwie so. Nach Paris hat es trotzdem nie einer dieser verlorenen Trinker geschafft, und so wird Gottvater, der ja auch der gnädige Gott des guten Königs Henri IV. ist, dem Paris eine Messe wert war,  es dem Vater des B. sicherlich hoch anrechnen, dass er vor seinem Tod einen Bus und ziemlich viele Hotelzimmer bezahlte, auch Geld für ein ausgeklügeltes Besuchsprogramm in einen Umschlag schob, und seinen Sohn bat, die Stammgäste von Helga nach Paris zu begleiten.

Das Mädchen aus der Eisenbahn

Geben Sie ruhig zu: Sie machen das auch. Ich jedenfalls – allerdings fällt mir das aus naheliegenden Gründen auch etwas leichter als anderen Leuten – tue jedenfalls fast schon regelmäßig so, als verstünde ich kein Deutsch, wenn es mir gerade in den Kram passt, und auch meine liebe Freundin A. hebt auf absolut entwaffnende Art und Weise hilflos die Schultern, wenn Leute sie in unerwünschte Gespräche verwickeln wollen. Meistens erspart diese kleine, ganz und gar harmlose Flunkerei einem selbst zähe Konversationen. Manchmal aber, wenn auch ganz selten, geht das schief.

Die A. beispielsweise saß vor fast 20 Jahren in einem ICE und fuhr nach Hause. Die A. stammt nicht aus Berlin, sondern aus einer Kleinstadt in Hessen, und die Hessen, sagt sie, seien überaus gesprächig, dabei zudem entsetzlich distanzlos, und so hatte sie sich mit einer US Vogue präpariert und blätterte durch die mehrere hundert Seiten Werbung, aus denen dieses Periodikum besteht.

Der S. ließ sich jedoch hiervon nicht abhalten. Die A. hat seither bei solchen Gelegenheiten immer Zeitschriften in völlig abwegigen Sprachen gekauft. Die Vogue gibt es immerhin in vielen Ländern. Aber damals sah der S. sie erst an, dann sprach er sie an, natürlich auf englisch, sie nannte ihm einen englischen Allerweltsnamen, und schließlich verabredete er sich mit ihr am folgenden Tage. Der S. war damals sehr attraktiv. Die A. ging also hin.

Die A. war damals, heute darf man sagen, vielleicht ein wenig leichtlebig. Außerdem war ihr heutiger Mann damals noch längst nicht so amüsant wie heute. Die A. blieb also über Nacht.

Nun ist es ein wenig schwer, nach dem Anknüpfen einer Bekanntschaft irgendwann zu gestehen, dass man zum einen nicht heisst, wie man zu heißen behauptet hat. Und auch nicht Engländerin ist. Und erst recht unmöglich erscheint dies am Morgen nach einer gemeinsamen Nacht, und so blieb die A. kurzerhand bei dieser Version, richtete eine E-Mail-Adresse für ihren englischen Namen ein und kommunizierte in den nächsten Jahren immer mal wieder mit dem S. über diesen Kanal. Ab und zu traf man auch mal aufeinander. Dann verlor sich der Kontakt.

Mehr als ein Jahrzehnt dachte die A. nie an den S. Mein Gott, man kann schließlich nicht an jeden denken, insbesondere dann nicht, wenn, wie im Falle der A., schon fast jeder, den man so trifft, ziemlich ausführlich an einen selbst. denkt, denn die A. ist sehr einnehmend und überaus schön. Ein ausgewogenes Gegenseitigkeitsverhältnis im Einzelfall ist da vielleicht ein bisschen viel verlangt. Vermutlich hätte die A. den S. in den nächsten Jahren ganz und gar vergessen, wenn er nicht auf einmal auf einem Gartenfest vor ihr gestanden hätte, das die A. mit ihrem Mann im Sommer besuchte.

Der Gastgeber stellte die A. und den S. einander vor. Die A. natürlich mit ihrem richtigen Namen. Die A. lächelte also freundlich, betrieb Konversation, zeigte keinerlei Zeichen des Erkennens und wich dem S. tendenziell schon eher so ein wenig aus. Der S. schaute stirnrunzelnd ein paarmal zur A. hinüber, aber dann ging alles gut, der S. ging irgendwann, die A. und ihr Mann gingen auch. Die A. atmete auf.

Einige Wochen später jedoch erhielt die A. eine Freundschaftsanfrage auf facebook. Man hat gemeinsame Freunde, an sich ist das nicht näher erstaunlich, man stellte auch schnell Gemeinsamkeiten fest, und weil der S. immer noch ungemein attraktiv ist, verabredete man sich tatsächlich in einem Café. Da saßen sie also, die A. und der S., und aßen Torte und tranken Tee.

Die A. wartete und sah den S. von der Seite an. Der S. lächelte, charmierte, erzählte von zuhause, was er so beruflich macht, und irgendwann, es war spät geworden, strahlte er die A. an und nahm ihre Hand.  Sie würde, so sagte er, ihn an ein Mädchen erinnern, das er einmal kannte. Oh, sagte die A. Ja, nickte der S. Lange sei das her. Eine Engländerin sei das gewesen, fuhr er fort. Leider sei damals nichts draus geworden.

Er habe, so sagte er, sie sehr geliebt.

Journal :: 29.11.2017

Wie randvoll ist unser aller Leben, denke ich auf dem Rückweg nach dem Essen ins Büro und schaue ein paar Studenten zu, die Kaffee trinkend durch die Straßen schlendern. So viel Zeit hatten wir auch mal, versuche ich mich zu erinnern. Schön war das.  So viel gelesen. So viel ausgegangen, so viele Leute so gut kennengelernt wie später nie wieder. Viel gefeiert, viel spazieren gegangen, viel geschrieben und gut gegessen.

Eigentlich hast du keinen guten Tausch gemacht, denke ich, auch wenn das ungerecht ist und nicht einmal stimmt. Eigentlich hättest du dein Leben als Abiturientin, als Studentin, als Doktorandin und als ganz junge Anwältin noch einmal für einen kurzen Urlaub in die eigene Vergangenheit zurück.

Spätere Generationen werden ungläubig darüber lachen, dass wir nur hilflos immer nach vorn in der Zeit treiben. Vielleicht werden schon der F. oder seine Kinder dann, wenn ihnen die Gegenwart zu anstrengend ist, die Zeit einfach ein bisschen verlangsamen oder vor- oder zurückspulen, verreisen sogar, und dann um so mehr genießen, was gerade gut ist in ihrem Leben, wie Freundschaften, Pläne, gutes Essen, Reisen und all das, was man vielleicht mit 20 nur deswegen nicht vermisst hat, weil man wusste, dass es eines Tages kommt.

Journal :: 28.11.2017

Ich kenne wahnsinnig erwachsene Leute, Monumente des Establishments, die mit der ernsthaftesten Miene der Welt extrem seriöse Sachen sagen. Manche dieser Leute mag ich sogar gern. Vermutlich, aber wer weiß das genau, haben aber auch diese Leute Freunde, mit denen sie ganz und gar nicht ernsthafte Gespräche führen, viel zu viel Bier trinken, wahnsinnige Pläne schmieden und sich darüber unterhalten, was sie werden wollen, wenn sie mal groß sind, dabei sind sie auch schon über vierzig.

Freund M. und ich wollen jedenfalls berühmte Schriftsteller werden, zumindest nach drei Bier und einer ordentlichen Portion Hummus, und nach einem weiteren Bier glaube ich sogar, dass das hinhaut. Einen Plot habe ich auch schon, mehr Zeit zum Schreiben habe ich hoffentlich sehr bald, und so fahre ich Stunden später viel zu spät, aber sehr fröhlich nach Hause in den Prenzlauer Berg und freue mich auf den Winter, auf das nächste Jahr, auf die Zukunft, die ich mir sehr lustig vorstelle, ein bisschen abenteuerlich und sehr verwegen, zumindest für die Verhältnisse einer so erwachsenen Person wie mich, die in den Augen Dritter vermutlich auch sehr, sehr seriöse Sachen sagt.

Journal :: 27.11.2017

Kurz ergreift mich das Bedürfnis, mit etwas zu werfen, aber was nützt das, wenn derjenige, nach dem man es werfen möchte, leider nicht anwesend ist, sondern einen telefonisch sozusagen verhöhnt, ohne das auch nur zu bemerken. Passenderweise ist es draußen dunkel und kalt, über die Fenster läuft schwarzer Regen, und obwohl es so aussieht, als würde es nie wieder hell, ist es eigentlich erst kurz nach fünf, und hier ist nicht der Hades, sondern bloß ein Büro.

Auch der Mann am anderen Ende der Telefonverbindung steht in einem Büro und wollte vor zehn Minuten mit mir über Kekse sprechen und über unsere Chancen, unsere Kinder doch noch christlich beschulen zu lassen und sie nicht dem gottlosen Berliner Bildungssystem in den schadhaften Rachen zu werfen. Von diesen Themen ist er dann allerdings abgekommen und nun sprechen wir seit zehn Minuten über Bücher. Ich lobe Kehlmanns „Tyll“, mit dem dem Meister des eleganten, ein wenig leblosen Plots nun wider Erwarten doch ein Roman gelungen ist, in dem der Dreck stinkt und Körper atmen, und in dem die Magie wirklich lebt und webt und nicht nur zitiert und behauptet wird. Aha, sagt er und schweigt für eine Minute. Dich, sage ich, um das Schweigen nicht über Gebühr auszudehnen, habe ich auch kürzlich zwischen zwei Buchdeckeln getroffen, und er lacht und fühlt sich, glaube ich, ein wenig geschmeichelt.

Ich dich auch, sagt er. Ich ziehe scharf die Luft ein und fürchte mich ein bisschen. In der Tat. Ich fürchte mich zu recht. Isabel, sagt er. Isabel in Jackie Thomaes „Momente der Klarheit“, dieses sehr wahre, sehr traurige, sehr treffsichere und unglaublich lustige Buch von vor ein paar Jahren über halb kreative, halb bürgerliche Mittvierziger in Berlin, die alle einmal etwas mit allen hatten, und in vielen kurzen Episoden jeweils den einen Moment erleben, in dem sie feststellen, dass die Liebe vorbei ist, und dann weitermachen oder auch nicht.

Wieso ausgerechnet Isabel, frage ich. War diese Isabel nicht Videokünstlerin? Ich habe eine intensive Abneigung gegen Videokunst. Und ist Isabel nicht eine ziemlich überspannte Person, die in Regisseur Engelhardt erst das Gefühl hervorgerufen hatte, ein jahrzehntelanger Irrtum habe sich endlich aufgeklärt, um dann Knall auf Fall zu einem Fremden zu ziehen, und Engelhardt auch noch den Umzug machen zu lassen? Eine Person, die im Personenverzeichnis als ebenso gewinnend wie angriffslustig bezeichnet wird? Die fiese, Haare ausreißende Schwester von Natalie, die eigentlich nur in emotionalen Extremen existiert? Die dann den total langweiligen Anwalt Clemens am Schlachtensee kennenlernt, der sich irgendwann von ihr trennt, weil sie sich offenkundig nicht die Bohne für ihn interessiert.

Ausgerechnet Isabel, ächze ich und überlege, ob eine Schädeldecke wohl bricht, wenn man mit einem schweren Locher auf sie einschlägt. Hier liegt ein Irrtum vor, proklamiere ich. Ich halte mich in der Tat eher für etwas zu kontrolliert als für das Gegenteil. Und ich mag manchmal Launen haben, aber ich bin Meilen entfernt von einer Frau, die die eigene Schwester für eine bisweilen gefährliche Borderlinerin hält, und nicht zuletzt seit über 20 Jahren in beispielhafter emotionaler Stabilität dem geschätzten Gefährten verbunden. Jaja, lacht man mich aus, und dann spricht man übergangslos wieder über Kekse.

Und hier sitze ich nun und denke darüber nach, welch schreiendes Unrecht es bedeutet, von seinen engsten Freunden so bösartig verkannt zu werden, und wie man sich hierfür als gesetzte Dame in durchaus mittleren Jahren am gediegensten rächt. Vorschläge gern in die Kommentare oder per E-Mail.