Leben

Vergehen wir auch

Gut sieht sie aus, die A., denke ich, als die Tür schwungvoll erst auf- und dann wieder zufliegt. Groß und blond ist die A., mit einem unverwüstlichen Teint gesegnet, der auch nach einer durchgemachten Nacht nach Landluft und Junirosen aussieht, mit haselnussbraunen, riesengroßen Augen und einem giraffenlangen Hals.

„Alles gut?“, drücke ich die Freundin kurz an mich, und die A. zieht eine komische Grimasse. Dann müssen wir alle beide lachen und setzen uns hin. A. ist ein Sonnenkind, ich kann mich in ihrem Leben an kein einziges ernsthaftes Problem erinnern, wenn man mal von den Problemen absieht, die sie höchstselbst auslöst, aber die beeinträchtigen ja nur mittelbar sie. Heute aber scheint es ihr wirklich nicht so wahnsinnig gut zu gehen, deswegen trinkt sie nur ein bisschen Suppe und Sekt mit Sorbet. Die A. war nämlich beim Zahnarzt, und der konstatierte wohl schon eher ernsthafte Zahnschäden, weil die A. sich in den letzten Jahren wohl angewöhnt hat, die Kiefer ganz fest aufeinanderzupressen und nachts mit den Zähnen so stark aufeinanderschlägt, dass ein paar Zähne davon kaputt gegangen sind.

Erst bei A.s zweitem Drink erscheint auch die H. Ich kenne die H., weil wir fast zeitgleich Babies hatten, und habe erst später zufällig erfahren, dass sie mit der A. zusammen studiert hat. Damals, also 2012, hat sie bei mir um die Ecke gewohnt, aber inzwischen lebt sie in Lichterfelde West, hat noch ein Kind mehr, ein riesiges Haus, ständig Ärger mit ihren Kindermädchen, einen dauerhaft abwesenden Gatten, der ständig irgendwo wirtschaftsprüft, und einen Job, den sie aus Gründen der Selbstachtung nicht aufgibt, aber mit einem in fünf Jahren zehnmal operierten Ältesten schon eher selten so ausübt, wie sie sich das vermutlich einmal vorgestellt hat.

Die H. wirkt immer so, als habe sie gerade einen Marathonlauf hinter sich, und so lässt sie sich auch heute schwer atmend auf die Bank fallen, als sei sie aus Charlottenburg nach Mitte gerannt und nicht etwa gefahren. Die H., fällt mir auf, sieht nicht gut aus. H. ist Asiatin, nicht größer als so ungefähr 1,60, und irgendwann in den letzten Jahren ist sie zu einer Frisur übergegangen, die vermutlich sehr praktisch ist, mit der aber jede Frau aussieht wie eine Hommage an Ingrid Matthäus-Maier.

Schlank war die H. schon immer, erinnere ich mich. Inzwischen ist sie aber so dünn, dass man an ihrem Unterarm Elle und Speiche sehen kann, und ihr Kopf im Verhältnis zum Körper irgendwie unverhältnismäßig groß wirkt. Ich glaube, wir sind gleich alt, aber die H. ist inzwischen so dünn, dass auch ihre Haut irgendwie ausgemergelt wirkt, und als die A. und ich uns über den Tisch hinweg ansehen, weiß ich, dass auch sie dasselbe denkt wie ich.

So richtig ist aus der H. nicht herauszubekommen, was ihr eigentlich fehlt. Vielleicht ist es wirklich nur Zeit und die Sorge um das kranke Kind und der Umstand, dass sie sich um alle und keiner sich um sie kümmert. Oft, höre ich, isst sie erst abends, wenn ihr auffällt, dass sie gar nichts gegessen hat, die Reste des Abendessens der Kinder. Auch heute mag sie nichts essen und belässt es bei einer Kanne Tee. Ich esse meine Suppe allein.

Oh je, denke ich auf dem Heimweg nach über die A., die in allem Komfort und geliebt von ihrem freundlichen und nur ein klitzekleines bisschen langweiligen Mann sich an ihrem Glück offenbar gerade die Zähne ausbeisst, und an die H., die unter dem Druck ihres Lebens buchstäblich verschwindet. Was sie hätten anders machen können, grübele ich ergebnislos nach, als ich an der Ampel stehe und mir im zerkratzten Spiegel eines Second-Hand-Ladens zusehe, wie ich langsam über die Straße laufe, die rechte Hand im Nacken, der seit Wochen verspannt ist, aber wer will sich schon umsehen.

Über Schmerzen

Man sagt, sie seien unglaublich verliebt gewesen in den B. Sie war so circa 20, die andere wohl etwa gleich alt, und als die andere die ganzen Briefe von ihr in einer Schublade in seinem Schreibtisch fand und ihr – schließlich stand ihre Adresse auf jedem Umschlag hinten drauf – einen unglaublichen Brief voller Beleidigungen insbesondere in Hinblick auf ihr Aussehen, ihren Charakter und ihre Sexualmoral schrieb, wäre sie für einige Stunden am liebsten gestorben.

Hätte sie den ersten Brief, den sie der Absenderin schreiben wollte, abgesandt, hätten sie sich wohl niemals getroffen. Weil sie aber nicht einmal den zweiten, sondern erst den dritten Brief zum Postamt trug, weil man ja damals noch ernsthaft Postämter aufzusuchen pflegte, saßen sie sich dann doch ein paar Tage später in einem Café in der Nähe der Uni auf ein paar knirschende Korbstühlen gegenüber und mochten sich sofort. Die andere war Georgiern mit einem tollen Akzent, unglaublich hohen Absätzen in einer Welt, in der quasi jeder Chucks und Ballerinas trug, einem Ausschnitt bis knapp über den Brustwarzen, und sah trotz dieser Aufmachung aus wie die Königin von Saba an einem besonders guten Tag.

Sie erzählten dem B. niemals, dass sie sich kannten. Sie trafen sich in dem Café in der Nähe der Uni oder in der Mensa, schrieben sich kurze E-Mails oder SMS, und tauschten sich über den B. aus. Über seine Angewohnheiten, seine Ankündigungen, deckten kleine oder große Lügen auf, und manchmal spekulierten sie darüber, ob er wohl noch andere hätte, also eine Dritte oder Vierte oder so, aber das bekamen sie niemals heraus. Nach einigen Monaten hatten beide, wie sie sich gestanden, ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich ausmalten, der B. gehöre einer von ihnen ganz. Als sie sich wieder mit ihrem Exfreund vertrug und die andere sich unsterblich in einen Tenor verliebte, waren beide ganz erleichtert.

Die andere heiratete vier Jahre später einen Russen und brach sofort ihr Studium ab. Mit dem Russen zog sie ziemlich oft um, weil er irgendwas mit Immobilien zu tun hatte, und die stehen nun einmal immer woanders. Heute lebt sie in Nikolassee, sie hat zwei Söhne und eine Tochter, sie sammelt Abendmode der Zwanziger und träumt davon, einmal ein Museum für diese Roben einzurichten, und wenn sich beide treffen, lachen sie manchmal über kleine Mädchen, die sich aus Liebe dazu hinreißen lassen, sich vor Fremden lächerlich zu machen, und bemerken nur manchmal, sehr selten, in kurzen unbewachten Momenten, dass es viel trauriger ist, für keinen Schmerz mehr erreichbar zu sein und über die Leiche seiner selbst nur zu lachen.

Per Voi Risplenda Al Fato

Da stehe ich also vorm Bahnhof von Halle und verfluche die Deutsche Bahn. Irgendwo weit weg, wo es schöner ist als in Halle, bildet sich auf dem Gesäß von Hartmut Mehdorn wie aus dem Nichts ein blauer Fleck, als ich mit dem Absatz meiner linken schwarzen Sandalette ein paarmal kräftig zutrete, nur vermeintlich in die Luft. Dann greife ich nach meinem Rollkoffer voll Papier und rattere in die Unterführung. Mein ICE nach Berlin ist weg. Ich habe jetzt sehr, sehr viel Zeit.

Ich war ein paarmal beruflich in Halle, aber in der Stadt selbst war ich noch nie. Plattenbauten assoziiere ich. Stiernackige Nazis, die mit großen Keulen Vietnamesen jagen, ja, und Hans-Dietrich Genscher natürlich, der nach der Wiedervereinigung nicht oft genug betonen konnte, dass er aus Halle stammt, was der FDP im Osten, glaube ich, aber auch nichts eingebracht hat. Immerhin wird es auch hier wohl eine Fusgängerzone geben, da kann ich ein bisschen einkaufen, weil ich nichts mehr anzuziehen habe, nicht so mädchenhaft kokett mit vollen Schränken nichts anzuziehen, sondern so wirklich.

Etwas ratlos stehe ich vor einem Wegweiser und starre abwechselnd auf die verschiedenen Pfeile und auf mein Handy. Ich bin total orientierungslos, mir können Sie alles erzählen, und deswegen weiß ich auch nach Minuten nicht, ob ich rechts oder links rum laufen muss. Nur zurück ist falsch. Soviel ist klar, denn dort liegt der Bahnhof.

„Kann ich helfen?“, fragt mich jemand und ich atme auf. Ohne hilfsbereite Einheimische wäre ich schon vor Jahren irgendwo in den Wüsteneien am Rande der bewohnten Welt gelandet und würde dort verzweifelt nach Essensresten suchen, deswegen strahle ich meinen Retter an. Ja. Die Innenstadt, Geschäfte, irgendwas, wo man mehrere Stunden herumbekommt, bis der nächste ICE nach Berlin fährt.

Der Retter, das ist praktisch, muss auch in die Innenstadt. Er lehrt Musik, erzählt er mir, deswegen hat er ein Cello dabei, und er hat mit langen Haaren und Bart frappierende Ähnlichkeit mit dem Jesus in den Bibelcomics, die vor sehr vielen Jahren in meiner Schule auslagen. Ich dagegen erinnere keineswegs an einen der biblischen Engel oder auch nur an eine der geringeren Heiligen, ich wirke, wie man ab und zu in spiegelnden Schaufenstern sieht, irgendwie zerbeult und gerade heute ziemlich strapaziert und etwas fleckig.

Der Musiklehrer wohnt schon lange in Halle, erzählt er, deswegen kennt er sich hier aus. Er zeigt mir das Haus, in dem nach dem Krieg der russische Stadtkommandant gewohnt hat, und das Haus, in dem sein Großvater eine Ohrenarztpraxis hatte. Er zeigt mit den Händen, wie groß das Hallenser Urpferd war, er zählt mir alle fünf Türme von Halle auf, beschreibt die Orgeln der Stadt und pfeift ein Medley der besten Kompositionen Georg Friedrich Händels. Mir tun die Füße weh, ich bin schon den ganzen Tag unterwegs, die Woche war greulich, und ich schlafe dazu schon seit Tagen schlecht, weil Kind F. mir Nacht für Nacht ins Gesicht tritt. Über Musik lasse ich mir aber gern erzählen, auch wenn ich über Barockmusik kaum etwas weiß, und als wir vorm Händelhaus stehen, schaue ich auf die Uhr, verschiebe alle Einkäufe und komme mit. Instrumente gibt es hier, und dazu erzählt der Musiklehrer lustige Geschichten über das Musikmachen.

Als mein Handy brummt, der nächste Zug wäre auch zu spät, zucke ich die Schultern. Nein, sage ich. Ich will mich nicht bekochen lassen. Aber essen gehen möchte ich schon, und so sitze ich irgendwann in einem Hinterhof, trinke grünen Tee und esse Tomaten, erzähle das Beste aus meinem Leben, vor allem die Pannen und Pleiten, sofern sie lustig sind. Dann zahle ich und gehe. Und drehe mich nicht um.

Morgens nach Tegel

„Nach Tegel.“, schnalle ich mich an und gähne ein bisschen, denn es ist noch früh. „Hrrrr.“, macht der Taxifahrer, oder so ähnlich. Dann fährt er los.

Nach einigen Minuten ziehe ich mein Handy aus der Tasche. In dreißig Jahren wird mein Sohn F. die wesentlichen Funktionen meines iPhones fest ins Gehirn verschraubt haben und auf mich Urmensch lächelnd herabsehen, aber noch brauche ich dieses Gerät, um mit Menschen zu sprechen. Ich zücke also mein Telefon. In diesem Moment interveniert der Taxifahrer. „Hier nicht telefonieren. Hören schöne Musik.“ Aus den Boxen hinter mir dröhnen blechern billige Bässe. „Musik!“, schreit der Taxifahrer. „Musik!“

***

„Sie wollen bestimmt zu ihrem Liebsten.“, strahlt der Taxifahrer mich fröhlich an. Er sieht ein bisschen aus wie Danny de Vito auf deutsch. Oder Karlsson vom Dach. Gut gelaunt wirft er meinen Rollkoffer in seinen Kofferraum, und ich überlege ergebnislos, ob es überhaupt irgendwelche Frauen gibt, die in einem blauen Kostüm und mit einem Aktenkoffer morgens um halb sechs ihren Freund besuchen.

Ich besuche keineswegs meinen Liebsten, sondern lediglich ein Oberlandesgericht im Rheinland, deswegen jubele ich auch nicht zurück, sondern grunze nur eine Art Gruß, schwinge mich auf die Rückbank und starre in mein Telefon. „Grüßen Sie ihn von mir!“, trällert der Taxifahrer und küsst ein paarmal laut lachend in die Luft und spreizt dabei alle zehn Finger.

***

Es ist spät. Der J. und ich setzen uns ins Taxi. Ich bin fürchterlich müde. Zusammengekauert, nicht ganz unähnlich einer großen, aggressiven Kröte, sitzt der Fahrer hinterm Steuer.

Kaum habe ich mich angeschnallt, fährt er mit einem jähen Ruck los. Ich falle mit dem Kopf fast gegen den Fahrersitz, werde zurück in das Polster gedrückt und schaue den J. stumm an. Zwischen uns schläft unser Kind. Wenn ihm heute etwas passiert, wird es mir lebenslänglich leid tun, mit kleinen Kindern nicht einfach Jahr für Jahr nach Norderney zu fahren wie andere Leute auch. Dann immerhin geht es los. Auf einmal aber brüllt der Taxifahrer unvermittelt los: „Ich hasse Auto fahren in Berlin.“

Ich auch, denke ich. Ich auch.

Madame hat’s schwer

Richtig ruhig wird es hier auch nicht. Vorm Haus liegt Kopfsteinpflaster, ständig donnern irgendwelche Leute mit aufheulenden Motoren zwischen den Häusern hindurch. Ich hasse sie alle. Morgens habe ich täglich das sehr dringende Bedürfnis, einfach noch so circa zwei Stunden im Bett zu liegen, schwarzen Kaffee zu trinken und zu lesen, aber statt dessen stehe ich verdrossen in der Dusche, reibe mich mit einem Duschgel ein, das auch noch ausgerechnet „Glückstag“ heißt und hinterlasse beim Versuch, das letzte bisschen Spülung aus der Flasche zu bekommen, lauter dottergelbe Spritzer an den Kacheln. Ständig trete ich auf die Katze. Ihre Haare sind überall.

Mein Sohn spricht immer. Dabei ist das eigentlich mein Part. Ich würde auch gern mal wieder zu Wort kommen, aber das ist leider aussichtslos. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, schaut er mich, wenn ich was sagen will, streng an, sagt „nur noch einen Satz“ und redet dann unbeirrt weiter. Es sind schon über Neunzigjährige gestorben, die ihr ganzes Leben mit weniger Wörtern bestritten haben als dieser fünfjährige Knabe. Wenn ich ihn im Kindergarten abgeliefert habe, bin ich immer ganz erschöpft.

Mein Büro müsste ich mal aufräumen. Mittags müsste ich mir endlich abgewöhnen, entweder gar nichts oder den gesamten Tagesbedarf eines bayrischen Dorfes zu essen. Dass ich ernsthaft handysüchtig bin, macht mich natürlich auch nicht entspannter, das fällt nur deswegen nicht so auf, weil ich schon vor Erfindung von Smartphones verhältnismäßig fahrig gewirkt haben muss. Politik gehe ich inzwischen online meistens aus dem Weg, aber eigentlich interessiere ich mich auch gar nicht so sehr für Katzen.

Zu alledem hat erst kürzlich eine Freundin bekannt gegeben, wie lächerlich sie es findet, wenn Frauen über 40 so tun, als wären sie noch nicht alt. Schönheit ist jetzt von jeher nicht so meine Kernkompetenz, aber ich muss zugeben, dass ich auf dieses Statement hin nicht so ganz wenig Zeit damit verbracht habe, mich aus jeder denkbaren Perspektime im Garderobenspiegel daraufhin anzusehen, ob ich in meinen Pünktchen- und Streifenkleidern fürs Wochenende eigentlich sehr albern aussehe. Ansonsten trage ich sowieso sehr seriöse, blaue Kleider, in denen ich aussehe wie die Schutzheilige der Langeweile. Ich habe sogar einen Vorstoß unternommen, mir mal mehr Hautpflegeprodukte als eine Niveatagescreme für € 3,99 zuzulegen, erschlagen von der schieren Masse musste ich fürs Erste aber leider kapitulieren.

Abends würde ich eigentlich ganz gern irgendwo am Meer sitzen. Aber wenn möglich nicht so arg ländlich. Vielleicht Nizza oder Barcelona, aber ich war gerade weg und kann jetzt nicht sofort wieder verschwinden. Besseres Essen wäre gut, aber wenn ich mittags richtig esse, kann ich abends nichts mehr essen, ansonsten muss ich mir die Frage mit der Lächerlichkeit meiner Kleider demnächst sowieso nicht mehr stellen. Ich würde mich außerdem eigentlich gern massieren lasse, aber so lange nicht morgen Abend jemand unbestellt vor der Tür steht und eine Flasche Massageöl aus der Tasche zieht, wird das vermutlich nichts, weil ich zu träge bin, irgendwo anzurufen und dann da hinzugehen.

Nachts träume ich gelegentlich. Meine Träume korrespondieren meinem Wachzustand insofern perfekt, als dass da auch nichts los ist. Kürzlich bin ich zum Beispiel des Nachts einen Traum lang Bus gefahren. In einem anderen Traum habe ich vergebliche versucht, verschiedenfarbige Reißverschlüsse zu schließen. Ich kann Ihnen sagen: Madame hat’s schwer.

 

Oder auch nicht.

Ach was, sagt sie und wischt ein einen imaginären Fussel von ihrem weißen Jumpsuit. Von den schönen Punks sei sie ja total ab. Nicht einmal den G. würde sie noch treffen, obwohl der ja so quasi mehr ihre große Liebe, aber was soll man von jemandem schon halten, der sich in Norwegen verkriecht, nur weil er seine Frau mit seiner Nichte betrogen hat.

Hmm. Tja., sage ich, was ja eigentlich nie wirklich falsch ist, und trinke einen weiteren halben Liter sehr kalten Earl Grey mit zermatschten Kumquats. Sehr zufrieden sieht die liebe A. aus, wie sie in schneeweißer Seide auf einer Bierbank am Görlitzer Park sitzt und den Dealern Schönheitsnoten zwischen 1 und 10 gibt. Glaubt man der A., die eine kleine Vorliebe für etwas mesquine Herren pflegt, handelt es sich um eine Versammlung wirlich hübscher Leute, die den Vergleich mit keiner anderen Gruppe Berliner Männlichkeit scheuen müssten.

Die A. jedoch hat, so höre ich, auf ihre sozusagen mittelalten Tage nun doch zur konsequenten Einehe gefunden. Schade, schießt es mir durch den Kopf, denn zwar gönne ich dem über die Jahre doch etwas gebeutelten Gefährten der A. diese Phase der hart verdiente Ruhe, allerdings erzählen mir ansonsten inzwischen verdammt wenig Leute etwas über die leichtlebig-lustige Seite des Berliner Lebens, weil alle Welt nur noch über Immobilienpreise und ihren Beruf spricht. Dabei sind die meisten Berufe noch nicht einmal sonderlich unterhaltsam.

Die A. immerhin ist nach wie vor komplett berufslos, weil das Konzept nicht zu ihr passt. Ich habe nie herausgefunden, was sie tagsüber eigentlich genau macht, aber abends geht sie meistens aus. Manchmal begleitet sie ihr Mann, ein freundlicher Wirtschaftsprüfer, der die Oper liebt. Oder er hat berufliche Termine, und sie kommt mit. Manchmal ist ihr Mann unterwegs, und dann muss die A. allein sehen, wie sie es schafft, nicht an Langeweile zu sterben.

Ganz ab und zu kommt die A. dann ein wenig angetrunken nach Hause. Eigentlich mag die A. nicht so gern alkoholische Getränke, aber ganz gelegentlich sitzt sie dann doch daheim allein vorm Rechner. Unter ihr liegt der Winterfeldplatz, über ihr wölbt sich ein schwarzer, lichtloser Himmel, und wenn die A. dann so sitzt, wird sie, so sagt sie mir, doch ein wenig melancholisch.

Wenn die A. melancholisch wird, muss sie immer an den D. denken. Der war eigentlich nie so richtig ihr Freund, weil leider immer irgendetwas dazwischengekommen ist. Seine erste Freundin etwa. Oder ihr zweiter Freund. Und als sie beide wirlich einmal zeitgleich ineinander verliebt waren, war sie leider in Bordeaux für ein Auslandssemester und er in Marburg.

Heute wohnt er in Karlsruhe. Sie lebt in Berlin Schöneberg. Meistens sehen sie sich einmal im Jahr, nämlich kurz nach Weihnachten, und dann sind so viele Leute da, dass sie nie auch nur drei Sätze ungestört wechseln können. Außerdem hängen meistens seine ungezählten (ich glaube, es sind drei) Kinder an seinen Hosenbeinen, das stört natürlich auch.

An sich ruft die A. ihn nie an. Sie schreibt ihm auch nie, denn was soll das bringen. Nur, wenn sie melancholisch ist, legt sie sich aufs Sofa und schreibt ihm eine E-Mail. Dass man sich mal wieder. Und dass es doch. Und überhaupt. Die schickt sie dann ab.

Ein- oder zweimal hat sie am nächsten Tag Mails hinterhergeschickt, dass sie betrunken nicht ernst zu nehmen sei. In seinem Fall ist ihr das auch nicht peinlich. Denn zwei- oder dreimal im Jahr bekommt sie Mails von ihm, in denen steht, dass sie. Und nur sie. Und ganz und gar. Und: schade.

Die A. und der D. haben sich auf diese Mails noch nie geantwortet. Aber irgendwann, dafür spricht schon das Gesetz der Wahrscheinlichkeit, werden sie mal zeitgleich betrunken und melancholisch vorm Rechner sitzen, und dann. Ja dann. Oder auch nicht.

 

Drückten deine schönen Hände

Sogar er hat aufgehört zu rauchen. In seiner Wohnung riecht es jetzt nur noch nach Bienenwachs und alten Büchern und ein ganz bisschen auch nach Minzöl und Verbenen. Es ist kurz nach elf, aber alle Vorhänge sind zugezogen, und auf dem Tisch brennen drei Kerzen.

Er ist seit einigen Wochen pensioniert. Er muss damals viel jünger gewesen sein, als wir dachten, wenn man sich denn überhaupt Gedanken über das Alter von Lehrern macht, dazu sah er schon damals aus wie ein alter Mann. Manchmal sehe ich ihn auf Bildern der Renaissance: Er ist ein magerer, strenger, florentinischer Mönch.

Er hat jetzt Zeit. Er lese viel, sagt er. Sitzt mir auf dem Diwan gegenüber, knetet seine Hände, als sei er – merkwürdig, das zu denken – verlegen, springt immer wieder auf und bringt mir schwarzen Tee in schweren, grob getöpferten Schalen. Er habe gebacken für den Besuch, er habe ja sonst nichts mehr zu tun, sagt er, und stellt ein Tablett mit Scones, Clotted Cream und selbstgekochter Marmelade auf den Tisch.

Reisen, sagt er, werde er nicht mehr. Reisen lenke ihn ab. Er sei noch nie gereist, mal abgesehen von den Kursfahrten, die unumgänglich seien, wenn man einen Leistungskurs unterrichte. Es sei ja auch schön gewesen, damals in Rom, sagt er zu mir, und jetzt lächelt er tatsächlich, springt wieder auf, sucht irgendetwas im Regal, findet es nicht, setzt sich wieder, steht wieder auf und sitzt am Klavier.

Er singt noch immer Bariton. Er spielt sicher, ohne Noten, zarter, leichter, als ich angenommen hätte, und schaut alle paar Momente auf den entfleischten Körper Jesu am Kreuz an der Wand hinter mir. Bist du bei mir, singt er, und unterbricht sich in den letzten Takten. Du magst ja gar kein Bach, sagt er zu mir, und spielt sehr schnell und ohne Blick auf seinen hölzernen Erlöser zwei Volkslieder. Lieb ich dich doch, singt er, und schaut Richtung Fenster, wo er den See sehen könnte, wenn die Vorhänge nicht zugezogen wären.

Ich muss los, sage ich und er nickt. Es ist kalt, bietet er an, mich zum Bahnhof zu fahren, aber ich bin schon an der Tür. Komm mal wieder, sagt er, und ich lächele, entziehe meine Hand seinem Griff und laufe am Ufer durch einen Vorhang von feinem Regen dem Bahnhof zu.

Bei Nacht

Wie ein Gemisch aus Lehm und stumpfen Steinen schlägt der Regen hart auf die Dächer. Das ist kein leichter, lauer Sommerregen, das ist noch nicht einmal der warme Monsun in den Straßen Bangkoks, wo ich vor fast 15 Jahren im weissen Kleid vor dem Seven Eleven in der Sathorn Soi 16 stand, dampfend durchnässt bis auf die Knochen, lachend mit einer Flasche Bier in der Hand.

Der Boden ist von den Niederschlägen der letzten Tage schon so durchtränkt, dass die trübe, braune Brühe auf der Straße steht wie ein schmieriger Strom aus Schlamm. Es ist kurz nach drei. Dunkel sind die Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Nutzlos, sich selbst genug, beleuchten nur die Schaufensterlampen Schmuck, Möbel und Kleider.

Als ich klein war, erzählte meine Mutter mir, dass bei Nacht die Dinge zu einem eigenen Leben erwachen, aber so lange ich auch am Fenster bleibe: Schlaff hängen die Ketten des Juweliers vom Regal, und die Beine der Betten des Tischlers zucken nicht einmal ein winziges bisschen.

Kalt ist es, als ich schließlich in der Loggia stehe, einen Trenchcoat über dem Nachthemd und mit nackten Füßen. Schon entfärbt sich die Nacht, der Himmel wird bleich wie ein Fischbauch und ich lege mich wieder ins Bett und male mir warme, goldleuchtende Nächte aus, raschelnde Kleider, Haut, Wodka aus eiskalt beschlagenen Gläsern und Lampions in den Bäumen.

Dein Sommer ohne Dich

Aber gerade jetzt sitzen am Landwehrkanal Leute unter schwankenden Lampen. Im schwarzen Wasser spiegeln sich Kerzen und Kleider und Haut. Helles Gelächter und Stimmen, Eiswürfel im Glas und Schritte auf Holz. Trinkt noch jemand Gin Tonic?

Auf den Stufen zur Spree sitzt auch heute ein Paar. Vielleicht hat sie Pumphosen an und fettige Dreadlocks. Vielleicht hat er einen zu dünnen Bart und dreht selbst. Vielleicht aber sind es Daphnis und Chloe, vielleicht hält sie in ihren Händen den Mond. Vielleicht wird aus ihm einmal ein himmlischer Schäfer. Vielleicht warst das du.

Vielleicht tanzt er mit ihr morgen früh auf der Oberbaumbrücke im ersten Licht eine Polka. Vielleicht sitzt am Ufer der Spree ein Nöck und schenkt ein. Ganz sicher aber ist keins der Märchen der Stadt mehr für dich, und auf deinem Weg von der Bahn: Nur die Scherben.

Zwei auf einer Bank

Ich glaube, beim ersten Treffen saßen sie zufällig auf einer Bank. Es war eine Bahn ausgefallen, die fuhren nämlich nur alle 20 Minuten zwischen dem Vorort und einer der kleineren Landeshauptstädte der damals ja auch noch etwas kleineren Republik hin und her. Es war einer der kühleren Abende im September, wenn man also im Sommerkleid losfährt und sich auf dem Heimweg wünscht, man hätte doch die Jeansjacke mitgenommen, und vielleicht lag es auch an dem Verlassenheitsgefühl, das sich einstellt, wenn man wartet und friert, dass sie nicht abrückte, als er ihr sein Bier anbot. Dabei war er Gesamtschüler, Lederjackenträger, und eine komische Frisur hatte er auch. Die Haare schnitt ihm nämlich sein Bruder, und der war keineswegs Friseur.

Beim zweiten Treffen hätte er sie fast nicht mehr erkannt. Sie trug die Haare inzwischen hellblond, der Rucksack mit einem baumelnden Miniplüschtier war einer kamelbraunen Ledertasche gewichen, und statt einem Streifenkleid von Esprit hatte sie meistens Caprihosen und gerade geschnittene Blusen an und dazu Pumps. Er dagegen hatte sich kaum verändert. Außerdem hatte sie ihn immer noch in der kleinen Stadt verortet, in der sie beide aufgewachsen waren.

Sie wollte ihn immer einmal fragen, wie er eigentlich nach Berlin gekommen war, denn dass er auch einfach hier studieren könnte, erschien ihr eher entlegen. Wieso sie ihn nie gefragt hatte, konnte sie sich später auch nicht mehr erklären, als er einfach weg war, nachdem das Haus in Friedrichshain saniert wurde, in dem sie ihn ab und zu besuchte, und er ihr keine Telefonnummer hinterlassen hatte, nicht einmal eine E-Mail.

Bei ihrem dritten Treffen erkannte sie ihn gleich, quer durch den Raum. Er kellnerte auf einem Sommerfest eines Industrieverbandes, sah besser aus als jemals zuvor, und als sie mit allen gesprochen hatte, mit denen sie sprechen musste, sprach sie ihn an. Er wohnte immer noch in Friedrichshain, gleich um die Ecke von seiner damaligen Wohnung, er roch mit 38 wie mit 22 oder 16, es war ein bisschen, wie nach Hause zu kommen, und als sie in der Mittagshitze nach Hause ging, tat es ihr für einen Moment leid, nicht mehr zurückzukommen.