Meine Kalbsmaultaschen, sagt man mir, seien geplatzt. Zumindest zwei von fünf Maultaschen hat dieses für die schwäbische Spezialität eher ungewöhnliche Schicksal ereilt, und rund um den Tisch wird ein bißchen spekuliert, wie man sich die Maultaschenexplosion wohl vorzustellen hat. Die drei gelieferten Maultaschen liegen jedenfalls sehr zahm auf einem etwas öligen Salat und wirken nicht so, als könnten sich jeden Moment Sprengkräfte entfalten.
Weil heute Sommer ist, sitzen wir an der Schröderstraße und nicht an unserem reservierten Tisch im Lokal. Ruhig ist es hier, kaum ein Passant auf der Straße, und gegenüber ist sogar noch ein ganzes Haus nicht einmal saniert. Hinter uns schimmert der kühle, weiße Innenraum mit der Holzwand und ein paar Geweihen, von dem ich nie weiß, ob ich ihn nun gut finde, oder nicht doch auf so eine seltsam feige Weise kitschig. Es gibt einen sehr, sehr leichten Grauburgunder, ein knuspriges Brot mit Rahm statt Butter, und meine Dessertvariation sieht zwar etwas lieblos aus, schmeckt aber gut. Ein Stück Ofenschlupfer liegt neben einer kleinen Nocke Mousse au Chocolat und einer undefinierbaren weißen Creme. Vielleicht ist es eine etwas weiche Panna Cotta oder ein Stück Flammeri. Genau weiß das keiner. Wegen des Maultaschendefizits bekomme ich das Dessert immerhin gratis.
Wir reden ein bißchen über Mitte und alles außer Mitte, über Wohnungen und Makler, Freunde, Bekannte und Feinde, und kurz bevor uns der Gesprächsstoff ausgeht, klingelt das Telefon. Die C. ist dran und kommt wenig später vorbei. Erst als es kühl wird, brechen wir auf.
Vor dem 103 halten wir an. Die C. und ich wollen noch nicht heim, denn heute ist Sommer und alle Tische sind voll. Zwar lässt der Kellner auf sich warten. Zwar verschüttet er, als er mit dem Ingwertee kommt, den Inhalt eines Hundenapfs auf der C. Am Ende aber sitzen wir da, und die Kastanienallee schimmert, und erzählen uns leise etwas über die Wirren des Lebens, die oft nicht aufzulösen sind, so sehr man sich auch wünscht, es wäre anders.
Möglicherweise ist man ja durchaus eher Teil des Problems als der Lösung, denn als in der Schönhauser Nummer acht noch eine Metzgerei ansässig war, habe ich nie da gekauft. Ungefähr täglich bin ich vorbeigefahren. Jedesmal habe ich mich über die Auslage gefreut, in der Hunderte von Keramikschweinen im Fenster ganz rechts herumstanden, und mir fest vorgenommen, einmal die angepriesene frische Blut- und Leberwurst zu erwerben. In der Metzgerei war ich letztlich aber nie. Kaum eröffnet hier aber ein neues Restaurant, renne ich hin.
Leider ist unser Tisch ganz hinten. So gegen Ende des Abends verrät mir mein Begleiter, dass er das auch nicht ganz so großartig findet, aber man will ja auch nicht immer mäkeln, kaum dass man angekommen ist, und so sitzen wir eben in der Ecke ganz hinten zwischen Küche und Klo.
Dem Nero d’Avola jedenfalls tut das keinen Abbruch. Überhaupt ist das ein meistens großartiger Wein, auch mein Cava ist gut, soweit man das trotz der Aperolzugabe beurteilen kann, und weil ich heute kaum was gegessen habe, bin ich schon so ungefähr ab der Vorspeise ziemlich angetrunken. Was soll’s. Mein Tartar ist etwas fettig, aber sehr, sehr lecker. Der Innenraum ist unverändert geblieben, nur zwei üppige Korbleuchter sind neu, und auf den Bierbänken sitzt es sich angenehm. Auf Sesseln spräche es sich möglicherweise etwas schwerr über (fremde) Leidenschaft, weil Bequemlichkeit sich mit Intensität ja aus irgendwelchen Gründen (über die nachzudenken ich gerade etwas zu betrunken bin) schlecht verträgt.
Meine Jacobsmuscheln sind gelungen, mittig noch etwas glasig, zart, und dass keine Sauce zum Reis und den Linsen gereicht wird, ist wahrscheinlich sehr korrekt und beabsichtigt. Ich hätte trotzdem gern etwas weniger Trockenes gegessen. Meks Taube dagegen ist in der Keule merkwürdig knallrot. Laut dem Koch muss das so sein, ich kenne mich da nicht so aus (bei mir ist Geflügel immer durch), aber zum Ausgleich bekommen wir einen weiteren Wein. Die Mousse zum dritten Glas ist super. Hier kann man öfter essen, versichere ich mir und schiebe mir einen Löffel nach dem anderen in den Mund.
Ordentlich voll ist es, stelle ich fest, als wir gehen. Ob ich auch so bin wie die anderen, frage ich mich beim Gang durch das Lokal und schaue die anderen Leute kurz an. Sehr korrekt sehen die anderen Gäste aus, die Bewohner von Mitte in genau der richtigen Kleidung, mit ihren richtigen Ansichten und der richtigen Musik, und ich schalte den iPod an, um mir nicht zu antworten, dass genau das zutrifft, denn es ist ja auch egal oder zumindest: Ohnehin nicht zu ändern.
Auf einem Sofa zu liegen, Erdbeeren zu essen, rot und prall und tropfend vor Saft. Sich wundern, dass die Natur etwas hervorbringt, was so perfekt ist wie das, sich die Lippen zu lecken, benetzt mit süßem Saft, und die Zunge in die Höhlung inmitten der Erdbeere zu drücken.
Die Erdbeerschüssel auf den Bauch zu stellen und die Bauchmuskeln anzuspannen und sich zu freuen, wie die Schüssel auf und nieder wippt. Eine ganz besonders große Beere auszusuchen, abzubeißen und wohlgefällig die halbe Frucht zwischen zwei Fingern zu drehen, anzuschauen und mit der Zunge zu zerdrücken, die Augen zu schließen und darüber nachzudenken, dass jede Beere nur Tage existiert von der Reife zum Verderben, und – wie alles, was es gibt – mit Liebe gegessen werden sollte, mit Aufmerksamkeit und Sorgfalt, wie heute auf dem Sofa und nur selten sonst.
Am Ende des Abends ist es noch nicht einmal elf, aber ich bin komplett außer Gefecht. An sich hätte ich auch einfach an Ort und Stelle einschlafen können, vielleicht im menschenleeren Raucherraum, umgeben von überlebensgroßen Frauen mit schönen Brüsten, oder einfach auf der gut gepolsterten Bank, noch einen Champagner, vielleicht etwas später noch einen Martini oder einen starken, schwarzen Kaffee, aber statt dessen fahre ich heim. Ich bin gnadenlos satt.
Die Frauen am Tisch vor uns haben ihre Crème Brûlée zum Teil nur halb aufgegessen. Mein Teller ist leer. Das Steak vom Wagyu-Rind ist vermutlich fetter als Mascarpone und doppelt so lecker, aber dafür, so sage ich mir, habe ich weder Sauce noch Kartoffeln bestellt, und ohne Kohlenhydrate – hey, was soll schon passieren. Heute ist Atkins-Tag. Oder so ähnlich. Und der Salat mit Papaya und Avocado und Shrimps dazu ist vielleicht fett, aber sicherlich ungeheuer gesund. Avocados, habe ich irgendwo gelesen, haben eine ungeheuerlich heilkräftige Wirkung.
Rotwein ist sowieso total gut fürs Herz. Eine halbe Flasche Rotwein ist daher noch viel besser, glückliche Menschen werden sowieso älter als Trauerklöße, und deswegen habe ich allen Grund, zufrieden zu sein mit mir und dem Leben und dem reizenden J. als Begleiter, als ich nach Hause fahre, den Weinbergsweg hoch, und nur, weil ich nicht singen kann, bleibe ich stumm und jodele nicht aus vollem Halse:
Vor dem Rutz angekommen, haben die C. und der J. keine Lust mehr. Das Publikum des achten Geburtstags dieser in Ostberlin wohlbekannten Weinbar sei im Schnitt – geschätzt von der anderen Straßenseite – ungefähr hundert, wird sich beschwert, und so laufen wir weiter. Irgendwo ein paar Straßen entfernt schlägt es zwölf. Schade, bedaure ich, und denke ein bißchen wehmütig an den Wein, ein paar Häppchen und einen lässigen Tresenabend in Jeans und Shirt. Zum Umziehen nämlich war ich eine gute halbe Stunde zuvor zu faul, und laufe ungefähr in demselben Aufzug umher, in dem ich irgendwann morgens beim Bäcker war: Eine schwarze Jeans. Ein isabellafarbenes T-Shirt für € 4,90, weiße, billige Ballerinas und einen schwarzen Trenchcoat, dem ein Knopf fehlt. Schmuck trage ich keinen, geschminkt bin ich auch nicht, meine Haare stehen ab, und so kommt es mir ein bißchen ungelegen, als der J. und die C. so circa Höhe Reinhardstraße beschließen, es gehe nun ins Tausend. Ins Tausend also. Und das mir in diesem Aufzug.
Vor der Tür des Tausend stehen ein paar Frauen, die sämtlich besser angezogen sind als ich. Nicht, dass ich die Sachen geschenkt haben möchte, aber teuer waren sie ganz bestimmt, und dass die sichtbare Mühe beim Zurechtmachen nicht zum Erfolg führt, lässt mich das Schlimmste fürchten: Die Tür schickt die Frauen weg. Sie seien wohl ein bißchen zu alt und zu dick gewesen, spekuliert der J. etwas später. Männer lässt der Türsteher offenbar gerade gar nicht mehr rein.
Ein wenig Mühe kostet es also schon, auch den J. in die Bar zu bugsieren. Gut sieht er doch aus, mein geschätzter Gefährte, denke ich, und bin noch ein bißchen besorgter, und in der Tat erweise sich alle meine Sorgen als komplett berechtigt. Alle anwesenden Frauen sind auffälliger und ganz sicher kostenträchtiger gekleidet als ich, ganz überwiegend blond, im Schnitt etwa 22, und so fühle mich wie eine Hausfrau beim Staubsaugen bei einem Modelcontest, als ich schließlich neben der riesigen, spiegelnden Kugel an der Wand auf der Bank sitze und Sekt trinke. Es ist rappelvoll. Rechts, links, vor und neben mir schwenken sehr dünne, sehr junge Frauen ihre Handtaschen umher, fahren sich mit gespreizten Fingern durchs Haar und lächeln die durchschnittlich vierzigjährigen Männer auffordernd an. Die meisten Männer, fällt mir auf, sehen aus, als sei ihr modisches Ideal ein russischer Oligarch.
Die C. und ich begutachten Handtaschen und Schuhe und fragen uns, ob es eine gute Idee war, die Energie zwischen zwanzig und dreißig in zwei Staatsexamina zu stecken. Hätte man die damals ja noch im Übermaß vorhandene Zeit in Schönheit investieren sollen? Hätte ich es weiter gebracht, wäre ich damals zur Maniküre und nicht zur Vorlesung Staatsrecht II gelaufen? Was machen die Mädchen hier eigentlich beruflich? Und wie sieht es bei diesen zum allergrößten Teil vermutlich nicht reich geborenen Mädchen in zehn Jahren aus? Wird sich der Aufwand auszahlen, und eines Tages laufen jene Personen behängt mit Einkaufstaschen auf der Friedrichstraße an mir vorbei und schauen mich noch viel abschätziger an, als heute nacht an der Bar?
Einer weiteren Konfrontation mit den „was macht denn die da hier“-Blicken enthebt mich dankenswerter Weise der nachkommende M.2. Genauer gesagt geht die Beendigung der etwas unwürdigen Situation auf die Interaktion zwischen dem Herrn der Pforte und dem M.2 zurück, denn dieser ist auch auf Zureden der C. nicht bereit, noch einmal die Tür zu öffnen. Um den M.2 nicht allein einer einsamen weiteren Abendgestaltung zu überlassen, ziehen auch wir ab. Vor der Tür, sehe ich im Gehen, steht ein weißer Porsche 911, offenbar eine Sonderanfertigung, hinten mit Rennsitzen und Spoiler obendrauf, und am Bug irgendwie dicker, als ich dieses Gefährt in Erinnerung habe. Der Wagen sieht unglaublich aus, und ich hätte ihn jedem zweiten Gast dieses Ladens zugetraut.
Wir gehen also langsam, zu viert nebeneinander, die stille Friedrichstraße hinab. Um nach Hause zu fahren ist es entschieden zu früh. Aufs Reingold habe ich keine Lust, eine Rückkehr zum Rutz passt der C. und dem J. immer noch nicht, und so stehen wir zwanzig Minuten später vorm Shochu. Es ist gold und schwarz hier drin, und die Kissen haben kleine, aufsässige Mähnen. Wie wohl mein Kater mit einem solchen Miniaturirokesen aussehen würde, frage ich mich, und streiche über das harte, dicke Fell.
Die Bar hat eigentlich keine Lust mehr auf uns. Es gebe nur noch eine Runde, stellt sich uns eine Frau in den Weg, als wir kommen. Das sei okay so, bescheiden wir die Dame und setzen uns hin. Eine halbe Stunde später kommen die (in meinem Fall hervorragenden) Getränke. Eine weitere halbe Stunde später dreht irgendjemand das Licht in unserer Ecke dermaßen auf, dass wir gehen. Die Rechnung haben wir schon vorher unaufgefordert in einer Dose auf den Tisch gestellt bekommen.
Einen letzten Wein trinke ich noch, es ist spät, im Visite ma tente in der Schwedter Straße. Die Kellnerin lächelt uns müde und freundlich an, wie immer. Auf der Galerie, hinten in der Bar, feiern ein paar Franzosen irgendetwas, lachen, Gläser klirren, und für einen Moment stelle ich mir vor, es sei elf und nicht drei, und der Abend läge noch vor uns. Hier. Oder anderswo.
Es ist ja nicht so, dass hier grundlos gejammert würde. Tatsächlich verhält es sich nämlich so:
Unter der Woche läuft alles prima. Morgens stehe ich auf und esse gar nichts. Mittags gehe ich essen. Entweder gibt es Salat. Oder es gibt Sushi. Einmal die Woche esse ich chinesisch, meistens Hühnchen mit Gemüse. Ab und zu esse ich Nudeln, gelegentlich ein Steak, und abends gehe ich wieder irgendwo essen. Wenn es hinhaut, irgendetwas Leichtes. Am Wochenende aber schlägt der Gott der fetten Speisen so richtig auf die Pauke.
Am Freitagabend also treffe ich den J.2. Jenem reizenden, mir seit vielen Jahren vertrauten Herrn schlage ich vor, japanisch zu essen. Oder Thai. Die Mails gehen vier- fünfmal hin und her. Der J.2 ist aus irgendwelchen obskuren Gründen strikt gegen den Fischverzehr, so dass die japanische Küche faktisch ausscheidet. Thai findet er ohne Angabe von Gründen doof. Am Ende sitzen wir im Jolesch, er isst Schnitzel, ich esse Tafelspitz, und dass ich die Kartoffeln stehen gelassen habe, macht den Braten dann auch nicht mehr fett, bzw.: Es macht die Mahlzeit nicht mehr magerer. Weil wir schon mal da waren, habe ich vorher Tartar von der Jacobsmuschel bestellt, mit Brunnenkressemousse aus Sahne dazu. Danach gab es Sorbet. Mit Kokosmilcheis.
Am Samstag wache ich auf und der geschätzte Gefährte J. ist krank. Wie es so zu gehen pflegt, wenn man am Vorabend vier Bier auf seit dem Frühstück nüchternen Magen trinkt, fühlt der J. sich enorm unwohl und jammert leise vor sich hin. Ein Versuch, den maladen Magen nach einem Charles Bukowskis Werk entnommenen Vorschlag mit einem hartgekochten Ei zu heilen, schlägt überaus drastisch fehl. Ich koche also magenberuhigende Kartoffeln. Dazu gibt es Gemüse. Dann kaufe ich ein.
Nachmittags besuche ich eine charmante Dame, ihren hübschen Hund und ihre reizenden Söhne. Es gibt Sekt, es gibt Torte. Es gibt Petit Fours und Hefekranz. Es gibt Schlagsahne. Ich nehme von allem, weil man die Feste feiern soll, wie sie fallen, amüsiere mich bestens und dann fahre ich heim. Zwei Stunden später kommen ein paar Gäste, weil der J. Geburtstag hatte.
Weil gerade weder der J. noch ich Zeit und Lust zum Zubereiten von Speisen haben, klingelt es absprachegemäß um sieben. Ich bin noch unterwegs, der J. öffnet die Tür, der Caterer überreicht ein paar Platten, und der J. ruft mich an. Ich steige also mitten auf der Danziger Straße vom Rad, und der J. schäumt aus dem Hörer. Es sei zu wenig. Die Platten seien fast leer. Die Tapas reichen nicht mal, so sagt er, für uns beide, und so kaufe ich auf der Stelle noch ein bisschen ein. Es gibt also auch noch Antipasti. Und Brot. Und einen Käsekuchen habe ich auch gebacken. Außerdem gibt es Wein und Sekt und Bier und Bionade.
Wie sich einige Stunden später herausstellt, reichen die Platten doch. Die eingeladenen Freunde haben dem J. zudem beim Sowohlalsauch einen Schokoladentorte gekauft, weil jener Herr gelegentlich einmal den Wunsch geäußert hat, einmal eine ganze Torte für sich allein zu haben.
Der J. verteilt die urfetten Tortenstücke dann doch. Ich esse von allem. Ich esse Torte und Albondigas. Ich esse Seranoschinken und Manchego. Ich esse Montaditos, ich esse Nüsse, ich kaue ein bisschen Tortilla, weil sie da ist, und was sonst noch so herumsteht, esse ich auch. Weil ich beim Sekttrinken gerade so schön in Fahrt bin, trinke ich einfach weiter. Gegen morgens um zwei habe ich cica 7.500 Kalorien verzehrt und getrunken. Dann gehe ich schlafen.
Morgens um zwölf wache ich auf und esse weiter. Die Platten sind ja noch da. Etwas später ruft die C. erst an, kommt dann vorbei, verlangt Torte, und als ihr Sekt angeboten wird, strahlt sie. Es gibt also Sekt.
So gegen sieben muss die C. los. Ich bin pappsatt. Leider habe ich einen Rehrücken schon vorher aufgetaut und mariniert. Den kann ich nun nicht wieder einfrieren. Schade darum wäre es auch, deswegen werfe ich den Ofen an, schäle Kartoffeln, setze Rosenkohl auf und als der Rehrücken fertig ist, schmecke ich die Sauce ab. Wildsaucen schmecken ja nur mit Fond und Wein.
Um neun kann ich unmöglich noch irgendetwas essen. Zum Sport ist es zu spät. Ich fühle mich wie diese französischen Gänse mit der großartigen Leber, bin aber sogar zum Schnattern zu satt, sitze am Rechner und surfe ein bisschen herum.
Morgen Salat, nehme ich mir vor. Und nächstes Wochenende nichts als gedünstetes Gemüse.
Aber ich bitte Sie. Wie denn? Ich bin 33, nicht gerade das, was man eine gute Futterverwerterin nennt, und meine Kämpfe um die ja nun objektiv nicht gerade ambitionierte Kleidergröße 38 sind durchaus, das muss man so sagen: qualvoll und erbärmlich. In der Welt der schönen Frauen existiere ich sozusagen nicht mal am Rande. Ein entspanntes Verhältnis zur Nahrungsaufnahme besitze ich daher nicht mal im Ansatz und beneide jene, die von Natur aus und ohne irgendetwas dafür zu tun mit einer Abneigung gegen fette oder süße Speisen gesegnet sind. Wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich von Kuchen leben.
Dass Disziplin beim Essen schnell auch etwas wunderliche Blüten treiben kann, höre ich daher stets mit einer gewissen Mischung aus Mitleid und Neid. Jene fünfzig Kilo leichte Dame, welche als Kollegin meines lieben Freundes J.2 seit Beginn ihrer Berufstätigkeit immer leichter wird, mag objektiv möglicherweise an den Rand des Pathologischen gehören. Ihre Figur jedoch stellt ein schwer zu widerlegendes Argument für eine Störung dar, welche man unter dem Namen „Orthorexie“ kennt: Die krankhafte Angst, etwas Falsches zu essen.
Als Studentin war das offenbar kein Problem. In der Mensa aß besagte Dame Salat. Am Abend kochte sie sich leichte Curries oder Suppen aus Biogemüse. Auf Parties nippte sie an Weißweinschorlen, trank ausreichend Wasser dazu, und so fiel die wohl schon seit Jahren bestehende Störung schier gar nicht auf. Dann aber wurde die Dame berufstätig. Sehr berufstätig sozusagen, siebzig Stunden die Woche, die sie fast ausnahmslos außerhalb Berlins verbringt.
Mit Kochen war da natürlich Schluß. Mit gesundem Essen eigentlich auch, denn wie jeder, der einer Berufstätigkeit nachgeht, weiß, ernährt sich der Dauerinsasse stetiger Meetings vor allem von Schnittchen und Keksen, um abends mit den – in diesem Fall beratenen – Kunden langwierig und viel an öffentlichen Orten zu essen.
Bio war da nicht drin. Nach ein paar Wochen gab die Dame ihren Widerstand gegen die Erzeugnisse der konventionellen Landwirtschaft zumindest soweit auf, dass sie auch Käse und Vollkornsemmeln ohne das ersehnte Prädikat nachhaltiger Erzeugung zu sich nahm. Gab es nur Weißmehlprodukte, aß sie eben nichts. Oder nur vom Obstteller. Bei abendlichen Essen bestellte sie Salat mit Dressing extra. Am Frühstücksbuffet im Hotel löffelte sie Magermilchjoghurt. Gab es das nicht, blieb es bei ein paar Äpfeln. Ansonsten reist die Dame stets mit Reiscrackern, die sie sich Samstags kauft.
Natürlich nahm sie ab. Während alle anderen Berufsanfänger im ersten Jahr mächtig Gewicht machen, wurde sie als Einzige des Einstellungsjahrgangs 2008 immer dünner. Es hagelte Komplimente. Mehrere Kollegen und zwei Kunden verliebten sich in sie, weil bekanntlich fast nichts mehr von überwältigenden inneren Werten zeugt wie eine gute Figur. Als alle Kollegen aus ihrer zweite Generation Anzüge herauswuchsen, ärgerte sie sich über den Umstand, dass es bei Hosenanzügen keine Größe Null gibt.
Inzwischen macht sich ihr Teamleiter ernsthafte Sorgen. Zwar ist es ihr gelungen, durch die mitreisenden Vorräte einer gesundheitsgefährdenden Abnahme offenbar vorzubeugen. Indes sind Zwistigkeiten im Team zwischen den sich stetig verbreiternden Kolleginnen und der Orthorektikerin ausgebrochen, bei denen, wie man hört, die Sympathien der männlichen Kollegen eher auf Seiten der schlanken Person zu verorten sind, die – so sagt man – wenigstens auf sich achte.
Da liegt man nun also im Bett. Nicht mehr ganz so marode, dass gar nichts geht, aber noch längst nicht vital genug, um irgendwohin zu gehen und etwas zu essen. Bei nüchterner Betrachtung reicht es gerade von hier bis ins Bad, und gestern ist man beim Einkaufen von Milch und Taschentüchern im Supermarkt umgekippt. Überhaupt fühlt man sich beispielsweise einer Kalbshaxe auch ganz generell noch gar nicht gewachsen. Burgunderfleisch aus Faux Filet vom Rind, Hirschmedaillons mit Kroketten, Semmelknödel mit Pilzen in Rahm und Markklößchen seien besseren Tagen vorbehalten, aber eine Suppe beispielsweise, eine leichte, gebundene Hühnersuppe mit Mandeln und Zitronenzesten und einem Eigelb in der Tasse: Das wäre schon schön. Oder einfach ein bisschen geröstetes Brot, Frischkäse und ein paar Tomaten. Natürlich ist nichts davon da.
Noch besser wäre natürlich etwas Süßes. Scones beispielsweise, wie sie die I. backt, mit Double Cream und selbstgekochten Marmeladen. Oder ein Stück Käsekuchen vom Café Sowohlalsauch, mit Sahne natürlich und frischem Obst. Oder die Milchreistorte, die irrsinnig sättigend ist und schmeckt wie ein sehr gelungener siebter Geburtstag.
Ginge es, malt man sich aus, aufrecht und auf zwei Beinen bis zum Kollwitzkiez, so wäre natürlich auch eine Tarte Opéra im Rahmen des Möglichen, mit saftig durchtränktem Biskuit und dunkler Schokolade bei Albrecht in der Rykestraße. Oder – wenn man schon mal da wäre – noch eine Tarte Tatin dazu? Die Tarte Tatin mit den karamellisierten Äpfeln, an der ich mich immer wieder versucht habe, und die bei mir nicht halb so gut schmeckt? Oder nur ein einziges Törtchen bei Albrecht, vielleicht ein Millefeuille, und dann weiter in die Werkstatt der Süße und ein Safran Biskuit mit Café Noir Mousse und Cassis? Der Kokos Erdbeer Dome mit Iviore? Ein oder zwei Macarons, die in großen Gläsern auf der Theke stehen? Zumindest ein bisschen heiße Schokolade?
Aber dann doch nur ein bisschen kalter Grieß aus Magermilch und ein ganz und gar unkaramellisierter Apfel. Mit Tee.
Deutsche Touristen zerfallen in zwei ungefähr gleich große Gruppen, von denen die eine im Ausland immerzu Deutsche treffen will, und die andere am liebsten nie. Erstere begeben sich zu diesem Zweck gern in strandnahe Ferienhotels, die mit ihrem deutschsprachigen Rezeptionspersonal in Katalogen werben, und beschweren sich, wenn vor Ort nicht alle deutsche Fernsehsender übertragen werden. Diese Gruppe zumeist angenehm schlichter Menschen schätzt am Ausland insbesondere das oftmals angenehme Wetter und beherrscht zudem keine Sprachen, insbesondere keine fremden. Bei der zweiten angesprochenen Gruppe dagegen liegt nicht falsch, wer diesen Menschen eine intensive Misanthropie unterstellt, die in den anderen Deutschen vor Ort täppische, lärmende und schlechtgekleidete Leute sieht, und in den Einheimischen verschlagene Wesen, die Reisenden nur minderwertigen Fraß in billiger, abgeschmackter Atmosphäre kredenzen, um selber sorgsam versteckt vor plattfüßigen Teutonen zu feiern und zu speisen.
Während also die Angehörigen der ersten Gruppe nach dem Urlaub gern erzählen, sie hätten sich im Ferienhotel Royal Sol mit Sabine und Rolf aus Essen angefreundet, hört man aus der zweiten Gruppe regelmäßig und triumphierend, überhaupt keine Touristen getroffen zu haben. Vielmehr habe man die Gaststätten der Ortsansässigen besucht, überaus landestypisch gegessen, die Bekanntschaft Einheimischer gesucht und gefunden, und habe also ein ungleich intensiveres Reiseerlebnis genossen als all diejenigen, die zufrieden seien mit den Empfehlungen der Reiseführer oder gar die ganze Zeit im Hotel blieben und vom Land rein gar nichts sähen.
Konfrontiert mit diesen, Ihnen, meine Damen und Herren, sicherlich sattsam bekannten Ausführungen sollten sie die Reisekonzepte beider Gruppen keinesfalls kritisieren. Denn Erstere würden Ihre Anmerkungen möglicherweise kränken, denn ein einfaches und unverdorbenes Gemüt könnte auch sorgsam gewählte Worte als Hochmut verstehen und Ihnen bildungsbürgerliche Vorbehalte unterstellen, die Sie selbstverständlich gar nicht hegen. Zweitere dagegen reagieren oftmals aggressiv auf auf der Hand liegende Fragen. So verärgert man jene, hakt man nach, wieso sich an dem doch offenbar sowohl angenehmen als auch zugänglichen Ort in fremden Landen keine anderen Reisenden aufhielten. Und wieso die Einheimischen um so viel zugänglich gewesen seien, als man selbst es gegenüber den Fremden ist, welche täglich die schöne Stadt Berlin besuchen, und die man niemals zu sich nach Hause einlädt, wie käme man auch dazu. Und wieso andernorts die Stätten, an denen sich Einheimische aufhalten, besonders landestypisch seien, wo doch jeder weiß, dass tatsächlich zumeist Schweden keine Köttbullar, Russen keinen Borschtsch, Deutsche kein Sauerkraut und Spanier keine Tapas essen, sondern jeweils Pizza, Spaghetti, Sushi und kalifornischen Wein in weltweit ziemlich ähnlichem Ambiente zu sich nehmen. Schließlich sind die einzigen, wirklich sehr deutsch anmutenden Orte Berlins jene, die kein Ortsansässiger, aber jede Urlauber auf der Suche nach dem wirklich Authentischen, Typischen aufsucht, und dort oft nicht einmal schlechtes Essen bekommt.
Erstere, die mit der deutschsprachigen Reiseleitung nämlich, empfehlen ihr Hotel übrigens sehr gern weiter. Zweitere dagegen zieren sich ein bisschen, denn nichts sei einem Ort weniger zuträglich als ein wachsender Zustrom an Touristen. Am Ende empfehlen sie dann doch, doch zu spät, stets zu spät, denn wenn man selbst an den gepriesenen Orten auftaucht, ist es zumeist aus mit dem Zauber des Landestypischen, und fröhlich prosten einem Sabine und Rolf aus Essen vom Nachbartisch aus zu. Mit etwas Glück isst man trotzdem gut.
Empfehlungen, so hört man dann nach seiner Rückreise, seien eben Gift, und am besten behielte man alles ganz für sich. Auf der Zunge liegt es einem dann, zu fragen, was das denn solle, denn das Essen werde ja nicht schlechter, wenn man darüber spreche, insbesondere, wenn auch Qualitätsverluste weitergetragen würden. Dies auszusprechen aber macht gar keine Sinn. Besser fahren sie damit, zu lächeln, zu schweigen, und ihrerseits mit gutem Beispiel voranzugehen, wenn Sie etwa aus Barcelona zurückkommen, auch wenn Sie mit so gut wie gar keinen Einheimischen gesprochen haben und die Lokale Ihres Vertrauens entweder in Reiseführern oder im Internet suchen und finden.
Also denn: Im Origens habe ich gut und unfassbar günstig den besten Spinat des Jahres mit Rosinen, Pinienkernen und Frischkäse, gefüllten Tintenfisch, Käse mit Quittengelee und Crema Catalana gegessen, auch wenn der Tisch vor den Toiletten etwas trostlos aussah. Bei Pinotxo in der Boqueria einen Kartoffelsalat mit Avocado, einen butterweichen, hinreißenden Kichererbsensalat mit Blutwurst und Zwiebeln, eine frische Seezunge, Hühnchen, Venusmuscheln, Langusten und kleine, süß getränkte Kuchen. Bei der Granja Viader eine dicke, dunkel Schokolade, eine mit Zitronenschale und Zimt gewürzte Milch und ein bisschen Torte aus einer Art Frischkäse. Bei Taller de Tapas nichts, was sich zu empfehlen lohnt, aber dafür bei Sagardi zu dritt fast dreißig Superschnittchen mit viel zu viel Sekt, umgeben von einem ganzen deutschen Fachanwaltskurs auf Reisen, und bei La Vinya Del Senyor gab es sehr, sehr guten Wein, nicht nur aus Spanien, und viel zu viel Cava.
Man sagt, schon seit geraumer Zeit hätten die Herren Marx und Hegel ihre bekannten Streitigkeiten beigelegt, und zwar habe der Herr Professor Hegel auf voller Linie gesiegt. In Erfüllung einer alten Wette habe der Herr Marx auf einen der wackeligen Marmortische des Café Europa steigen und angelegentlich dieser Dialektik, von der man jetzt soviel hört, zugeben müssen, dass der Materialismus ein Quark, und das Bewusstsein der Leute die ganz und gar entscheidende Größe für eigentlich alles sei. Geklatscht und gejubelt hätten, sagt man so, die Gäste des Café Europa, die von den lästigen Streitereien weniger der beiden alten Herren als ihrer Claqueure schon reichlich angefressen gewesen seien, und insbesondere der Ober Alfred, ein schon recht runzliger Herr mit Fliege um den Hals und stets weißem Hemd über dem schwarzen Kragen sei so gerührt gewesen, dass ihm fast die Kaffeetassen heruntergepurzelt seien von seinem Tablett. Dies, so sagen sogar die ältesten anwesenden Gäste, passiere ansonsten eigentlich nie und deute so recht eigentlich das Epochale an der ganzen Sache an, wie ja das Kellnerwesen überhaupt das Verhältnis von Sein und Bewusstsein am besten auszudrücken in der Lage sei.
Hätten nämlich beispielsweise, so hört man diesbezüglich aus allbekannten Kreisen bisweilen nicht ganz ohne Schadenfreude, die Anhänger des Herrn Marx recht gehabt, so wären etwa, um ein ganz beliebiges und vollkommen beiläufiges Thema anzusprechen, die Berliner Kellner, geprägt von ihrem Kellnersein, auch etwa so wie der Ober Alfred. Ganz so wie dieser im Regelfall freundliche ältere Herr würden auch die Berliner Kellner hinter oder vor ihren Tresen stehen, die Blicke schweifen lassen über den Raum, und wenn einer etwas haben möchte, so kämen sie gelaufen.
So wie der Ober Alfred hätten dann zwar auch die Berliner Kellner ihre Vorlieben und Abneigungen. Auch würden sie – ganz wie der Herr Ober Alfred – längst nicht jeden mit Namen begrüßen und wären durchaus unterschiedlich freundlich. So wie aber etwa die Kellnerin aus dem Café *** am Helmholtzplatz, die annähernd bewegungslos, versonnen vor der Espressomaschine steht, Sonntag morgens um halb zwölf und den Mund zu einer demonstrativen Geste des Schmollens verzieht, ruft ein zunehmend hungriger Gast nach Bedienung, so sähe, bestimmte das Sein das Bewusstsein und nicht umgekehrt, niemand die Berliner Kellner mehr mit leeren Hände zwischen den Stühlen herumstehen, sorgfältig darauf bedacht, dem Blickkontakt mit potentiellen Kunden auszuweichen.
Dass – um im vorerwähnten Beispiel zu bleiben – das Roastbeef-Sandwich aus ist, hätte auch ein Ober Alfred vermelden müssen. Dass die Nüsse vom alternativ ausgewählten Gorgonzola-Sandwich nicht abgekratzt werden könnten, hätte ein zu wahrem Kellnertum reformierter Berliner Kellner vermutlich nicht mit derselben schnippischen Betonung mitgeteilt. Dass aber in irgendeiner anderen Galaxie die Bedienung mit einem zu Tode gekränkten Blick die Frage „Haben sie denn irgendwas anderes zu Essen?“, quittiert: Das ist unwahrscheinlich. Dass die nicht mehr vorhandenen Speisen auf der Kreidetafel neben dem Eingang einfach stehen bleiben – nun gut, die Kellnerin kann nicht gleichzeitig die Kaffeemaschine hypnotisieren und die Tafel ändern.
Hier aber, so sagen manche Damen und Herren, ist nicht schiere Unfähigkeit am Werk. Vielmehr belegt diese ganz und gar ungenügende Bedienung den Wahrheitsgehalt des Werks vom Herrn Professor Hegel: Die Kellnerin aus besagtem Café nämlich ist – wie dies den Berliner Kellner charakterisiert – eigentlich keine Kellnerin, sondern irgendetwas anderes, was gerade nicht klappt. Der Berliner Kellner identifiziert sich nun aber ganz und gar nicht mit seinem kellnernden Sein, sondern beansprucht die Identität mit einem nicht-kellnernden Bewusstsein. Sehr, sehr allergisch reagiert er darauf, hält auch nur die Außenwelt den Kellner an seiner Existenz statt an seiner Wunschvorstellung fest. Zwar mag es sein, dass aus dieser Wunschvorstellung eines Daseins als Maler, Architekt, Choreograph oder Model schon ziemlich lange und absehbar auch zukünftig nichts wird. Gleichwohl beansprucht der Berliner Kellner, als Maler in temporären Finanzproblemen behandelt zu werden, als the next big thing kurz vor dem Durchbruch, und ein leicht gereizter Ruf nach der Rechnung, vergeblich geäußert zum dritten Mal, wird schon deswegen nicht als Anlass vertragsgemäßer Dienstleistung angesehen, sondern als menschliche Rohheit, als Rücksichtslosigkeit gegenüber einem Mitmenschen, der doch Schonung, wenn nicht sogar Hochachtung verdient hätte für seine kreative Mission, oder zumindest zarteste Rücksichtnahme und Mitleid für einen Zeitgenossen, den widrige Umstände zu erniedrigender Erwerbstätigkeit zwingen.
Entsprechend ist dem Berliner Kellner egal, ob der Gast zufrieden oder überhaupt nur bedient wird. Die Reklamation dessen aber empört den Berliner Kellner. Behandelt der Gast den Berliner Kellner etwa wie einen richtigen, hundsordinären Kellner und nicht wie ein verkanntes Genie? Kann die dicke Frau vor der Tür nicht froh sein, überhaupt etwas zu trinken zu bekommen? Muss es auch noch der richtige Wein sein, und ist es nicht mächtig unentspannt, diesen auch noch innerhalb von dreißig Minuten einzufordern? – Empört steht der Berliner Kellner in solchen Situationen vor dem Gast und fordert mit wilden Blicken Respekt vor einer imaginären Lebensleistung ein. Hätte irgendjemand, so blitzen der Kellner Augen, Gerhard Richter um Kaffee geschickt? Fände es irgendjemand vorwerfbar, wenn Thomas Mann statt eines Streifens Nussbeugel ein Ochsenauge bringt?
Quod erat demonstrandum, behaupten die siegreichen Gäste des Café Europa und schütteln im Triumph des Idealismus hochragende Fahnen.
(Allerdings sei, flüstern manche Unbelehrbare an den schlechteren Tischen, das Bewusstsein der Berliner Kellner zwar mächtig genug, die Qualität ihrer Dienstleistung erheblich zu schmälern. Dass das schiere Bewusstsein einer künstlerischen Existenz die Berliner Kellner zur Verwirklichung der hierfür erforderlichen Leistungen befähige: So weit reiche es dann doch nicht mit der Macht der Ideen.)
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