Am Tag gehört auch Prag den anderen Leuten. Am Tag haben die Prager Anzüge an oder Kleider von Topshop und Ralph Lauren und verschwinden fast zwischen all den anderen, die auch durch die Stadt laufen, um alles zu photographieren und so viel Bier zu trinken wie wir. Wenn es aber dunkelt hebt und senkt sich das Pflaster der Stadt. Am Grunde der Moldau mögen die Steine wandern, doch in den engen Gassen wandern die Toten umher, tragen Kutten und lederne Wämser, zerfallende Anzüge mit seltsamen Kragen, kurze Hosen aus Asche und lange Kleider aus mürbem, staubigen Gold.
Auf dem alten Friedhof sitzen die Toten auf ihren Gräbern und recken die weißen Finger ins Mondlicht. So viel Leben weht ungelebt voller Sehnsucht im Wind. Am Tag ist es schon warm heuer im März, aber bei Nacht zähle auch ich all meine fehlenden Stunden. Wo bist du, mein Golem, rufe ich über die Friedhofsmauer bis zur Parisžka, und sage mir lautlos meinen Zauberspruch vor.
Mose, wie man weiß, hat das gelobte Land auch nicht selbst betreten, sondern ist im Angesicht der grünen Triften Kanaans verstorben. Verstorben immerhin sind wir nicht, aber als wir im Auto saßen, Ortseingang Siena, fing es wahnsinnig an zu regnen. „Wir kehren wieder um.“, beschloss der geschätzte Gefährte und fuhr an. Vor uns lag die Porta Romana im Regen, hinter uns die Aussicht auf Rückkehr auf den Bauernhof, ganz direkt hinter uns saß allerdings jemand, der blass aussah und auf einmal begann zu schreien. Der F. schreit sehr selten, deswegen muss man das beachten, insbesondere wenn der Schrei davon handelt, ihm sei übel und er müsse brechen. Das tut er dann auch, zum Glück nicht im, sondern neben dem Auto.
An sofortiges Weiterfahren ist nicht zu denken. Es regnet auch gar nicht mehr so stark. Mose glaubt, er werde doch noch im Heiligen Land auf der Terrasse sitzen und Rotwein trinken. Wir parken also, steigen aus und laufen die Via Roma entlang Richtung Dom.
Wenn es mir schlecht geht, dann kann das dauern. Wenn es F. schlecht geht, verlangt er zehn Minuten später nach Pizza und Eis, denn das hat die Evolution für Kinder so vorgesehen, damit auch Autokotzer beständig weiterwachsen. Wir halten also erst an einer Eisdiele an, dann an einer Bäckerei, wo wir drei Stück Pizza mitnehmen und auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufessen. Der J. studiert die Aushänge vor Maklerbüros und schaut sich an, was wir hier für eine Mio. Euro bekämen. Die haben wir zwar gar nicht, auch möchten wir gar kein Haus in der Toskana kaufen, aber das macht nichts. Der geschätzte Gefährte hat mit derselben Intensität auch schon in Bangkok nach Häusern geschaut.
Als wir weitergehen nimmt der Regen zu. Wir sind noch 400 Meter vorm Dom, da beginnt es auf einmal schrecklich zu schütten. Wir laufen, auch der F. läuft, das Wasser spritzt, nach weniger als einer Minute ist mein T-Shirt durch, und dann flüchten wir uns in das erste Lokal, das wir sehen. Es gab viele anziehende Cafés auf dem Weg, aber hier ist es scheußlich. Die Wände sind orange gewischt wie in einem ewigen 1993. Die Möbel billig mit blauen Knubbeln, es läuft der Fernseher, und außerdem sitzen da außer uns nur andere Touristen. Meiden die Einheimischen diese Pizzeria vielleicht wegen ihrer Schmutzigkeit und des schlechten Essens?
Wir bestellen gleichwohl. Überraschenderweise ist die Pizza super. Für diese Pizza würde man in Berlin gefeiert. Ich bin eigentlich satt, schließlich habe ich schon die Bäckerpizza gegessen, aber trotzdem verschlinge ich meine Pizza bianco mit Trüffelsauce, kippe einen Wei hinterher und warte darauf, dass der Regen aufhört. Der Dom. Das Gelobte Land.
Stattdessen schließt die Pizzeria. Alles wartet darauf, dass wir gehen, man bestellt uns freundlich ein Taxi, aber natürlich kommt kein Taxi, während vermutlich gerade die ganze Stadt auf ein Taxi wartet. Es schüttet immer noch, als habe der liebe Gott sich diesmal wirklich entschlossen, sich das nun keinen Moment länger anzuschauen.
Irgendwann kapitulieren wir. Mose setzt sich auf seinen Berg und verstirbt, ohne den Dom gesehen zu haben. Der J. läuft vor, wir hinterher, kaufen noch einen Regenschirm und setzen uns in den Wagen. Wir sind sehr, sehr nass. Als wir Siena knapp hinter uns gelassen haben, hört der Regen auf.
Der Campanile des Florentiner Doms ist hoch, sehr hoch, und als wir morgens vorm Turm stehen, sehe ich mich einen Moment vor meinem inneren Auge schwitzend und stöhnend den 18 Kilo schweren F. die Turm wieder herunterschleppen. Ich tue ihm aber offenkundig unrecht: Er trapst tapfer hoch und wieder runter.
***
Um neun sind wir auf dem Turm, um elf wollen wir ins Museum. Wir haben Zeitkarten, denn wir möchten nicht warten, aber so schlendern wir zwischen beiden Terminen noch ein wenig durch die Stadt, essen in einer Bäckerei, schauen uns Ledertaschen an, sprechen über Leute, die Kreuzfahrten machen und dann in Riesengruppen Stadtführungen machen. Dann stehen wir vor einem Spielzeuggeschäft. Und gehen herein.
Als wir wieder auf der Straße stehen, haben wir ein Uno-Spiel gekauft und ein Legoset, mit dem man einen Star Wars Superläufer bauen kann. Wie ein Gummiball hüpft der F. herum, im Museum ist er kaum mehr zu gebrauchen, rast durch die Säle, hört kaum zu und ist nur bei der Geschichte mit David und Goliath kurz präsent. Dann müssen wir nach Hause. Den Rest des Tages spielt der F. mit dem Superläufer.
***
Zu Hause, schreibt man mir, ist ein weiterer Elternnachmittag angesetzt. Es gehe um Rivalitäten unter den Buben, und ich frage den F., ob es denn überhaupt oft Streit gibt. Nach F.’s Einschätzung kämpfen eigentlich nur die beiden Jungen, deren Mütter sich über zuviel Rangeleien beschwert haben, und selbst wenn man F.’s Erzählungen nicht für ganz bare Münze nimmt, stellt sich doch die Frage, ob es nicht besser wäre, die beiden Mütter würden ganz allein aufeinandertreffen, wenn sie denn schon sprechen müssen, vielleicht noch mit Erzieherin, statt dass sich 16 Elternteile halbe Tage Urlaub nehmen, um um 15:30 darüber zu diskutieren, ob wir es eigentlich normal finden, dass kleine Jungen Rangstreitigkeiten auch mal körperlich austragen.
***
Am späten Nachmittag spazieren wir auf die andere Seite des Arno und laufen durch die Giardini Boboli. Wir schlendern kreuz und quer durch den schon ein wenig spätsommerlich verbrannten Garten, dann setzen wir uns ins Gras, schauen dem F. beim Spielen zu und gehen früh essen.
Die Heilige Barbara hat ja immer einen Turm dabei und der Heilige Martin eine Gans. Ich bin zwar nicht heilig, aber ich trage immer ein Telefon mit mir herum, und in das säusele, beschwöre, zwitschere und überrede ich hinein. Auch, wenn ich im Saal der Fünfhundert im Palazzo Vecchio stehe, das ist mir ganz egal, schließlich war ich schon mal da, und meinem F. erzähle ich dann eben beim nächsten Zusammentreffen mit einem solchen ganz genau, was ein Zentaur ist und was man macht, wenn man einem begegnet.
Als wir wieder vor dem Palazzo stehen, lege ich das Telefon weg. Noch erkennt der F. mich auch so, deswegen setzen wir uns in die Loggia dei Lanzi und unterhalten uns ausführlich über Perseus und die Medusa. Die griechische Mythologie hat auch nach 3000 Jahren noch das Zeug, kleine Jungen zu beeindrucken, und so wandern wir zu dritt durch die Stadt, sprechen über Monster, essen Kuchen und schlafen, bis es dunkel wird.
Am Abend essen wir in der Yellow Bar Pasta, Schnitzel und Steak. Noch ein bisschen herumspazieren möchten wir dann, laufen am Bargello vorbei Richtung Piazza della Signoria, aber dann steht vor der Chiesa San Firenze ein Schild, es soll ein Konzert geben, 45 Minuten Opernarien und eine Harfe, und so setzen wir uns in die schöne, barocke Kirche, lassen uns etwas vorsingen, erläutern dem F. flüsternd, was die schönen Stimmen singen und landen noch viel später zufrieden beim Wein auf dem selben Platz wie am Vorabend, trinken Wein und essen Käse, und der Abend fließt an uns vorbei wie schwarzer Wein.
Ich bin keine so besonders gute Urlauberin, weil ich überhaupt nicht abschalten kann. In meinem Kopf passiert immer alles gleichzeitig. Ich bin tieftraurig und tief beeindruckt, Joseph Schmidt singt und ein besonders guter Satz für einen Fachaufsatz erscheint, blinkt kurz dreimal über San Lorenzo und verschwindet wieder. Ich erzähle dem F. etwas über den Unterschied zwischen der italienischen Basilika und den Kirchen, die er so aus Berlin kennt und suche den Einstieg in einen Roman, den ich vielleicht mal schreiben möchte, falls ich mal Zeit habe. Außerdem lese ich vier berufliche und zwei private E-Mails, überlege, was ich antworten möchte, und was ich antworten werde, und das alles in zwei Minuten. Dass ich überhaupt zu was komme, liegt nicht an mir.
***
Als wir auf einmal vor einem Lush-Laden stehen, fällt mir auf, wie doch verhältnismäßig wenig Kettenfilialen es hier, eigentlich unweit von Duomo und Bargello gibt. Vielleicht steuert Florenz das irgendwie, dann ist es schade, dass deutsche Städte das nicht genauso machen, aber so genieße ich die liebevoll gestaltete Optik der Straßen, kaufe mit dem F. zehn Minuten eine duftende Seife, schaue überall herum und mache Pläne, wem ich was schenke, und außerdem esse ich täglich ein Eis. Habe ich so beschlossen. Gestern bei Venchi, heute bei Rivareno.
***
Eigentlich gehen wir nur spazieren. Schauen in einen leicht abgeblätterten, verschatteten Aufgang. Laufen durch die große Markthalle und essen etwas. Dem F. erzähle ich eine dreiminütige Version von Pinocchio und eine fünf Minuten lange Fassung der Divina Commedia.
Den Neptun auf der Piazza della Signoria erkennt er selbst „an der Gabel“, denn auch vorm Berliner Rathaus steht ein Neptunbrunnen. Eine Stadt wird erst durch Geschichten schön, weiß auch der F., der am Abend lange einer Puppenspielerin zuschaut, und nachts von der Terrasse eines Restaurants zwei Artisten, die feurige Stäbe und Räder durch die Nacht wirbeln, die für andere beginnt, als sie für uns endet.
Nicht ganz zwei Stunden dauert der Flug nach Florenz. Die Maschine von Vueling könnte nicht enger sein, dafür war der Flug unfassbar günstig, und der F. neben mir am Fenster bejubelt jedes Haus und jedem Baum, der sich aus der grünen, gelben, braunen Ebene schält. Dann landen wir. Florenz, Pretaola. Ich bin komplett taub.
Die nächsten drei Stunden kommuniziert man mit mir am Besten elektronisch. Ich befinde mich in der Kunstharzphase einer Erkältung, schleppe mich deswegen annähernd taub, mit 38° C auch sonst eher abwesend und unangemessen schwitzend durch Florenz und gebe dem F. an meiner Hand in vermutlich kaum situativ angemessener Lautstärke vage Erklärungen. Der Dom. Der Bargello. Italien an sich.
***
Wir haben ein winziges Hotelzimmer hundert Meter vom Dom entfernt. Für eine Suite waren wir zu geizig, außerdem würden wir ja sowieso – so der Erfahrungswert kinderloser Städteurlaube – ganztags unterwegs herumlaufen. Auf dem Zimmer allerdings fällt dem F. erst mal die Kinnlade herunter. Wo er denn spielen soll. Wir gehen spazieren, verkünden wir ihm, der F. schmollt, und uns beschleicht ein leises Unbehagen. Ob das wohl so alles richtig war. Oder ob die Leute recht haben, die niemals sieben Tage Museen und Shopping durchziehen, solange sie Kinder dabeihaben.
***
Ein paar Stunden später ist aber alles wieder in Ordnung. Wir sitzen auf der Dachterrasse des Hotel. Um uns herum leuchten die Türme von Florenz, der F. malt ein Rätselheft aus, ich trinke den ersten Wein seit Monaten und schaue in das unendliche Blau.
Wenn ich Pfalz höre, denke ich an Helmut Kohl. An dieser Assoziation wird man irgendwann die Kinder der Siebziger erkennen, deren gesamte Kindheit in die endlose Regierungszeit des Riesen von Oggersheim fiel, und bei Deidesheim denke ich deswegen an Bilder, auf denen Helmut Kohl Staatsmänner aus dem Ausland mit Saumagen vollstopft, quasi so eine Art fettiges Initiationsritual, durch das durchmusste, wer mit den reichen, aber schlechtgelaunten Deutschen dieser Zeit Geschäfte machen wollte.
Saumagen habe ich nicht gegessen. Statt dessen waren der J. und ich mit dem unpfälzerischsten aller Pfälzer – unserem lieben Freunde R. – und seiner Frau im L. A. Jordan, das irgendwie zu dem Imperium Bassermann-Jordan gehört, deren Weinflaschen es selbst im biertrinkenden Berlin zu allgemeiner Bekanntheit gebracht haben.
Das Essen war großartig. Gang um Gang zog an mir vorbei, ich verschlang, schwelgte, schmeckte, bellte in den klaren Himmel der Pfalz alle zwanzig Minuten ein gieriges „verweile doch, du bist so schön“, und wenn das L. A. Jordan jemals eine Dependance an der Spree eröffnet, werde ich zwei Monate vor Eröffnung sabbernd mit Messer und Gabel in der Hand vor der Türschwelle kauern, um das erste verkohlte Rind mit Trüffel zu verspeisen, das die Küche verlässt.
Weil der R. und die I. ihre Tochter dabei hatten, und auch wir nicht ohne den F. verreisen, saßen an einer Ecke des Tisches die beiden Kinder in Hemd und Kleidchen. Wir hatten für beide Pommes Frites und Saibling bestellt, es gab Traubensaft und ein Eis nach dem Essen. Ab und zu verließen die Kinder den Raum, um draußen zu spielen, malten, sahen sich Bücher an, und unterhielten sich untereinander und mit uns. Es ging sehr gut, und gegen 22:30 verließen wir mit unseren gähnenden Kindern das Lokal.
Als ich so alt war wie der F. heute, durfte ich beim großelterlichen Essen am Sonntag nicht aufstehen. Und auch nicht sprechen. Oder lesen. Ich saß am unteren Ende des Tisches, übte mich in Gedankenfluchten und starrte an die Wand. Ich bin sehr froh, dass das heute nicht mehr so praktiziert wird, auch wenn ich nicht ungern zu meinen Großeltern fuhr und nicht ganz wenig, was ich über das Altertum, das Barock, Bertrand Russell oder Leibniz weiß, schweigend am Mittagstisch erfahren habe. Aber wenn ich im Netz über einen offenbar breit diskutierten Ansatz lese, Kinder nicht zu erziehen, vermute ich oft, dass so ein Abend im L. A. Jordan mit bewusst unerzogenen Kindern nicht möglich wäre, und dass dieses Modell Kindern viel Weltwissen und viele Erfahrungen der Erwachsenenwelt vorenthält, von der Gastronomie über die Oper bis zur Malerei, und dass dies den Kindern vielleicht einmal fehlen wird, wenn sie 25 sind und sich weniger sicher bewegen als andere.
Wieso gibt es eigentlich keine blonden Frauen, die in Klagenfurt lesen, frage ich mich, und überlege, ob die Juroren, wenn sie Texte aussuchen, eigentlich sofort googlen, wie die Leute aussehen. Früher, das sieht man auf alten Bildern, waren Autoren ja auch mal gern so hässlich wie Kröten, aber als krötenhässlicher Mensch wird man heuer ja gar nichts mehr, da kann man noch so schön singen oder schreiben. Ich wette, sogar als Wissenschaftler ist es inzwischen ein absoluter Nachteil, wenn man klein, fett und warzig ausschaut.
Frau Ada Dorian jedenfalls ist hübsch und dunkelhaarig und sieht eigentlich schon fast exakt so aus wie einige andere Autorinnen aus, aber vielleicht kommt mir das nur so vor. Ich werde ja auch nicht jünger, da schauen dann irgendwann alle jungen Frauen gleich aus und alle alten auch. Nur die Frauen, die so alt sind wie ich, die kann ich noch unterscheiden.
Frau Dorian liest einen Text über einen alten Mann. Der alte Mann ist das letzte Mysterium der Gegenwart, man weiß quasi nichts über sein seelisches Innenleben, weil die alten Männer sich wenig mitteilen, und wer liest schon Martin Walser, aber auch aus Frau Dorians Buch werde ich nichts über alte Männer erfahren, weil ihre Geschichte über einen alten Mann, der sich einen Wald in die Etagenwohnung stellt, mich rein gar nicht interessiert. Die Russlandklischees, die dann auch noch vorkommen, finde ich fade.
Überhaupt ist heute der Tag der Alten. Auch der nächste Text, Herr Gröttrup setzt sich hin, handelt von einem alten Mann, und startet etwas zäh mit der Beschreibung eines älteren Mannes, der so dem Klischee des alten Spießers mit Schrebergarten entspricht, dass ich ein bisschen seufze, weil die Autorin so nett wirkt, dass man ihr einen tollen Einstieg gewünscht hätte. Dann aber hebt Sharon Dodua Otoo zu einer so irrwitzigen, witzigen, leichten Wendung ab, dass ich heiter ein paar Minuten in der heißen Luft über dem Landhafen schwebe und ein bisschen vor mich hin lache.
Das Los aber ist von unerbittlicher Ordnungsliebe. Auch im nächsten Text taucht ein alter Mensch auf, eine Frau diesmal, ein steinaltes Dienstmädchen in einem Hotel, einem verlassenen Hotel, ein rassistisches, böses Dienstmädchen, und ein junges Flüchtlingsmädchen und vielleicht eine schwarze Frau, von der ich nicht weiß, ob es sie in der Realität dieses Romanauszugs wirklich gibt, und es auch nie herausfinden werde, weil schon anhand des kurzen Auszugs des Textes von Astrid Sozio klar wird, dass die Konstruktion nie im Leben funktioniert. Der Text scheitert aufs Krachendste, plumper Schulfunk oder rassistisches Stereotyp, vermutlich beides, und da hilft es dann auch nicht mehr, dass ich der Autorin gern zusehe, auch wenn sie genauso aussieht wie die Hälfte der anderen Autorinnen.
Zum Schluss aber kommt der alte Mann selbst. Dieter Zwicky heißt er, ist Schweizer, und auch diesmal scheitere ich am alten Mann. Ich verstehe nicht, wovon sein Text handelt, ich schlafe fast ein, weil es 32° C warm ist, und sein Text für mich keinen Sinn ergibt. Dazu liest er in schwerem, konsonantenreichen Schweizer Dialekt, ich höre nur den schleppenden, wiegenden Tonfall und ein wahrer Wasserfall an knackenden und krachenden Lauten.
Am Ende sitze ich wieder am See. Ich plaudere ein bisschen, ich sehe in den blauen Himmel, und frage mich, ob mir die alten Leute eigentlich auch so fremd gegenüberstehen, wenn sie mich vorbeifahren sehen, und ob sie mich mögen oder nicht.
Es ist ein bisschen zu hübsch hier. Der karibisch blaue See, der tiefblaue Himmel mit ein paar Dekowölkchen und die pastellfarbenen Häuser mit weißem Stuck. Nach einer Woche würde man böse und krank, aber so ist es fein. Man läuft herum, fährt Fahrrad, isst sehr gut und viel und hört Leuten zu, die Geschichten vorlesen, um einen der vier Preise zu bekommen.
Ich höre ansonsten das ganze Jahr nicht so lange konzentriert zu. Ich warte immer schon, sprungbereit, was ich gleich sagen soll. Hier aber muss ich nichts sagen, ich bin ja kein Juror, und darf schweigen, wenn mir nichts einfällt. Wenn mir etwas einfällt, dann schreibe ich das auf Twitter. Weil viele andere Leute das auch machen, ist es ganz lustig, gleichzeitig aufeinander einzureden, sich zu widersprechen, sich zu bestätigen, Leute, die auch irgendwo hier sitzen und Leute, die ganz woanders sind.
Die Texte sind teilweise sehr toll, wie die Texte von Selim Özdogan und Julia Wolf. Teilweise ganz in Ordnung, wie der Text von Sylvie Schenk oder so interessant wie der verästelte Text über die Verwirrung von Sprache, Geschlechtern, Koffern, Kleidern und Körpern bei Tomer Gardi. Manchmal sagen sie mir nichts, wie der Text von Stefanie Sargnagel, die mir zu plump und zu mürrisch vorkommt, aber vielleicht habe ich sie auch nur nicht verstanden, und der antiintellektuelle Habitus stößt mich ab. Ich will Differenzierung, mehr vom Feingesponnenen, sich mit dem Kopf voran in die tiefen Wasser der Literatur begeben. Plump und schlechtgelaunt ist gerade halb Europa, und nicht die beste Hälfte, da hilft es nichts, wenn jetzt noch die Linken, Liberalen, die, die Konflikte nicht mit Gebrüll und Mistgabeln lösen wollen, auf dem selben Niveau zurückpöbeln.
Tags irgendwann kommt die Nachricht, Österreich wähle noch einmal. Leise, irgendwo im Gebälk unseres morschen Hauses Europa knackt ein Balken, um eines Tages mürbe und morsch zu brechen. Es kommen härtere Zeiten, höre ich den Wind, der abends auf dem Bürgermeisterempfang um das Schloss Maria Loretta streicht, und schließe die Augen auf der Badewiese am Wörthersee, denn besser als jetzt wird es für mich vielleicht nicht mehr werden, und vielleicht auch nicht mehr: Für uns alle.
Diese Website verwendet Cookies und das Tool Counterize, über das ich einige Daten, wenn auch keine IP-Adresse, erhebe und verwende. Wenn Sie auf meiner Seite bleiben, gehe ich davon aus, dass Sie damit einverstanden sind.OKNeinWeiterlesen