Oje. Da stehe ich also, ein Glas Sekt in der Hand, ein paar Nüsse in der anderen, und fürchte mich. Mir gegenüber steht eine ältere Lehrerin, Großmutter eines der anwesenden Kinder auf diesem Geburtstag, und plaudert über die Schule. Jahr für Jahr, so behauptet sie, sei immer weniger vermittelt worden. Die Klassenarbeiten der Siebziger wären für ihre letzte vierte Klasse nicht mehr zu schaffen gewesen. Im Gegenzug sei aber nichts an Kenntnissen oder Fähigkeiten dazu gekommen, was den Verlust an Wissen, an der Fähigkeit zu rechnen, zu schreiben, zu lesen, kompensieren würde. Die Kinder in der Kleinstadt, in der sie wohnt und wo sie bis vor zwei Jahren unterrichtet hat, seien schlicht ungebildeter als ihre Eltern.
Die Kompetenzen, die die Kultusbürokratie als Zugewinn verkaufen würde, gäbe es schlicht nicht. Die Kinder könnten sich schlechter konzentrieren, sie seien undisziplinierter, wären motorisch weniger versiert, sie seien aber auch nicht sozial kompetenter als ihre Vorgänger, obwohl das immer versprochen worden sei. Sie hätte ihre Kinder immer gemocht, aber das Elternhaus verlasse sich auf die Schule, und die senke alle Ansprüche immer weiter ab, um Konflikten aus dem Weg zu gehen und um sozial Schwache zu fördern.
Besorgt schaue ich mich nach meinem F. um. Der F. ist vier, fröhlich und eloquent, er wird in zwei Jahren zur Schule kommen, und der Zustand der Berliner Schulen, von dem man immer in der Zeitung liest, ist ohnehin nichts, was uns glücklicher macht. Irgendwo habe ich gelesen, dass die Berliner Kinder am Ende der Grundschule ein ganzes Jahr Rückstand gegenüber kleinen Bayern haben, und vermutlich beträgt ihr Rückstand gegenüber den Bayern Jahrgang 1970 mindestens drei. Ich kann danach wohl nur beten, dass der F., wenn er erwachsen ist, auch nur annähernd die Fähigkeiten besitzt, die ein Archäologe braucht, um eines Tages die Bundeslade zu finden, was dem F. gerade als Endziel seiner Bildungsbemühungen vorschwebt.
Auf keinen Fall dürfe ich meinen Sohn dem öffentlichen Schulsystem Berlins anvertrauen, erzählt mir die Lehrerin noch, und ich überlege, wie eigentlich die Alternativen aussehen. Die meisten der Privatschulen der Stadt, zumindest die mir bekannten in der näheren Umgebung, sind nämlich eher dafür bekannt, mit großem Brimborium alles Mögliche vorgeblich zu unterrichten, das die Kinder dann aber gar nicht beherrschen, was aber angeblich zum Programm gehört. Sehr anspruchsvoll ist keine dieser Schulen, weil die meisten Eltern zwar möchten, dass ihre Kinder alles Mögliche können, aber auf die Barrikaden gehen, wenn der Erwerb dieser Fähigkeiten mühsam und quälend verläuft und manchmal in Tränen und Misserfolgen endet. Außerdem hat niemand Zeit für Hausaufgaben. Wir auch nicht. Wir hatten deswegen eigentlich an die örtliche Grundschule gedacht, die einen ganz guten Ruf hat.
Auf dem Heimweg atme ich erst mal durch. Was soll’s, denke ich dann. Virginia Woolf ist gar nicht zur Schule gegangen. Entweder ist der F. so klug, dass nicht mal das marode Berliner Schulsystem ihm schaden kann, und er liest sich alles, was er braucht, in seiner Freizeit an. Oder er ist es nicht, dann profitiert er vermutlich immer noch von den immensen Vorteilen der Kinder bildungsbürgerlicher Familien, von denen man immer in der Zeitung liest, wenn es um die Ungerechtigkeiten des Schulsystems geht.