Über Liebe

Besuch

Dass ich noch weiß, dass der G. an einem 25. Juli vor der Tür stand, ist schon fast der größte Witz. Es waren Ferien, natürlich waren Ferien, und ich hatte vermutlich Jeansshorts an, also so selbst abgeschnittene mit lang herabhängenden weißen Fäden unter der schiefen Kante und dazu ein zu großes T-Shirt.

Meine Eltern waren arbeiten. Meine kleine Schwester verbrachte eine Woche in einem Feriencamp irgendwo an einem See und ließ sich von Mücken zerstechen. Ich war gerade ausgesprochen ungesellig, traf täglich die drei Freunde, mit denen ich gemeinsam ungesellig war, und wir lagen verdrossen und schweigend am See. Ich war 14, lachte quasi nie, konnte nichts Besonderes, interessierte mich für nichts Nützliches und muss für quasi jeden um mich herum eine ziemliche Enttäuschung gewesen sein, sogar für meinen Freund, in den ich ziemlich gern verliebt gewesen wäre. Warum wir trotzdem zusammen waren? Vermutlich aus einer Art Ordnungssinn heraus, und außerdem wollte ich nicht als fünftes Rad am Wagen hinter den anderen Paaren herstolpern.

Dass es mit dem G. nichts werden würde, war mir von Anfang an klar. Ich glaube, ich hatte das gar nicht versucht, nicht mal so halb ernsthaft. Wir würden zwei, drei Jahre später  befreundet sein bis heute, aber in diesem Sommer kannten wir uns quasi noch gar nicht, denn die coolen und die nicht coolen Kids gehören in Mittelstufen zwei unterschiedlichen Universen an.

Wir haben später nie über diesen Besuch gesprochen. Wenn ich ihn heute fragen würde, was er damals bei uns wollte, würde er vermutlich bestreiten, jemals geklingelt zu haben. Vielleicht kam er wirklich einfach nur vorbei. Vermutlich hat er es längst vergessen. Ich aber, ich weiß noch, wie sich diese Mischung aus Staunen, Freude, Angst vor Enttäuschung, Enttäuschung selbst und diesem Verliebtheitsgefühl, das bei mir als gespannte, gläserne Stelle am Hinterkopf, am Zwerchfell und in den Handtellern sitzt, angefühlt hat, als ich die wenigen Schritte zur Haustür ging, als ich öffnete, als er nicht reinkommen wollte und wir im Hausflur standen und er nur sagte, dass er vorbeigekommen sei und gleich weiterwolle und dann wieder ging.

Plädoyer für mehr Gleichgültigkeit

Von der X hört man, sie lebe jetzt allein mit den Kindern, und vom Y, er suche gerade eine Wohnung. Der Z ist gerade nach Neukölln gezogen, um dort in Bars gerammelt voller zwanzig Jahre jüngerer Hipster seine vermutlich mindestens zweite Jugend zu suchen. Alle miteinander verstopfen den ohnehin derzeit etwas strapazierten Berliner Wohnungsmarkt, streiten sich um Geld, Kinder, Freizeit, Sommerhäuser und die Deutungshoheit über die vergangenen zehn Jahre, und bisweilen verwechsele ich beim teilnahmsvollen Zuhören die nie rechtzeitig abholenden Exmänner, die nur auf Zuruf Kinderschuhe kaufen, und trotz Trennung und Scheidung immer noch leben wie die Maden im Speck, während die gebeutelten Frauen zwar die Wohnung behalten, aber ohne Putzfrau den Kindern nun Nudeln bei Lidl kaufen müssten.

Die Männer, so hört man, sind allesamt nach zwei Jahren wieder in festen Händen und bekommen nach vier Jahren mit jüngeren Frauen weitere Kinder, vermutlich, um sich nun nicht mehr auf den Spielplätzen von Prenzlberg, sondern auf denen von Neukölln zu langweilen. Die Frauen treffen mehr oder weniger reizende Männer, ziehen mal zusammen oder auch nicht, und leben ebenfalls, wenn ich es richtig sehe, nicht wesentlich anders weiter als zuvor. Da sitzen sie dann also alle beim Wein, fünf Jahre später: Selbes Leben, anderer, oft recht ähnlicher Partner, nur die Vermögensverhältnisse und die Wochenendorganisation sind ein bisschen schwieriger geworden.

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Puh, denke ich dann bisweilen, während ich den X, Y und Z zuhöre. Mühsam klingt das. Und irgendwie gar nicht so arg oft, als habe sich der ganze Ärger und das viele Geld so wirklich gelohnt. Hätte nicht doch die X bei ihrem etwas schusseligen Erstehemann bleiben sollen? Der hätte zwar bis heute nie ohne Zuruf Geburtstagsgeschenke gekauft oder Kuchen fürs Kitasommerfest gebacken, und auch nur unter Androhung von ernsten Sanktionen die Kinder zweimal wöchentlich morgens zur Schule gebracht. Allerdings ärgert sich die X doch bis heute über diesen, nun die gemeinsame Ausübung des Sorgerechts betreffenden Misstand, aber damals, während sie noch verheiratet war, ärgerte sie sich immerhin deutlich besser finanziert und mit Putzfrau und einem vernünftigen Wagen ausgestattet. Hätte nicht auch der Y einfach in der schönen, geräumigen, Fünfzimmerwohnung in Mitte bleiben sollen, statt nun beengt in zwei Zimmern in Moabit zu hausen und seinen Sohn nur noch zweimal die Woche zu sehen, der ihn derzeit zudem leider hasst? Warum also nicht einfach in freundlicher Distanz verheiratet bleiben, sehr höflich miteinander sein, zwei Schlafzimmer unterhalten, bisweilen sich auf diskreten Abwegen ein wenig amüsieren, weil so ein Dasein ganz ohne Liebesleben ja auch nicht zumutbar ist, und in gepflegter Gleichgültigkeit so lange nebeneinander herleben, bis man wieder halbwegs miteinander befreundet ist. Und vielleicht wird ja irgendwann auch mal wieder mehr draus.

(Aber zugegeben: Ich möchte das auch nicht.)

Aber Dich

Als Du Geburtstag hattest, stehen wir auf der Bötzowstraße und es ist Nacht. Ich schiebe mein Fahrrad, meine Füße schmerzen, und im Rücksitz schläft unser Kind. Ich trage meine hochhackigen Schuhe seit 18 Stunden, ich habe über 1.000 km zurückgelegt, habe irgendwo im Ruhrgebiet weit übers Land geschaut und den Horizont so klar gesehen wie selten. Ich habe Dich und unseren Sohn im Gedränge des Lafayette entdeckt, und sofort war der helle, laute Raum zwischen Dir und mir vor der Fischtheke voll von Blitzen, sprühenden Funken, Fontänen und goldenem Licht. Im Ishin waren wir und haben Sushi gegessen, das wir alle lieben, im Lafayette zurück haben wir Kaschmirpullover gekauft, Crémant getrunken und unser Kind hat getanzt.

Als Du Geburtstag hattest, haben wir Dir Karten geschrieben. Die haben wir in der buchbox gekauft Unser Sohn kann nur ein paar Worte schreiben, aber „Papa“ gehört dazu, und eine Karte hat er für Dich ausgesucht, auf der Dein Lieblingstier abgebildet ist. Die Karte hat er Dir geschenkt, und ein Buch, und auch von mir hast Du eine Karte und ein Buch bekommen. Wir waren dann beim Centro Italia und bei Ikea und bei boesner, wo sie leider einen Rahmen für unser tolles neues Bild von Katia Kelm irgendwie falsch zugeschnitten haben, und wir haben uns angeschaut und beide gleichzeitig gesagt „Berlin“ und gelacht.

Als Du immer noch Geburtstag hattest, haben wir Kuchen gebacken und Bier getrunken, geschlafen und überlegt, ob wir wohl die am lautesten schnurrende Katze der Welt besitzen, und es weiß nur keiner, weil wir das nicht messen. Als Du gerade noch Geburtstag hattest, hast Du Deine Zähne geputzt und ich habe Dich angesehen und mich gefragt, bis wann Du so gut aussiehst wie heute, denn irgendwann sehen ja alle alten Männer irgendwie komisch aus, sogar so Edelgreise wie von Weizsäcker oder so, und irgendwann fängt das ja an.

Als Du Geburtstag gefeiert hast, klingelte es von morgens um elf bis nachmittags um vier. Es gab Wurst und Schinken und Eier und Blinis mit Lachs, es gab Kuchen von mir, und einen, den die liebe C. gebacken hat und der wie eine Pizza aussah. Es gab Salate und Hummus und Hot Dogs aus der großen Partybox von Ikea, und es war laut und schön und die Kinder spielten quasi überall auf dem Boden. Als ich dann losging, um mit einer Freundin ins Kino zu gehen, bliebst Du in der Küche mit den letzten Gästen und schwenktest eine Flasche Bier und sahst ziemlich glücklich aus.

Als ich heimkam, räumten wir ein bisschen auf. Auch die Karten für Dich stehen nun in der Küche an der Wand. Auf der von mir steht: Love and Adventure. Und immer etwas Gutes zu essen.

DkhAaB

Mit 25 habe ich Singles immer beneidet wegen lustig und so. Mit 30 war ich selbst für ein knappes Jahr Single. Das war ungemein amüsant, wenigstens meistens, und als es sich so etwas totgelaufen hatte, das war so 2006, fielen der J. und ich uns wieder in die Arme und zogen sofort wieder zusammen.

Die eine oder andere Freundin – nennen wir die Freundin, um die es hier gehen soll, der Einfachheit halber D. – setzte das mehr oder weniger lustige Leben noch eine Weile fort. Die D. etwa verliebte sich hintereinander in einen ebenso außerordentlich klugen wie neurotischen Anwalt, einen bisexuellen Sportlehrer, einen fremden Mann aus der U-Bahn und einen älteren Herrn, der am Ende dann doch seine erwachsenen Töchter nicht mit einer verhältnismäßig jungen Stieftochter enttäuschen wollte. Zwischendurch, wenn sie weder besonders verliebt war noch besonders litt, fuhr sie mit Freundinnen in Urlaub und traf sich mit dem H.

Jahrelang war der H. irgendetwas zwischen einem schon eher platonischen Freund, einem leicht peinlichen Liebhaber und einer schlechten Gewohnheit. Der H. kam, wenn er gerufen wurde, sagte nie etwas Falsches, las die richtigen Bücher, haarte nicht, aß manierlich, konnte sogar kochen, und war so nett, dass die D. ihm sogar nachsah, dass er drei Zentimeter kleiner war als sie (zumindest in Schuhen), schrecklich schüttere Haare besaß, die irgendwann in mehr oder weniger keine Haare übergingen, und überhaupt eher etwas farblos wirkte. Außerdem war er Amtsrichter. Das ist unter Juristen ein als ganz besonders langweilig beleumdeter Beruf. Weil er aus Barmbek stammt – das ist ein Stadtteil von Hamburg, der wohl auch eher als ein bißchen mickerig gilt – hieß der H. unter den Freundinnen der D. lange Jahre dkhAaB, „der kleine hässliche Amtsrichter aus Barmbek“ also, vollständig ausgeschrieben, und genoss den Ruf einer kuriosen Marotte, ungefähr so, als hielte sich die D. in ihrer Küche einen Hamster. Oder ein Huhn.

Irgendwann aber letztes Jahr zog jemand die D. einmal mehr mit dkhAaB auf, und anders als sonst, fing sie nicht an zu lachen. „Jetzt lass doch den H. mal in Ruhe.“, hieß es, und auf dem Geburtstag der F., ich selbst war nicht dabei, kam sie ganz offiziell mit dem H., um mit diesem auch wieder zu verschwinden. Ein paar Monate später erschien sie bei der V. zum Babygucken, wieder gemeinsam mit dem H., und brachte ein gemeinsames Geschenk vorbei. Sogar auf Facebook heißt es inzwischen nicht mehr „Es ist kompliziert“, sondern da steht gar nichts.

Ende Oktober platzte dann die Bombe. Die D. habe eine Wohnung gekauft, hört man aus mir befreundeten Hamburger Kreisen, in Winterhude nämlich, und dort wohne sie nicht etwa allein, sondern incredibile dictu mit dem H. Die Hälfte der alten Freunde lachte. Die andere schwieg betreten vor sich hin.

Sogar die an sich wirklich romantische V. hat die Idee eines plötzlichen Gefühlssturms  als unwahrscheinlich verworfen. Die N. immerhin verteidigt den Trend zur Vernunftehe, die der romantischen Bindung die geringere Fallhöhe voraus sei, und der J.2 behauptet, am Ende sei es ja irgendwann auch eher sekundär, wen man heirate. Hauptsache, man gehe sich nicht allzu sehr auf den Geist. Gespannt wartet nun die Gemeinde der alten und neuen Freunde auf Hochzeitseinladungen, und es kursieren die ersten Vermutungen, dass statt der obligaten Rosen Usambaraveilchen und Geranien die mit Wachstuchdecken drapierten Tische zieren. Zu essen gibt es bestimmt Kartoffelsalat.

Aber vielleicht tun wir dkhAaB auch alle Unrecht.

Ideal und Wirklichkeit

„Ein Stück Gerechtigkeit, meine Liebe.“, kommentiert der K. und balanciert ein großes Stück Camembert auf einem schmalen Stück Baguette vom Teller zum Mund. Es ist kurz nach 10.00 Uhr. Das Fleury ist voll.

„Das soll gerecht sein?“, klage ich an und weise mit dem Kopf auf die dünnen, fluffigen Jungs beim Frühstück zwischen den Kissen des Cafés, denen ich beim besten Willen auch nach einem Liter Gin Tonic nicht zutraue, nachts um drei richtig wild zu werden. Ich fürchte, Nina Pauer hat recht. Das allerdings streitet der K. gar nicht ab. Es sei nur mit den Frauen ganz genau dasselbe.

Schon seit Generationen – wenn nicht seit Einführung des Patriarchats – gebe es nämlich auch bei den Frauen eine bedauerliche Abweichung von Wunsch und Wirklichkeit. Der Mann (wenn man denn einmal so pauschalisieren dürfe) träume von Gilda, Marlene, Lulu. An seiner Seite aber wackele faktisch Heidrun mit dem breiten Becken, Doris mit der praktischen Kurzhaarfrisur oder Katrin, die patente Grundschullehrerin durchs Leben. „Verkopft, gehemmt, unsicher, nervös und ängstlich“ seien vielleicht die Männer. Phantasielos, breithüftig, praktisch, aber nüchtern seien die Frauen. Das sei auch kein neues Phänomen. Die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit werde ja nicht erst seit gestern beklagt.

„Es liegt also nicht an der Gesellschaft?“, frage ich nach und kratze den letzten Rest Joghurt aus meiner Schüssel. „Ah, was.“, kommt es postwendend zurück. Man wolle es ja gar nicht anders. Denn mit einem männlich-wagemutigen Draufgänger, einem Porschefahrer und Herrenreiter etwa, könne man doch faktisch gar nichts anfangen. Würde der Porschefahrer mit einem Babybjörn durch den Volkspark laufen und mittels einer Arbeitszeitverkürzung auf 80% pünktlich seinen Nachwuchs aus der Kita holen? Wäre der hemmungslose Tänzer und Küsser bereit, jeden zweiten Samstag einzukaufen und regelmäßig seine Schwiegermutter von Charlottenburg nach Mitte zum Arzt zu bringen, weil seine Freundin am Dienstag regelmäßig einen Abendtermin hat und das deswegen nicht schafft? Erfahrungsgemäß lassen die Helden der Nacht einen tagsüber ja nicht einmal ausreden und hören überdies selten zu.

„Okay.“, sage ich, aber ganz überzeugt bin ich noch nicht. Was der K. vorbringt, so will mir scheinen, hat wenig mit den in dem Artikel angesprochenen jüngeren Veränderungen im Verhaltensmuster des europäischen Mannes, sondern mehr mit einer grundsätzlichen Abweichung von erotischem Wunsch und alltäglicher Brauchbarkeit zu tun.

Im Wesentlichen, meint der K. und zuckt mit den Achseln, sei es genau das. Nur ganz oberflächlich sei der strickjackentragende Melancholiker eine Zeiterscheinung. Schon immer – hier beschreibt der linke Arm des K. eine unbestimmt raumgreifende Bewegung – hätten weder Männer noch Frauen bekommen, was sie sich vorstellen. Auch vor fünfzig Jahren sei ja nicht Cary Grant als Kavalier, sondern mehr so Heinz Ehrhardt als Versicherungsangestellter geheiratet worden, und da seien die blassen, freundlichen Männer, die ziemlich viel über sich nachdenken, doch kein schlechter Tausch. Am Ende bekomme halt keiner, was er will.

„Und das nennst du gerecht.“, seufze ich, und der K. lacht. Vielleicht, meint er, sei es ja so sogar viel besser, und ich schweige und frage nicht nach, was er meint.

Hin und her und Langeweile

Es begab sich aber vor einiger Zeit, dass eine nicht mehr ganz junge Frau vom Prenzlauer Berg – wir wollen sie X. nennen – sich mit ihrem langjährigen Freund schrecklich zu langweilen begann. Alle, die sie kannten, waren erstaunt. Ihr langjähriger Freund war schließlich auch schon in den fünf vergangenen Jahren ziemlich langweilig gewesen, aber irgendwie fiel der X. das erst Mitte 2010 richtig auf.

Nun trennt man sich mit 38 nicht so leicht von einem langjährigen Freund wie mit 28 oder gar mit 18. Die X. trennte sich also nicht. Sie zog nicht aus, sie blieb in der gemeinsamen Wohnung und ging einfach nur etwas häufiger vor die Tür, um sich abzulenken und mit Leuten zu sprechen, die nicht so langweilig waren wie ihr langjähriger Freund.

Eine ganze Weile fiel das niemandem auf. Schließlich kann eine erwachsene Frau einen Haufen Gründe haben, beispielsweise Konzerte und Ausstellungseröffnungen aufzusuchen. Auch ist es weder erstaunlich noch verwerflich, neue Bekanntschaften zu schließen. Irgendwann scheint ihr Freund aber doch Verdacht geschöpft zu haben.

Statt die X. auf ihre Abwesenheiten und insbesondere auf einen gewissen M., einen Kreuzberger Maler, anzusprechen, suchte ihr langjähriger, aber langweiliger Freund allerdings Halt bei einer gewissen Y., einer Arbeitskollegin aus Mahlsdorf, die sich Ende 2010 nach einer kleinen Weile indes ernsthaft in den langjährigen Freund verliebte. Das hatte dieser nun auch wiederum nicht beabsichtigt.

Die abservierte Y. war gekränkt und getroffen und rief unverzüglich die X. an. Diese reagierte halb belustigt, halb aber beleidigt, denn wer wird schon gern hintergangen mit einer dicklichen Sachbearbeiterin mit einer der hässlichsten Brillen Berlins? Die X. machte dem langjährigen Freund also eine fürchterliche Szene und warf ihm alles Mögliche vor, unter anderem seinen fehlenden Unterhaltungswert und die Unscheinbarkeit seiner Affäre. Weil aber die X. dabei ganz außerordentlich in Fahrt geriet, gestand sie im Zuge dieses lautstarken Monologs en passant auch die Liebelei mit dem M.

Der langjährige Freund fuhr unverzüglich beim M. vorbei, um mit diesem zu sprechen. Dieser jedoch war gar nicht zu Hause. Dafür traf der langjährige Freund die Frau des M. an, die sich seine Ausführungen ausgesprochen aufmerksam anhörte. Anschließend sprachen beide sehr, sehr intensiv mit dem M., der daraufhin zu Hause auszog und erst wiederkam, als seine Frau die Wohnung verließ.

Die Frau des M. wohnt, wie man hört, nunmehr mit dem Kind des M. wieder in Wiesbaden. In der Kreuzberger Wohnung des M. wohnt mit ihm gemeinsam die X. Die Y. sucht nach einer großen Enttäuschung im Internet einen ehrlichen und treuen Gefährten, und der langjährige Freund hat beim Verkauf der ehemals gemeinsamen Wohnung im Winskiez einen so großartigen Schnitt gemacht, dass die ganze Sache, immerhin, zumindest finanziell auch ihr Gutes gehabt haben soll.

In Neukölln hat der langjährige Freund nun eine schöne, neue Wohnung, viel größer als die alte, und harrt der nächsten, hoffentlich weniger gelangweilten Frau.

Kleine Grübelei über Töpfe und Deckel

Man hat sich ja nicht erst seit gestern gefragt, wer die hässlichen Leute aus der U-Bahn eigentlich heiraten soll, die schlecht angezogen öffentlich laut telefonieren und mit einem bemerkenswert wenig differenzierten Wortschatz dabei ganz unglaubliche Dinge zum Besten geben. Thematisiert man aber dieses Erstaunen gegenüber Dritten, so bekommt man meistens die Antwort, dass auch diese zerbeulten Töpfe Deckel finden, die dann eben auch genauso zerbeult seien.

Mit den Jahren aber häufen sich die Verdachtsmomente, dass nicht wenige zerbeulte Töpfe ihr zerbeultes Pendant nicht haben wollen. So hört man von alleinstehenden Frauen ab und zu, alle Männer, die sie kennenlernen, hätten einen Hau, würden kaum kommunizieren, seien durchweg Versager und wollten keine Familie. Von den Männern liest man, die deutschen Frauen seien hartherzig, dick, überemanzipiert (was auch immer das heißen soll) und nicht so sonderlich weiblich.

Natürlich trifft das nicht zu. Das weiß jeder, der ab und zu auf die Straße geht und mit Leuten spricht. Es gibt Hunderte blendend aussehender Männer in Mitte. In einigen Bars verkehre ich nur, wenn es mir gerade ganz, ganz prächtig geht, weil alle anderen Frauen so hübsch sind, dass ich mir vorkomme wie, nun, wie eine einzige Beule. Die meisten Männer, die ich kenne, haben verhältnismäßig gut bezahlte und spannende Jobs, hegen den Wunsch nach einer Familiengründung, interessieren sich gleichermaßen für Theater wie Fußball und können klug darüber (und über alles andere) reden. Auch die meisten Frauen rund um mich herum sind gut angezogen, lustig, machen beruflich irgendetwas Interessantes, gehen entspannt damit um und tragen maximal Größe 38. Es liegt also nicht daran, dass es keine interessanten Männer und Frauen gibt. Es liegt wohl – das muss man so hart sagen – an den Leuten, die trotz ihrer Beulen im Blech nur eine Prunkvase wollen.

Der Presse entnehme ich, die Männer suchen ihr Prunkgefäß dann gern im Ausland, wo auch ein unscheinbarer Systemtechniker eine ganz hübsche Frau bekommt, die ihm selten widerspricht. Für die einheimischen Damen scheint das kein besonderer Verlust zu sein, ich jedenfalls hätte mich nie mit einem der in diesem Artikel beschrieben Herren verabredet, weil sie nicht so sonderlich amüsant und dafür ziemlich konventionell wirken. Die Frauen, so nehme ich an, kaufen sich nach der erfolglosen Prunkgefäßsuche irgendwann eine schöne Katze, zünden sich selbst Kerzen an und haben fröhliche, nette Freundinnen, mit denen sie in Urlaub fahren. Ich war nie lange Single, aber das Leben meiner alleinstehenden Freundinnen sieht aus meiner Warte nicht unkomfortabel aus.

An sich müssten die Männer und Frauen mit den Beulen mit dem Ausgang der Suche so ganz zufrieden sein. Die Männer hocken mit einer polnischen Frau in einem Häuschen in Spandau. Die Frauen streicheln in Charlottenburg ihre Katzen, und so wundert es mich jedesmal ein bißchen, wenn ich die erbitterten Kommentare unter Artikeln wie dem oben verlinkten lese, in denen Leute einen Geschlechterkrieg ausfechten, der an mir vorbeigegangen sein muss und den ich nicht einmal aus der Distanz mitbekomme, es sei denn im Netz.

Nur in Demut ihn betrachten.

Ach, sagt sie, auf ihn angesprochen. Den kenne sie natürlich. Dann lacht sie, schüttelt den Kopf und trinkt noch etwas Wein.

Zusammen mit ihm studiert hätte sie, gemeinsam erst mehr zufällig in der Einführungsveranstaltung gesessen, damals im Wintersemester 1994/95. Mit einer Menge anderer Leute seien sie später in die Mensa gegangen, und als sich Freundeskreise bildeten, sei sie Teil eines Kreises geworden, dem auch er, wenn auch eher lose, verbunden war. Mehr oder weniger täglich hätten sie sich gesehen, meist an der Uni, auf Parties oder irgendwo in den WGs von Freunden, abends ins Bars, und ein paar Mal waren sie zusammen Ski fahren in den Alpen.

Sie hätte sich nie als eine Freundin von ihm bezeichnet. Sie war auch nie allein bei ihm in der Wohnung, die er mit einer Katze und seiner älteren Schwester bewohnte, die wegen irgendwelcher Auslandsprojekte eigentlich nie da war.

Dass sie in ihn verliebt war, erzählte sie keinem. Es hätte auch keinen Sinn gehabt, sagt sie heute. Sie sei schon auf den ersten Blick erkennbar keine Partnerin für ihn gewesen. Sie war ein wenig unhübsch, behauptet sie, dicklich und mit Brille. Schlecht angezogen sei sie gewesen, ein wenig unbeholfen, immer im falschen Moment zu ernst oder zu albern, und dass es nichts werden würde mit ihr und einem blonden, sportlichen, beliebten Mann, der mit der halben Republik verwandt und mit der anderen Hälfte befreundet war, war von Anfang an klar.

Nur wegen ihm habe auch sie ein Jahr an einer amerikanischen Uni verbracht. Sie brauchte ein Stipendium, dafür musste sie gut sein, aber irgendwie ging es sich so aus, und sie verbrachte sie auch dieses Jahr in seiner Nähe. Er hatte da schon irgendwelche Freunde, sein Vater kannte da irgendwen, deswegen war er sofort unter Leuten und auch das Ausland brachte ihn ihr nicht näher. Sie habe das nicht enttäuscht, sagt sie. Sie habe das nicht anders erwartet.

Er hatte immer Freundinnen, sagt sie, und ich kann es mir vorstellen. Seine Freundinnen waren alle hübsch, ungefähr so wie die junge Jil Sander hübsch war, von dieser sehr, sehr gepflegten Sorte Frau, die ihr und auch mir immer noch Komplexe bereiten. Diese Frauen scheinen dazu geboren, es irgendwie leichter im Leben zu haben, und so sei es ihr eigentlich selbstverständlich gewesen, dass diese Frauen etwas mit ihm hatten und nicht sie. So eine Frau habe er dann ja auch geheiratet.

Ihr Leben habe sich damals mehr um ihn gedreht als um ihr Studium, ihre Freunde und ihre Familie, erzählt sie und dreht ein wenig verlegen an einem Ring. Sie habe etwa Buch geführt über jedes gewechselte Wort, mit ihr wie mit anderen. Was er anhatte. Was sie über ihn erfuhr. Das Nichtigste, nichts war ihr zu unwichtig, nichts, was er sagte oder tat, war ihr gleichgültig. Sie pflegte diese Passion wie man ein Hobby pflegt, wie manche Käfer sammeln oder Bilder malen, sie verzehrte sich Nacht für Nacht und ließ sich nie das Geringste anmerken.

Nach dem Studium trennten sich ihre Wege. Er ging nach München, sie nach Berlin. Beide promovierten im Völkerrecht. Seit ein paar Jahren ist er bei einer Internationalen Organisation. Sie arbeitet für die EU. Ab und zu treffe sie ihn auf Konferenzen, einmal habe sie ihn am JFK gesehen. Er hat zwei Kinder, hat sie gehört. Sie hat keine, aber einen halbwegs festen Freund. Vielleicht wird sie diesen Freund heiraten in den nächsten Jahren. Sie liebe ihren Freund, wie man so sagt, fügt sie hinzu, als wolle sie jeden potentiellen Zweifel daran zerstreuen.

Niemals aber, betont sie, sei sie wieder so verliebt gewesen wie damals als Studentin in ihn. Über nichts, was später kam, sei es Beruf, Beziehung, was auch immer, habe sie so nachgedacht. Kein Mann, mit dem sie wirklich zusammen war, habe sie auch nur halb so erfüllt und beschäftigt, und bis heute könne sie nicht für sich garantieren, riefe er an.

Alte Männer, alte Frauen

„Was?“, frage ich nach und fische ein Stück Zitronengras aus meiner Suppe. Die G. hat also einen neuen Freund. Ihr neuer Freund ist 61.

Natürlich, das gibt auch die A. zu, sehe er nicht direkt aus wie ein alter Mann. Man sei ja inzwischen auch nicht mehr direkt alt aus mit Anfang 61, das nicht, aber ein Unterschied sei es doch, etwas irritierend geradezu, der neue Freund sei auch ganz grauhaarig und schlabberig, und außerdem lebe er in Steglitz, wo bekanntlich überhaupt nur Menschen wohnten, die entweder ziemlich alt sind oder von ortsansässigen alten Menschen abstammen und den Absprung nicht geschafft haben.

„Oha.“, sage ich und widme mich weiter meiner Suppe. Es ist heiß, sehr heiß eigentlich, und die vier Männer im Anzug am Nachbartisch schwitzen, was das Zeug hält. Der gesellschaftliche Konversionsprozess in Zusammenhang mit dem Klimawandel sollte sich auch der Herenbekleidung annehmen, schießt es mir durch den Kopf.

Natürlich habe ein älterer Verbandsgeschäftsführer auch andere Gepflogenheiten als etwa ein jüngerer Schlagzeuger und Fahrradkurier, um den direkten Vergleich des Exfreundes der G. mit dem aktuellen Freund zu ziehen, fährt die A. fort. So habe etwa der aktuelle Freund eine schreckliche Vorliebe für Musik, die er, aber sonst keiner, zeitlos findet. Er sei nur schwer zu neuen Restaurants zu überreden, er werde um Mitternacht müde, obwohl alte Menschen doch angeblich weniger schlafen als junge, und er besitze wahnsinnig umfangreiche Sportausrüstungsgegenstände, die er nur in sehr untergeordnetem Maße benutzt. Er habe auch nur fade Freunde.

„Nicht so dein Fall, der Herr.“, stelle ich fest. Die A. wiegt den Kopf ein wenig hin und her. Dann nickt sie. Man war wohl miteinander essen vor einigen Wochen und der alte Herr hat drei Stunden am Stück seine Ansichten über Gott und die Welt zum Besten gegeben, die sich nicht gerade durch Originalität auszeichnen sollen.

„Was aber das Schlimmste ist!“, trompetet die A. nun so laut, dass die Männer im Anzug am Nachbartisch aufschauen. Das Schlimmste habe sie noch gar nicht erwähnt. Das Schlimmste an der ganzen Sache sei, dass der alte Herr überzeugt sei, mit der Wahl der G. – einer Journalistin von 37 Jahren – eine komplett altersadäquate Wahl getroffen zu haben, quasi eine gleichaltrige, reife Frau an seiner Seite zu sehen, denn eine Frau von über 35 sei (wie der alte Herr nicht verschwiegen habe) ja keinesfalls mehr als jung zu bezeichnen, vielmehr eine Frau in mittleren Jahren, so dass eine Art Parität herrsche in der Binnenarchitektur dieses Paares, auch wenn, wie der alte Herr lobend erwähnt, die G. deutlich jünger aussehe als ihre Jahre.

„Lass dem alten Herrn doch seine Illusionen.“, beschwichtige ich und winke nach der Rechnung. Die Ansicht über die Ungleichzeitigkeit weiblichen und männlichen Alterns sei ja auch mitnichten eine Mindermeinung, wühle ich in meiner Handtasche nach meinem Portemonnaie.

Was aber die A. hierzu faucht, ist für den öffentlichen Abdruck keinesfalls geeignet.

Letzte Runde

Dass es nicht ging, höre ich und nicke und suche vergeblich nach Worten. Dass es sich falsch angefühlt hat, obwohl der Mann wohl das letzte Aufgebot des Lebens war, das sie eigentlich führen wollte: Zwei Kinder, ein Haus in Zehlendorf, ein Hund, ein Sandkasten im Garten und ein Halbtagsjob. Er sei genau gewesen, wonach sie gesucht habe, aber gegangen sei es nicht, und nun sei es vorbei.

Ich löffele meine Suppe mit schlechtem Gewissen. Ich habe vor zwei Jahren wie alle anderen zu dem Kompromiss geraten, der sich nun als untragbar erwiesen hat. Es kam mir vernünftig vor, damals, dass man dann, wenn man bis zu einem bestimmten Alter ein bestimmtes Leben führen möchte, ein paar Kompromisse schließen muss. Dass man dann, wenn nur ein einziger Mann dieses Leben teilen mag, keine großen Ansprüche stellen kann was Verliebtheit angeht, Magnetismus meinethalben, dieses unerklärliche, nicht mit gutem Willen herbeizufälschende Interesse an jeder Faser, jeder Regung, an allem, was den anderen ausmacht.

Dass früher und in anderen Kulturen, irgendwo sonst auf der Welt, Vernunftehen auch nicht schlecht funktionieren, hat so gut wie jeder behauptet. Dass die Verliebtheit sowieso drei, vier Jahre dauert und es dann egal sein wird, ob man sich mal toll fand, glaube ich meistens auch. Dass das Konzept der Liebesehe nicht älter ist als so circa 200 Jahre, und dass die Menschheit ja nicht ausgestorben ist, davor, und vermutlich nicht durchweg unglücklich war in all den früheren Jahren, wird auch sie sich oft genug gesagt haben, aber dann war das Glück doch zu klein und zu grau und zu sehr zum Heulen.

Das werde schon wieder, behaupte ich, um etwas Nettes zu sgen, und tunke ein Nigiri mit Lachs in die Sauce. Die Stadt sei voller Männer, die heiraten wollen, zwei Kinder, ein Haus in Zehlendorf und so, und dass sie beim nächsten Mal vielleicht alles auf einmal haben werde, und auf nichts Elementares verzichten müsse, aber sie schüttelt den Kopf, denn das Glück sei für einige da und für andere nicht, und daran zu rütteln sei müßig.