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Weihnachten im Hotel

Irgendwann, wir waren ziemlich jung, hörten wir Weihnachten auf, nach Hause zu fahren. Wir feierten Heiligabend im Kaffee Burger, tranken zu viel, kauften uns wahnsinnig viel wahnsinnig gutes Essen und aßen das teilweise allein, teilweise mit Freunden und gingen ins Theater. Wer was von uns wollte, musste herkommen, aber dabei möglichst nicht stören. Weihnachten war sehr erholsam damals. Manchmal blieben wir einfach ganze Tage im Bett und tranken Champagner.

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Wer Kinder hat, weiß: Mit Kindern ist das kein Konzept. Kinder wollen geschmückte Bäume, Trubel, Weihnachtsmänner, riesige goldene Schleifen überall und gemeinsam geschmetterte Weihnachtslieder. In ungefähr zehn bis zwölf Jahren darf der heute vierjährige F. das alles doof finden und anfangen, Weihnachten auswärts auf die Pauke zu hauen, aber es ist quasi ein Naturgesetz, dass man seinen Kinder Konventionen schuldet, damit die später irgendwas zum Rebellieren haben. Einen Haken hat die Sache allerdings. Ein konventionelles Weihnachten ist sehr, sehr aufwändig. Man muss Massen an Lebensmitteln einkaufen und Mahlzeiten planen, man muss einen Weihnachtsmann bestellen, alles dekorieren, einen Baum erwerben und aufstellen, schmücken, Plätzchen und Stollen backen, Gänse braten und Rotkohl schmoren, Knödel drehen, im Internet nachschauen, wann der Kindergottesdienst stattfindet und diesen besuchen, ohne genervt aufs Handy zu schauen, und während der Weihnachtsfeiertage andauernd aufräumen, weil man so viel zu Hause ist, dass alle in der Wohnung befindlichen Gegenstände in regelmäßigen, circa zehnminütigen Abständen den Aufenthaltsort wechseln, um insbesondere den Fußboden alsbald gleichmäßig zu bedecken.

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Wenn aber Heiligabend auf einen Samstag fällt, kein Urlaub mehr genommen werden kann und die Versuchung, stundenlang bewegungslos auf dem Sofa zu liegen, von Tag zu Tag ohnehin unkontrolliert wächst, ist ein heimisches Weihnachten keine Alternative. Bei unseren Eltern ist es auch zu anstrengend. Man muss also raus.

Man fühlt sich schon großartig, wenn man im Internet die Weihnachtsarrangements der Hotels scannt. Es fühlt sich so ein bisschen an wie Schule schwänzen: Man müsste eigentlich aktiv werden, statt dessen lehnt man sich in den Kissen zurück und döst noch zwei Stunden. Anders als bei Menschen, die irgendwann nicht mehr duschen und Rechnungen nicht mehr öffnen, läuft man aber nicht Gefahr, dass das eigene Kind in zwanzig Jahren eine Weihnachtsneurose entwickelt, weil es bei der Geburt Christi von prekären Zwangsvorstellungen von kalten Ravioli aus der Dose überfallen wird. Weihnachten im Hotel ist perfekt: Es ist alles da. Aber man muss sich nicht selbst darum kümmern.

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Während es bei Reisen zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt auch ein unkompliziertes Hotel tut, sollte ein Weihnachtshotel so bequem wie möglich sein. Zum einen ist es Weihnachten oft kalt und man selbst nicht so arg dolle draußen. Zum anderen dekorieren bequeme Hotels besser. Optimal bietet das Hotel der Wahl ein Weihnachtsessen an, abends kommt ein Weihnachtsmann, und wenn es sehr gut läuft, sind viele andere Familien da, die auch den häuslichen Weihnachtsanstrengungen entkommen wollen, dann haben die eigenen Kinder immer jemanden zum Spielen. Man selbst sitzt sehr zufrieden auf ausgesprochen bequemen Polstermöbeln, unterhält sich ein bisschen nach rechts und links, und ab und zu reicht einem jemand ein volles Glas oder etwas zu Essen.

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Es war toll. Ein voller Erfolg. Das mache ich wieder.

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Kleine Selbstbefragung zu Weihnachten

Dann sitzen Sie also so da, circa vier bis fünf Kinder toben durch die Wohnung, die Gastgeberin verteilt Tee und Kekse, und irgendwann kommt die Rede auf Geschenke, also Spielzeug, und die Mütter und Väter zählen auf, was der Weihnachtsmann (wir sind im heidnischen und deswegen christkindlosen Berlin) nächste Woche den guten Kindern alles bringt. Ein Schminkkopf wird genannt. Eine Kinderkaffeemaschine. Ganz viel Lego. Viel Playmobil. Eine Babypuppe. Auf einmal fällt Ihnen auf, dass das Mädchenspielzeug fast ausnahmslos für das Nachspielen privater Situationen bestimmt ist. Wie das Puppenhaus. Oder der Ministaubsauger. Das Spielzeug für die Jungen bildet dagegen berufliche Situationen ab. Die Feuerwehr, die Müllabfuhr. Sogar der Superheld rettet ja sozusagen beruflich. Zuhause schauen Sie sich den Legokatalog an, den der F. kürzlich mit nach Hause gebracht hat. Tatsächlich sieht man in den Spielwelten für kleine Jungen Männchen, die arbeiten. Sie sind Zugführer oder galaktischer Soldat. Und Frauenfiguren, die als Fee, Prinzessin oder einfach als Hausfrau in bisweilen palastartigen Wohnhäusern leben. Müssen Kinder nicht annehmen, das sei so richtig? Und am Ende wäscht er nur auf Aufforderung ab. Und sie arbeitet ab Kind 1 nur noch halbtags?

(Bildet das Spielzeug für den F. eigentlich gleichermaßen private wie berufliche Situationen ab?)

Etwas später spricht man über Geschlechtsstereotypen. Superhelden und Anna und Elsa werden genannt. Überraschung: Die meisten Anwesenden sind davon überzeugt, dass sie total geschlechtsneutral erziehen. Nur die lieben Kleinen – Schulten werden gezuckt – sortieren sich leider exakt anhand der Rosa-hellblau-Grenze. Anschließend an diese Äußerung sagt dann irgendeine Mutter, die nette K., dass sie als Kind auch ihre Barbiepuppen heiß geliebt habe, und ersichtlich geschadet habe ihr das ja nun nicht.

Ich sehe die K. an. Sie ist Anfang 40, glaube ich, hat irgendwann mal etwas mit Design im Namen studiert und in den letzten Jahren als freie Mitarbeiterin ihrer früheren Firma einzelnen Projekten zugearbeitet. Ich glaube, sie verdient damit so um die 15.000 Euro im Jahr. Ob die frühere Firma sie später wieder nimmt, wenn die beiden Kinder größer sind? Ihr Mann ist jedenfalls beruflich so viel unterwegs, dass er nur selten mal abholt und ganz bestimmt nicht derjenige ist, der mit den Kindern Plätzchen backt, bastelt oder Blockflöte übt. Die Mädchen in ihrem Umkreis lernen also aus der Beobachtung der K. und vieler anderer Frauen, dass Frauen Kinder abholen, Perlenarmbänder auffädeln und zum Kinderarzt gehen. Männer arbeiten in Büros, weil ihre Jobs wichtiger als Perlenarmbänder sind.image

(Erlebt der F. eigentlich die Arbeitsteilung zwischen dem J. und mir auch beim Kochen, Basteln, Kinderarzt als halbwegs hälftig?)

Die K. erzählt mir, dass der kleine B. die Kita verlassen hat. Seine Eltern haben sich im Sommer 2015 getrennt. Die Mutter des B. hatte zuletzt einen Dawanda-Shop mit Patchworkkissen und -kuscheltieren betrieben, aber damit kaum das Material verdient. Weil sie bei ihrer früheren Agentur nie fest angestellt war, konnte sie in diesen Job nicht mehr zurück. Sie hat sich dann fast ein Jahr beworben und schließlich in Düsseldorf etwas gefunden. Es ist wieder eine Werbeagentur, aber an ihren früheren beruflichen Status hat sie nicht wieder anknüpfen können. Sie ist nun Assistenz, das gehe auch besser mit den Kindern. Die betreut nun hauptsächlich ihre Mutter. Alle zwei Wochen lässt der Vater die Kinder einfliegen, dann geht alles, was im Alltag der Kinder nun finanziell nicht mehr möglich ist.

Alle am Tisch bedauern die arme Mutter des B. Niemand stellt ihre Entscheidung in Frage, jahrelang auf selbstgenähte Kissen zu setzen. Alle tun so, als sei quasi jede Tätigkeit gleich zu bewerten, egal, ob man damit genug verdient für ein komfortables Leben. Sicherlich hat das auch etwas damit zu tun, dass man einer Frau am Boden nicht auch noch Vorwürfe machen soll. Aber es gibt einen unsinnigen Glaubenssatz unter Frauen, dass Geld nicht wichtig sei, nichts, über das sich zu sprechen lohne. Das rächt sich oft schon innerhalb einer Beziehung, weil es die Kräfteverhältnisse zuungunsten der Frau verschiebt. Richtig dicke kommt es aber nach einer Scheidung, wenn aus Mittelschichtmüttern plötzlich Alleinerziehende mit Hartz IV werden, weil entgegen einer offenbar immer noch weit verbreiteten Ansicht Frauen mit Kindern über drei keinen Betreuungsunterhalt mehr bekommen und des Kindesunterhalt (wenn er denn fließt) nicht reicht.

(Reden wir mit dem F. überhaupt über Geld?)

Auf dem Heimweg bin ich mit mir so mittelmäßig zufrieden. Unsere Verteilung von Aufgaben ist ungefähr paritätisch. Das Spielzeug des F. ist aber insgesamt schon eher typisches Jungenspielzeug. Viel Playmobil, viel Lego. Männchen, die arbeiten und eher keine Blumenfeste feiern. Schön wäre es, seine Männchen würden ebenso Feuer löschen wie Rosen pflücken. Beim Basteln und Kochen gibt es eine kleine quantitative Differenz, ungefähr 70 : 30. Bei der Erziehung rund um Geld, Wirtschaft und Wirtschaften stehen wir noch ziemlich am Anfang.

Angela Merkel und ich

Vor ungefähr einem halben Jahr war F.’s Kitagruppe im Bundestag. Der örtliche Abgeordnete stellte sich vor, erzählte gemeinsam mit seinem Büroleiter, was Abgeordnete eigentlich den ganzen Tag so tun, und dann liefen die Kinder einmal durch die Reichstagskuppel und schauten sich alles an. Am Nachmittag kam der F. heim und berichtete, der Abgeordnete interessiere sich für Strom, im Bundestag stehe die deutsche und die europäische Flagge, und er habe genau gesehen, wo Angela Merkel sitzt.

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In den nächsten Wochen wuchs sein Interesse an der Kanzlerin. In der Kita wurde als Teil des auch den Bundestagsbesuch umfassenden Projektes eifrig abgestimmt und gewählt, immerzu befand sich der F. im Wahlkampfmodus, und vermutlich verehrt der F. die Kanzlerin nicht nur, weil sie derzeit Deutschlands oberste Bestimmerin ist, sondern weil es ihr auch gelungen ist, mehrfach wiedergewählt zu werden. Wahrscheinlich denken nur noch Frauke Petry und Frau Merkels Büroleiterin mehr an das Regierungsoberhaupt der Republik, anders als bei Frau Petry steht der F. der Kanzlerin allerdings sehr positiv gegenüber, insbesondere über ihre Flüchtlingspolitik ist er ganz anderer Ansicht als jene. Erst kürzlich verstieg er sich gar zu der Ansicht, Frau Merkel habe nichts falsch gemacht, eine Ansicht, die nicht einmal Mitarbeiter und Parteigänger in dieser Absolutheit teilen.

Vor kurzem erfuhr der F. nun, dass Angela Merkel sich nächstes Jahr einer Wiederwahl stellen muss. Seitdem tobt der Wahlkampf. Zuerst wurden wir gefragt, ob wir denn auch wirklich Merkel wählen und ernsthaft vermahnt, nichts Falsches zu tun. Dann wurden andere Eltern unterwiesen. Kürzlich hat der F. auch seine Erzieherinnen interviewt, und wenn mich nicht alles täuscht, verbreitet sich im östlichen Teil des Prenzlauer Berges gerade das Gerücht, der J. und ich seien stramme Christdemokraten. Wir müssen das bei Gelegenheit mal richtigstellen.

Diese und jene

Ich bin ein Kleinstadtkind. In unserer Kleinstadt gab es nur eine Grundschule, in die gingen alle Kinder. Man hört oft, eine Schule für alle sei super für alle Kinder, weil die Lernschwachen von den -starken lernen, und die Starken von den Schwachen soziale Fähigkeiten erwerben, also anderen helfen und so, aber in Wirklichkeit war nichts davon der Fall. Die meisten Kinder, die auch am Ende der vierten Klasse kaum richtig lesen und schreiben konnten, lernten nämlich schon deswegen nichts von den guten Schülern, die Blockflöte und Schach spielen konnten, weil sie diese Kinder abgrundtief verachteten und über sie – mich eingeschlossen – sofort mit Stöcken und Steinen hergefallen wären, wenn die Lehrerinnen das erlaubt hätten. Die Kinder mit Blockflöten und Einserzeugnisen wiederum lernten kein besseres Sozialverhalten von den Kindern mit Versetzungsschwierigkeiten, weil letztere ihnen wegen eines schwer verständlichen Überlegenheitsgefühls keine Gelegenheit gegeben hätten, ihnen bei den Hausaufgaben oder so zu helfen.

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Nach der vierten Klasse trennten sich die Wege. Ich habe zu den Kindern, die nach der vierten Klasse die Hauptschule besuchten, keinen Kontakt mehr. In den letzten Tage habe ich aber mehrfach an diese Kinder gedacht. Ich glaube nämlich, dass diese Kinder – in der amerikanischen Version natürlich – es waren, die letzte Woche Trump gewählt haben. Woher ich das weiß? Ich habe sie erkannt. Sie waren in der Zeitung abgebildet, wie sie breitbeinig vor ihren Gartenzäunen standen. Ich habe gelesen, dass sie Hispanics im Supermarkt gejagt haben und Frauen angerempelt und beleidigt haben. Ich kenne das nämlich von früher, mein Schulfreund M., der einen leichten Sprachfehler hatte, wurde mal minutenlang zwischen drei dieser grölenden Jungen herumgeschubst. Ich bin Asiatin und wurde deswegen von diesen Jungen grundsätzlich Schlitzi gerufen, und meiner Freundin K. wurde einmal von denselben Jungen die Flöte zerbrochen. Sie wurden jedesmal ermahnt, bestraft und ihre Eltern einbestellt, aber ich kann mich an kein Zeichen der Reue erinnern.

Gerade quellen die Zeitungen über von Artikeln, in denen es heißt, dass die armen, weißen Männer zu wenig Geld hätten und zu wenig Zukunftsaussichten. In diesen Artikeln schwingt immer mit, dass diese Leute dann, wenn sie mehr verdienen würden, nicht jemanden gewählt hätten, der sich bis heute nicht für die Belästigung von Frauen entschuldigt hat und Muslime registrieren lassen will. Außerdem wäre es auch irgendwie verständlich, dass Leute mit zu wenig Geld und zu wenig Anerkennung aggressiv werden.

Es mag sein, dass es auch diese Leute gibt. Es gibt aber auch die Jungen aus meiner Grundschulklasse. Die haben gar nicht in jedem Fall zu wenig Geld. Die sind nicht besonders gebildet, weil sie Eierköpfe verachten. Dafür können manche von ihnen Sachen mit den Händen machen und haben sich damit Einfamilienhäuser und Audis A 6 verdient. Wenn man denen zuhören oder ein bedingungsloses Grundeinkommen gewähren würde, würde sich nichts an ihrer Weltsicht ändern. Die sind nämlich gar nicht weiter rechts als früher. Die haben schon mit sechs, sieben, acht alle verachtet, die ihnen irgendwie anders, feinstofflicher, schwächer, ausländischer oder behinderterer erschienen verachtet. Die hätten uns bespuckt, wenn sie gekonnt hätten. Die kann man nicht bestechen, dass sie wieder demokratisch werden, weil sie es nie waren. Ich weiß nicht, was man mit denen macht. Bis auf weiteres verachte ich deswegen zurück.

Kleiner Abschied

Auf einmal hat der Erziehungsaufwand des F. deutlich angezogen. Bis vor einigen Monaten reichte es, dass er satt und sauber war und immer dabei. Sprechen, laufen und wie ein Mensch essen lernen Kinder nämlich praktisch von selbst. Gut, das Radfahren hat ihm der J. im Park beigebracht, aber eigentlich lief der F. so verhältnismäßig beiläufig neben uns her und quatschte von morgens bis abends, denn der F. kann sehr, sehr gut und vor allem viel sprechen. Dafür klettert er nicht wesentlich geschickter als ein Sack Zement seine Mutter.

Dann fuhren wir in Urlaub, und als wir zurückkamen, lag ein laminierter Zettel im Fach des F. in der Kita. Es soll Theater gespielt werden, und auf dem Zettel stand seine Rolle. Seitdem sitzen wir also in allen möglichen Situationen, wenn wir also gerade dran denken, und lassen ihn seine Rolle aufsagen. Zwischendurch hatte die Erzieherin ihm wohl mal erzählt, es liefe noch nicht so dolle, da war er sehr traurig, und ich schämte mich sehr, weil wir doch schuld waren mit unserer Faulheit. Inzwischen wurde er gelobt, jetzt ist er wieder obenauf und benörgelt seinerseits die Leistungen Dritter.

Dann schickte seine Klavierlehrerin eine E-Mail. Alle Mails, die Kinder betreffen, erhalten Mütter. Sie schickte also mir eine E-Mail. Im Anhang befand sich das Klavierstück, das der F. auf dem Weihnachtskonzert spielen soll. Stück ist etwas übertrieben, es handelt sich um  ein Stück, das zum größten Teil die Klavierlehrerin spielt, und der F. spielt auch einige Sequenzen.

Seither hat unser Familienleben ein wenig gelitten. Täglich fragen wir ab, ich kann den Part der Klavierlehrerin jetzt auch schon auswendig, ab und zu bauen wir den F. auf, weil er in Tränen ausbricht, wenn irgendetwas nicht auf Anhieb hinhaut, und eines Nachts habe ich ihn vorm Klavier beim Üben erwischt. Dafür strahlt er, wenn es gut läuft, und wächst, wird er gelobt, um einige Zentimeter auf ungefähr 1,15.

Auf der einen Seite freue ich mich über meinen großen, klugen Kerl. Ab und zu schaue ich ihn an und finde ich hinreissend in seiner flinken, gewitzten Fröhlichkeit. Wie er sich über Bewunderung freut, wenn er im Museum seiner besten Freundin von Julius Caesar erzählt, den die Römer umgebracht haben, weil sie keinen Kaiser wollten. Wie er strahlt, wenn er beim Italiener seine drei, vier Worte Italienisch aus dem Urlaub herauskramt und alle sich freuen. Wenn er sich über Bücher, kleine Bürogeschichten, Politik unterhält, ganz genau nachfragt, sich vorsichtig an Meinungen herantastet und dann ganz sicher wird und sehr überzeugt von einer Seite, auch wenn es zwei oder mehr davon gibt. Dann aber schaue ich ihn an, wenn er auf dem Sofa sitzt und singt und nehme jeden Abend ein kleines bisschen Abschied von dem rundlichen Baby auf der blauen Decke mit dem Wal, von dem wackeligen Kleinkind, das sich am Tisch festhielt, von dem kleinen Kerl mit dem Löffel voll Kartoffelbrei und will jeden Moment festhalten und gleichzeitig mit ihm weiterstürmen, ins Grenzenlose und darüber hinaus.

Im Skykitchen (der kinderlose Freitag)

Wir ärgern uns. Der R. und die I., die eigentlich immer wissen, wo man gut isst, wollten uns schon vor zwei Jahren ins Skykitchen lotsen, aber einmal war kein Tisch zu unserem Wunschtermin zu haben, dann hatten wir uns in die Cordobar verliebt und waren andauernd da. Schließlich rief ich dann doch an und stand schließlich leicht erschauernd mehrere Wochen später vorm Portal des Andels Hotel. Das Hotel sieht aus, als sei die DDR auf einmal doch zu etwas Geld gekommen, ringsherum stehen scheußliche Häuser, ein Burger King, die Europaschwimmhalle und die S-Bahn Landsberger Allee. In einer solchen Umgebung werden normalerweise Schweine geschlachtet, und zwar nicht die glücklichsten Vertreter ihrer Art.

Ist man oben angekommen und tritt aus dem Fahrstuhl, sieht die Welt wieder anders aus. Bunte, sehr schöne Stoffe, Teppich auf Sichtbeton, so eine gute Mischung aus Moderne und Gemütlichkeit, vielleicht ein bisschen zu konfektioniert, aber auf dem Sofa würde ich mich sofort einrollen und einschlafen. Das Beste ist aber die Sicht. Der J. und ich saßen am Fenster, starrten über Berlin, unter uns eine der großen Straßen, auf denen die Autos stadtauswärts fahren, und all die Lichter der Stadt, die wir lieben.imageWir sind ein bisschen aufgedreht, lachen über nichts, machen Leute nach, loben Lampenschirme und bestellen, weil wir den noch nicht kennen, einen Belsazar Wermut, einen rosé, und sind so begeistert, dass ich gleich am nächsten Tag eine Flasche kaufen muss. Wermut, erzählt der sehr, sehr gute Kellner, sei das nächste große Ding. Auf nächste große Dinger habe ich meistens aus Prinzip keine Lust, aber der Wermut ist so gut, dass jeder, der mich besucht, den jetzt trinken muss, bis keiner mehr kommt.imageDie Menüauswahl ist nicht ganz einfach. Es gibt elf Gänge, von denen kann man sich zwischen drei und elf aussuchen. Wir entscheiden uns für acht, dazu drei Weine für mich, vier für den J., und dann lehnen wir uns zurück. Ich habe richtig Hunger, das Mittagessen ist inzwischen schon lange her, und deswegen esse ich ganz schnell den halben Brotkorb leer. Der J. nimmt die andere Hälfte. Es gibt vier verschiedene wahnsinnig gute Brotsorten und Brötchen, zwei Buttersorten, und zu Hause wäre ich jetzt mit dem Abendessen vermutlich fertig. Statt dessen kommen zwei Grüße aus der Küche.imageAls das Maiscremesüppchen mit Kaninchenpraline erscheint, schauen wir uns an. Das ist sehr, sehr gut, genau das richtige Maß an süffiger Fettigkeit, rund, cremig, ich will sofort eine Wanne davon und mich darin wälzen. Statt dessen erscheint ein Labskaus, ein Gedicht aus verschiedenen Konsistenzen, salzig, kross, weich, seidig: Schon weg. Als der Teller abgeräumt wird, habe ich sofort ein bisschen Heimweh nach diesem Essen.imageInzwischen steht auch der erste Wein vor mir. Ich vergesse alle Weine sofort, bis auf den Wein zum Hauptgang. Das liegt aber an mir. Ich trinke ganz gern Wein, kann mir aber nichts merken, außer den Etiketten, und hier vergesse ich auch die. Nur das Essen bleibt hängen, diesmal eine Saiblingsvariation.image Ich würde gern den Teller ablecken, aber statt dessen bringt der Kellner nun einen Teller mit Roter Krabbe, Sardelle, fischig, Käse ist auch dabei, ganz gut, aber nichts, was ich sofort wieder essen müsste, aber dafür ist der nun folgende Gemüsegang der Brüller. Es handelt sich um Blumenkohl, irgendwelche Cremes auch aus Gemüse und in der Mitte ein confiertes Eigelb. Ich bin so hingerissen, ich lasse mir sofort erklären, wie das geht, so ein Eigelb, und wenn ich jemals die Frage, ob ich Vegetarismus attraktiv finde, positiv beantwortet hätte, dann in diesem Moment. Ja, ich will. Den Rest meines Lebens exakt so etwas essen.imageInzwischen bin ich praktisch satt. Es folgt ein Würfel Milchferkel mit einer großen Krabbe, sehr lecker, aber Schweinefleisch und ich werden vermutlich in diesem Leben keine Freunde mehr. Ich mag die Konsistenz nicht, und wieso Schwein verwenden, wenn man auch Kalb essen kann. Ich habe irgendwo gelesen, es gibt eh zu viele Kälber, weil die Deutschen so viel Milch trinken, und deswegen votiere ich dafür, in allen Rezepten der Republik Schwein durch Kalb zu ersetzen. Dann wäre auch dieser Gang vor lauter Perfektion nicht mehr auszuhalten.

Das Maishähnchen ist makellos. Ein zartes Stück Brust, ein wenig Keulenfleisch in einer leider etwas zu heißen Frühlingsrolle, hauchdünner Kürbis, und es tut mir um jedes Gramm leid, dass auf dem Teller bleibt, weil ich mich nicht traue, ihn abzulecken oder zumindest mit dem Finger rückstandslos zu leeren. Mein Gott. Dieses Huhn ist für einen guten Zweck gestorben.imageDas gilt auch für den Hauptgang, Rib Eye mit Langos, also so kleinen Langoskugeln, mit Paprika paniert, was ein etwas seltsames Mundgefühl hinterlässt. Vielleicht wäre hier ein etwas saftigerer Überzug von Vorteil. Das Gemüse ist auch hier grandios, das Fleisch sehr präsent, sehr verdichtet. Der Wein, von Born von der Saale-Unstrut, passt perfekt. Ich hätte niemals einen so nördlich angebauten Rotwein bestellt, ich würde noch ein Glas bestellen, wenn ich noch etwas trinken könnte, aber statt dessen ächze ich dem Nachtisch entgegen.imageDer Käse jedenfalls, eine Zusammenstellung eines sehr cremigen und eines festen, gehobelten Käses auf einer Pumpernickelcreme mit rohem, knackigem Gemüse ist so fein, dass ich eigentlich aufhören könnte. Statt dessen folgt ein Predessert. Der Pflaumentee ist okay und sieht schön aus. Das Kalamansisorbet ist aber so dicht, so eine Explosion von Frucht, Süden, barfuß tanzen, dass ich nahe dran bin, meinen Nachtisch abzubestellen und statt dessen noch zwei von diesen Gläschen zu verlangen. Der Nachtisch – es nennt sich Müsli und ist natürlich keins – ist aber auch nicht schlecht. Noch besser die Beerenvariation, die der J. bestellt hat. Die Pralinen sind dann sehr in Ordnung, aber nicht so herausragend wie der Rest. Auch der Dessertwein ist sehr fein, aber nichts, was man nie getrunken hätte. Konsequent habe ich ihn sofort vergessen.image

Als wir vier Stunden nach unserer Ankunft in den Aufzug steigen, fühlen wir uns grandios. Die Stadt flackert und leuchtet uns entgegen. Wir schlendern nach Hause, das sind nur knapp 30 Minuten, erzählen uns das ganze Essen von vorn bis hinten und umgekehrt noch einmal, schmatzen laut in die staubige Luft der Danziger Straße und schlafen tief, sehr tief, angefüllt mit Essen und Glück.

Der kinderlose Donnerstag

Man denkt ja immer, es trifft nur die anderen. Man selbst würde, ist das Kind erst mal da, natürlich niemals seine kinderlosen Freunde vernachlässigen, keine Konzerte mehr besuchen oder zunehmen. Dann aber ist das Kind da, man trinkt nicht mehr, man ist dauernd müde, und auf einmal vergehen zwei Jahre und man hat die kinderlosen Freunde nicht einmal gesehen. Es vergehen drei Jahre und man lädt sich nicht mehr zum Geburtstag ein, weil das ja auch etwas komisch wäre, wenn man sich sonst nie sieht, und wenn vier Jahre vorbei sind, das Kind kann allein essen, sich allein anziehen, allein auf Toilette gehen und allein spielen, bemerkt man, dass man seine alten Freunde vermisst.

Nach vier Jahren einfach wieder um die Ecke zu kommen, sieht natürlich auch komisch aus. Ich googele deswegen abends auf dem Sofa den alten, kinderlosen Freunden erst einmal hinterher. Wer was macht. Berufe. Wohnorte. Konzerte, auf denen sie waren, Bärte, die sie sich haben wachsen lassen, all das, und dann überlege ich mir, mit wem ich gern einmal wieder ein Glas Wein oder auch drei oder vier trinken würde, und wer sich freut, wenn ich mal wieder anrufe, und nehme mir vor, mich noch dieses Jahr wieder zu melden. Na gut: Noch diesen Winter.

Der kinderlose Mittwoch

Am Morgen wartet das Taxi vor der Tür und fährt mich nach Tegel. Es ist früh, sehr früh, und ich bin noch nicht ganz wach. Als Berlin unter mir kleiner wird, immer kleiner und schließlich unter Wolken verschwindet, fallen mir für einen Moment die Augen zu. Ich habe heute nach von einem weißen Haus geträumt, in das ich einziehen wollte, obwohl ich im Wachzustand kaum etwas so abschreckend finde wie ein eigenes Haus. Es gab aber Schwäne dort, einen riesigen Nussbaum und die Zweige einer Weide hingen in spiegelndes Wasser.

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Neun Stunden später bin ich wieder in Berlin. Ich bin inzwischen sehr solide übermüdet, am Rande dieses Stadiums der Müdigkeit, in dem die ganze Welt sonderbar illuminiert wirkt, so ein wenig zu sehr gesättigte Farben, dafür alle Töne und Stimmen leicht verrauscht. Wenn ich die Augen schließe, drifte ich weg, deswegen halte ich mich wach und höre dem Taxifahrer zu, der schimpft, dass in Berlin nur noch Ausländer genug Geld dafür hätten, Taxi zu fahren. Überhaupt würde alles immer schlimmer, deswegen würden auch immer mehr Leute die AfD wählen. Mit den Flüchtlingen hätte das gar nichts zu tun, behauptet der Taxifahrer, nur mit Angela Merkel, die endlich zurücktreten sollte, damit alles wieder besser wird und auch der kleine Mann wieder so viel Geld in der Tasche hätte, dass er es sich leisten könnte, abends mal einen drauf zu machen und mit dem Taxi heimzufahren.

Ich bin zu müde, um zu widersprechen, heute und überhaupt. Ich schweige angeekelt und starre aus dem Fenster und überlege, wann die selbstfahrenden Autos wohl endlich so weit sind, dass sie mich schweigend durch Berlin fahren, aber vermutlich vermieten die Taxiunternehmen die Fahrzeit dann für Werbung, und ich muss mir die ganze Zeit Werbung anhören, die natürlich personalisiert sein wird und auf allem fußt, was ich jemals im Internet nachgeschaut habe.

Zu den beworbenen Waren und Dienstleistungen wird dann in vielen Jahren sicherlich auch das natürlich großartige künftige Spätwerk Christian Krachts gehören. Der ist dann vielleicht siebzig. Und ich bin eine ältere Dame, die im selbstfahrenden Taxi sitzt und Christian Krachts toller Stimme zuhört, der einen kurzen Auszug aus einem Roman vorlesen wird. Das Taxi wird mich zur Kracht-Lesung fahren, die ganz so wie heute im Deutschen Theater stattfinden kann und grandios sein wird. Nur bessere Plätze hätte ich dann gern und nicht in Reihe 15 direkt an der Säule.

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Der kinderlose Dienstag

Es gibt Mahlzeiten, die man aus Bequemlichkeit oder Zeitmangel auswärts isst. Spaghetti Bolognese etwa, das kann man prima zuhause machen, aber es dauert halt vier Stunden, und die habe ich nicht. Es gibt aber auch Essen, das ich nicht zuhause esse, weil ich das nicht kann. Das betrifft die ganze Hochgastronomie, aber auch Steaks mangels offenem Feuer und Schnitzel. Die sind bei mir nämlich ungefähr zentimeterdick, die Panade klebt eng am Fleisch und das Ganze schmeckt okay, aber eher nach Bielefeld als nach Wien.

Nun verfügt Berlin über mehrere renommierte Schnitzelbräter. Ich schwöre aufs Alt Wien. Das ist zum einen bei mir um die Ecke, zum anderen ist es großartig. Hauchdünn, riesengroß, perfekter Kartoffelsalat. Hirter Bier und Null Komma Josef, ordentlicher Wein.

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Als ich komme, sind Herr SvenK, seine zauberhafte Frau und Frau Wortschnittchen schon da. Der J. biegt gerade um die Ecke. Es werden vier Schnitzel bestellt, drei Bier und einen Wein, danach eine Mehlspeisenplatte. Wir sprechen über Craft Bier (wir waren am Wochenende mit dem großartigen Mek und seiner Frau ausführlich Bier trinken), über Neukölln, über Kommunalpolitik, Reisen, unsere Eltern und wie man nach Kambodscha kommt. Ich bestelle noch einen Wein. Das Leben ist schön.

Aber die Wohnung ist wahnsinnig leer ohne Kind.

Der kinderlose Montag

Eine Woche weilt der F. allein bei den Großeltern, weil seine Kita vier Tage geschlossen hat. Teamfortbildung. Ich habe ein bisschen Angst vor Teamfortbildungen und den daraufhin unweigerlich folgenden pädagogischen Experimenten, weil ich Veränderungen nicht schätze und die aktuellen pädagogischen Trends für Blödsinn halte, vom offenen Konzept bis zur Kompetenzorientierung. Vermutlich liegt das am Alter. Leute werden ja immer konservativer, wenn sie älter werden. Das gilt auch für mich, allerdings bisher begrenzt auf das Gebiet der Erziehungswissenschaften.

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Dem F. geht es bei den Großeltern prächtig. Er isst den ganzen Tag leckeres, sehr fettes Zeug, spielt im Riesengarten und übt mit der Großmutter seine Theaterrolle für die Kitaaufführung und Schwungübungen, weil es ihn irgendwie fertig macht, dass seine Fünfen nicht so schön aussehen wie die eines anderen Kindes in seiner Kitagruppe, das er um die Schönheit seiner Zahlen heftig beneidet.

Es ist unglaublich, wie viel Zeit man hat, wenn das Kind nicht da ist. Man kann bis nach acht im Bett liegen und ist trotzdem um halb zehn im Büro. Man muss sich im Büro nicht beeilen, weil es ja total egal ist, wann man nach Hause kommt. Man kann sich irgendwann nachmittags Kaffee holen, man kann plaudern, man kann der Uhr dabei zusehen, wie es acht, neun, halb zehn wird, und wenn man nach Hause kommt, lässt man sich aufs Sofa fallen und isst Falafel von der Bude um die Ecke.