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Florentiner Notizen (4)

Der Campanile des Florentiner Doms ist hoch, sehr hoch, und als wir morgens vorm Turm stehen, sehe ich mich einen Moment vor meinem inneren Auge schwitzend und stöhnend den 18 Kilo schweren F. die Turm wieder herunterschleppen. Ich tue ihm aber offenkundig unrecht: Er trapst tapfer hoch und wieder runter.

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Um neun sind wir auf dem Turm, um elf wollen wir ins Museum. Wir haben Zeitkarten, denn wir möchten nicht warten, aber so schlendern wir zwischen beiden Terminen noch ein wenig durch die Stadt, essen in einer Bäckerei, schauen uns Ledertaschen an, sprechen über Leute, die Kreuzfahrten machen und dann in Riesengruppen Stadtführungen machen. Dann stehen wir vor einem Spielzeuggeschäft. Und gehen herein.

Als wir wieder auf der Straße stehen, haben wir ein Uno-Spiel gekauft und ein Legoset, mit dem man einen Star Wars Superläufer bauen kann. Wie ein Gummiball hüpft der F. herum, im Museum ist er kaum mehr zu gebrauchen, rast durch die Säle, hört kaum zu und ist nur bei der Geschichte mit David und Goliath kurz präsent. Dann müssen wir nach Hause. Den Rest des Tages spielt der F. mit dem Superläufer.

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Zu Hause, schreibt man mir, ist ein weiterer Elternnachmittag angesetzt. Es gehe um Rivalitäten unter den Buben, und ich frage den F., ob es denn überhaupt oft Streit gibt. Nach F.’s Einschätzung kämpfen eigentlich nur die beiden Jungen, deren Mütter sich über zuviel Rangeleien beschwert haben, und selbst wenn man F.’s Erzählungen nicht für ganz bare Münze nimmt, stellt sich doch die Frage, ob es nicht besser wäre, die beiden Mütter würden ganz allein aufeinandertreffen, wenn sie denn schon sprechen müssen, vielleicht noch mit Erzieherin, statt dass sich 16 Elternteile halbe Tage Urlaub nehmen, um um 15:30 darüber zu diskutieren, ob wir es eigentlich normal finden, dass kleine Jungen Rangstreitigkeiten auch mal körperlich austragen.

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Am späten Nachmittag spazieren wir auf die andere Seite des Arno und laufen durch die Giardini Boboli. Wir schlendern kreuz und quer durch den schon ein wenig spätsommerlich verbrannten Garten, dann setzen wir uns ins Gras, schauen dem F. beim Spielen zu und gehen früh essen.

Florentiner Notizen (3)

Die Heilige Barbara hat ja immer einen Turm dabei und der Heilige Martin eine Gans. Ich bin zwar nicht heilig, aber ich trage immer ein Telefon mit mir herum, und in das säusele, beschwöre, zwitschere und überrede ich hinein. Auch, wenn ich im Saal der Fünfhundert im Palazzo Vecchio stehe, das ist mir ganz egal, schließlich war ich schon mal da, und meinem F. erzähle ich dann eben beim nächsten Zusammentreffen mit einem solchen ganz genau, was ein Zentaur ist und was man macht, wenn man einem begegnet.

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Als wir wieder vor dem Palazzo stehen, lege ich das Telefon weg. Noch erkennt der F. mich auch so, deswegen setzen wir uns in die Loggia dei Lanzi und unterhalten uns ausführlich über Perseus und die Medusa. Die griechische Mythologie hat auch nach 3000 Jahren noch das Zeug, kleine Jungen zu beeindrucken, und so wandern wir zu dritt durch die Stadt, sprechen über Monster, essen Kuchen und schlafen, bis es dunkel wird.

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Am Abend essen wir in der Yellow Bar Pasta, Schnitzel und Steak. Noch ein bisschen herumspazieren möchten wir dann, laufen am Bargello vorbei Richtung Piazza della Signoria, aber dann steht vor der Chiesa San Firenze ein Schild, es soll ein Konzert geben, 45 Minuten Opernarien und eine Harfe, und so setzen wir uns in die schöne, barocke Kirche, lassen uns etwas vorsingen, erläutern dem F. flüsternd, was die schönen Stimmen singen und landen noch viel später zufrieden beim Wein auf dem selben Platz wie am Vorabend, trinken Wein und essen Käse, und der Abend fließt an uns vorbei wie schwarzer Wein.

Florentiner Notizen (2)

Ich bin keine so besonders gute Urlauberin, weil ich überhaupt nicht abschalten kann. In meinem Kopf passiert immer alles gleichzeitig. Ich bin tieftraurig und tief beeindruckt, Joseph Schmidt singt und ein besonders guter Satz für einen Fachaufsatz erscheint, blinkt kurz dreimal über San Lorenzo und verschwindet wieder. Ich erzähle dem F. etwas über den Unterschied zwischen der italienischen Basilika und den Kirchen, die er so aus Berlin kennt und suche den Einstieg in einen Roman, den ich vielleicht mal schreiben möchte, falls ich mal Zeit habe. Außerdem lese ich vier berufliche und zwei private E-Mails, überlege, was ich antworten möchte, und was ich antworten werde, und das alles in zwei Minuten. Dass ich überhaupt zu was komme, liegt nicht an mir.

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Als wir auf einmal vor einem Lush-Laden stehen, fällt mir auf, wie doch verhältnismäßig wenig Kettenfilialen es hier, eigentlich unweit von Duomo und Bargello gibt. Vielleicht steuert Florenz das irgendwie, dann ist es schade, dass deutsche Städte das nicht genauso machen, aber so genieße ich die liebevoll gestaltete Optik der Straßen, kaufe mit dem F. zehn Minuten eine duftende Seife, schaue überall herum und mache Pläne, wem ich was schenke, und außerdem esse ich täglich ein Eis. Habe ich so beschlossen. Gestern bei Venchi, heute bei  Rivareno.

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Eigentlich gehen wir nur spazieren. Schauen in einen leicht abgeblätterten, verschatteten Aufgang. Laufen durch die große Markthalle und essen etwas. Dem F. erzähle ich eine dreiminütige Version von Pinocchio und eine fünf Minuten lange Fassung der Divina Commedia.

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Den Neptun auf der Piazza della Signoria erkennt er selbst „an der Gabel“, denn auch vorm Berliner Rathaus steht ein Neptunbrunnen. Eine Stadt wird erst durch Geschichten schön, weiß auch der F., der am Abend lange einer Puppenspielerin zuschaut, und nachts von der Terrasse eines Restaurants zwei Artisten, die feurige Stäbe und Räder durch die Nacht wirbeln, die für andere beginnt, als sie für uns endet.

Ich habe lange gelesen.

Florentiner Notizen

Nicht ganz zwei Stunden dauert der Flug nach Florenz. Die Maschine von Vueling könnte nicht enger sein, dafür war der Flug unfassbar günstig, und der F. neben mir am Fenster bejubelt jedes Haus und jedem Baum, der sich aus der grünen, gelben, braunen Ebene schält. Dann landen wir. Florenz, Pretaola. Ich bin komplett taub.

Die nächsten drei Stunden kommuniziert man mit mir am Besten elektronisch. Ich befinde mich in der Kunstharzphase einer Erkältung, schleppe mich deswegen annähernd taub, mit 38° C auch sonst eher abwesend und unangemessen schwitzend durch Florenz und gebe dem F. an meiner Hand in vermutlich kaum situativ angemessener Lautstärke vage Erklärungen. Der Dom. Der Bargello. Italien an sich.

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Wir haben ein winziges Hotelzimmer hundert Meter vom Dom entfernt. Für eine Suite waren wir zu geizig, außerdem würden wir ja sowieso – so der Erfahrungswert kinderloser Städteurlaube – ganztags unterwegs herumlaufen. Auf dem Zimmer allerdings fällt dem F. erst mal die Kinnlade herunter. Wo er denn spielen soll. Wir gehen spazieren, verkünden wir ihm, der F. schmollt, und uns beschleicht ein leises Unbehagen. Ob das wohl so alles richtig war. Oder ob die Leute recht haben, die niemals sieben Tage Museen und Shopping durchziehen, solange sie Kinder dabeihaben.

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Ein paar Stunden später ist aber alles wieder in Ordnung. Wir sitzen auf der Dachterrasse des Hotel. Um uns herum leuchten die Türme von Florenz, der F. malt ein Rätselheft aus, ich trinke den ersten Wein seit Monaten und schaue in das unendliche Blau.

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Besorgte Bürger Mütter

Neulich war ich auf einem Kindergeburtstag. Vierte Geburtstage finden eigentlich meistens ohne Eltern statt, dieser war aber eine Ausnahme, und so stand ich an einem Samstagnachmittag mit Kaffeetasse und Apfelkuchen in einem Garten, irgendwo jubelte das Geburtstagskind mit seinen Gästen, und um mich herum machten sich alle anderen Mütter (ein Vater war auch dabei) Sorgen.

Als die Kinder ganz klein waren, kamen die Eltern vor Sorge fast um, weil die Kinder weinten, obwohl sie die ganze Zeit herumgetragen und immer, wenn sie danach verlangten, gestillt wurden und deswegen eigentlich keinen Grund hatten, sich aufzuregen. Als die Kinder älter wurden, machten sich die Eltern Sorgen, weil die Kinder entweder zu spät liefen oder zu spät sprachen, oder mehr Zeit als andere brauchten, bis sie in der Kita bleiben mochten. Nun sind die Kinder alle vier, lieben die Kita, laufen ganztags, sprechen fürchterlich viel und sind ausnehmend gesund. Die Eltern machen sich jetzt also Sorgen um die Schule.

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Ich schwöre, ich weiß alles über das Profil aller Schulen in Prenzlberg und Mitte. Ich kenne die Namen aller möglichen Lehrerinnen, die als ganz schön harsch gelten oder nicht genug loben. Ich bin Prenzlmutter, und die Kita ist eine Montessorikita, deswegen fürchten sich die Eltern mehr vor Leistungsdruck, Frontalunterricht und negativem Feedback als vor dressierten Chinesen, aber dafür, dass die Einschulung noch ziemlich genau zwei Jahre in der Zukunft liegt, bringen sich alle vor Sorge halb um.

Irgendwo hinten im Garten spielten die Kinder fangen. Mein Sohn lief mit einem geliehenen Lichtschwert herum und brüllte ab und zu „Yedi!“, und über uns donnerten die Flugzeuge über Pankow. In mir war nicht ein Gramm Sorge, allein schon, weil ich niemanden kenne, den die Berliner Schule ohne Abitur wieder rausgelassen hätte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendeine Lehrmethode gibt, bei der ein halbwegs normalbegabtes Kind nichts lernt, weil Kinder schrecklich gern lesen können möchten, wissen wollen, wieso Raketen fliegen, und warum die Pharaonen falsche Bärte trugen. Mein F. liebt außerdem Medaillen, Urkunden und wird außerordentlich gern gelobt, wie eben die meisten Kinder, die möchten, dass die Lehrerin sie für ein schlaues, freundliches Kind hält. Ich glaube auch, dass einzelne doofe Lehrer Kinder nicht entmutigen, sondern lehren, wie man blöden Leuten ausweicht, die nerven, und dass man ein normales Kind überfordern kann, kann ich mir auch nicht vorstellen. Ich habe mich in der Hälfte der Schulzeit tödlich gelangweilt, auch mit einem Jahr weniger ist da noch Luft genug. Genau das sagte ich dann auch.

Die anderen Mütter schauten mich an, als würde ich meinen Vierjährigen allein mit meiner ec-Karte per Zug nach Reit im Winkl schicken. Hinten im Garten lachten die Kinder laut und gellend, irgendwer musste einen Scherz gemacht haben.

Vermutlich wird keins der Kinder auf diesem Geburtstag in der Schule richtig scheitern. Es feierte eins der ruhigen, vernünftigen Kinder der Kitagruppe und hatte die anderen eher zurückhaltenden Kinder eingeladen, die neigen noch nicht einmal dazu, ungebührlichen Lärm zu veranstalten, sie sind auch nicht besonders frech. Die Eltern sind durchweg wohl situiert, ein bisschen alternativ, fast alle promoviert, Leute also, die das Bildungssystem zu bedienen wissen, und so werden in einigen Jahren auch diese Sorgen sich als gänzlich unbegründet erweisen, aber so sicher wie das Amen in der Kirche werden die besorgten Mütter dann den nächsten Anlass finden, sich schrecklich zu sorgen.

Die Dame mit der Waage

Nachdem das AG Tiergarten ein Urteil in Sachen Falsche Verdächtigung gegen Frau Lohfink gefällt hat, geifert das Internet. Manche Männer haben immer schon gewusst, dass Frauen aus schierem Männerhass Vergewaltigungen erfinden. Manche Frauen meinen, dass es Frau Lohfink zum Verhängnis geworden sei, dass sie freizügig auftritt. An der Vergewaltigung hat man hier keinen Zweifel.

Die misogynen Männer interessieren mich nicht. Das ist nicht mein Teil des Internets, das sind Leute, deren schlechter Laune und deren Menschenhass ich nach Möglichkeit ausweichen will. Das Misstrauen gegenüber der Strafjustiz, das in diversen Artikeln von Unterstützerinnen der Frau Lohfink aufscheint, teile ich aber auch nicht.

Zunächst: Ich glaube nicht, dass es Frau Lohfink zum Nachteil gereicht hat, dass sie sexuell aggressiv auftritt. Ich glaube aber, dass die Annahme, die Justiz sei gegenüber freizügigen Frauen ungerecht, vielen Unterstützerinnen den Blick auf die Fakten verstellt. Hier greift offenbar eine Art Überkompensation: Weil es Menschen gibt, die nur „sittsamen“ Frauen sexuelle Selbstbestimmung zugestehen, möchten manche Andere Frauen mit einer offensiv geäußerten Sexualität um so mehr glauben. Das dürfte aber zu ebenso schrägen Ergebnissen führen wie das Gegenteil. Es klingt banal, aber man sollte allen Äußerungen gleich viel Glaubwürdigkeit beimessen, egal, ob sie von Ministern, Metzgern, Prostituierten oder Bischöfen stammen. Und auch wenn es schwer fällt: Man sollte Frau Lohfink ebenso offen oder skeptisch gegenüber stehen wie den beiden Männern, um die es auch geht.

Gemessen an diesem Maßstab sieht es bei Frau Lohfink nun nicht gut aus. Es gibt offenbar weit mehr Videomaterial als die wenigen Sekunden, auf die sich die Vergewaltigungsthese stützt. Diese scheinen den Eindruck sexueller Gewalt nicht zu vermitteln. Auch die offenbar wenige Tage später aufgesuchte Frauenärztin hat ja – entgegen Frau Lohfinks früherer Aussage – keine Gewaltanzeichen gefunden. Wenn in dieser Situation keine physische Gewalt ausgeübt wurde und alles einvernehmlich aussieht, dann kann es natürlich immer noch sein, dass die Gewalt vorher, in Gestalt einer Intoxikation, ausgeübt wurde. Nun hat der Gutachter hierfür keinen Hinweis in Frau Lohfinks Verhalten gefunden. Ihre Unterstützerinnen wenden nun ein, es gebe Substanzen, bei denen Willenlosigkeit eintrete bei anscheinend fröhlichem, aufgekratzten Auftreten und gesteuertem Verhalten inklusive einem Telefonat. Ich verstehe nichts von Drogen. Aber wenn ein Gutachter nichts feststellen kann: Soll ein Gericht denn auf die schiere abstrakte Existenz solcher Substanzen hin verurteilen? Ohne den geringsten Anhaltspunkt, dass diese Droge zum Einsatz gekommen ist? Das erscheint mir reichlich fernliegend.

Gehen wir nun davon aus, dass weder körperliche Gewalt im Spiel war noch Drogen, so wird es schon eng. Angst könnte aber noch eine Rolle spielen. Nach allem, was man weiß,  hatte Frau Lohfink aber keine Angst vor den beiden Männern. Ansonsten hätte sie möglicherweise zwar nicht erkennen lassen, dass ihr die Situation unangenehm war. Sie wäre aber vermutlich nicht länger geblieben, als unbedingt nötig, um unbehelligt die Wohnung zu verlassen. Und sie hätte einem Mann, der ihr Angst macht, weder erneute Treffen offeriert noch liebevolle Nachrichten geschickt.

Dem begegnen Frau Lohfinks Unterstützerinnen mit dem Argument, sexuelle Gewalt sei vielgestaltig. Das glaube ich auch. Ich glaube aber auch, dass die Justiz, um Fehlurteile zu vermeiden, das Verhalten von Beschuldigten und Zeugen auf seine wahrscheinlichen und naheliegenden Motive hin bewerten muss. Und naheliegend ist es eben nicht, dass eine Frau, die aus lauter Angst Geschlechtsverkehr duldet, sich danach verhält, als sei dieser einvernehmlich verlaufen.

Ist eine Vergewaltigung damit weniger wahrscheinlich, als dass keine Vergewaltigung stattgefunden hat, so können die beiden Männer nicht für diese verurteilt werden, sondern nur für die unerlaubte Verbreitung des Filmmaterials. In dieser Beziehung scheint es auch nicht so zu sein, dass einer – wie Frau Wizorek schreibt – nicht belangt würde, sondern der eine geht (wie eben auch Frau Lohfink) gegen einen zuvor ergangenen Strafbefehl vor, der andere hat ihn akzeptiert. Frau Lohfink muss auch nicht deswegen mehr zahlen, weil das Gericht die falsche Verdächtigung verwerflicher finden würde, als die Verbreitung des Filmmaterials. Die Strafjustiz verhängt Tagessätze. Wie hoch ein Tagessatz ist, hängt vom Einkommen ab. Schließlich treffen eine arme Friseurin 300 EURO härter als eine gutverdienende Notarin, die 300 EURO vermutlich gar nicht bemerkt. Frau Lohfink wurde also zu 80 Tagessätzen verurteilt. Der Mann, der seinen Strafbefehl bereits akzeptiert hat, muss 90 Tagessätze zahlen. Das Gericht sah dies also durchaus als schwereren Verstoß an, nur verdient er eben kaum etwas.

Ich kann an dem Urteil entsprechend nichts Verwerfliches finden. Der Geschehensverlauf, den das Gericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, finde ich deutlich wahrscheinlicher als die Version, die Frau Lohfink vorträgt. Was ich aber wirklich ärgerlich finde: Mit dem Lamento, so ein Urteil zeige, dass man Vergewaltigungen nicht anzeigen könne, schadet man denjenigen, die vergewaltigt worden sind. Wenn sich von den Klagen über die angeblich arme Frau Lohfink nun jemand abhalten lässt, zur Polizei zu gehen, dann hätte die ganze Diskussion eine Konsequenz, die sich niemand von uns wünschen sollte.

Jeder wie er mag

Nein, mir gefällt sie auch nicht, die Burka. Ich muss gestehen, dass ich auch zurückhaltende Formen der Verschleierung obskur finde, weil es mir unsympathisch ist, wenn Leute Religion in sichtbarer Weise zur Leitschnur ihres täglichen Handelns erheben. Leute, die irgendetwas machen, weil es schon immer so war, weil der liebe Gott es vorschreibt, oder weil es alle in ihrer Peergroup so machen, sind mir fremd, und das Rigorose eines Bekleidungsgebots stößt mich ab. Ich mag keine Leute, die anderen vorschreiben, was sie anhaben sollen.

Weil ich keine Leute mag, die anderen Vorschriften über ihre Kleidung machen, möchte ich aber auch kein Burkaverbot. Es geht den Staat nichts an, was seine Bürger tragen. Dass es in zehn Jahren in Deutschland aber weniger Burka-, Niqab- und Kopftuchträgerinnen geben soll als heute, halte ich für eine richtige Zielsetzung. Nur sehe ich da nicht den Staat in Zugzwang, sondern uns alle: Wortreich, freundlich, engagiert, mitfühlend und parteiisch für eine liberale, offene, herzliche Gesellschaft zu streiten, in der jeder anzieht, was er möchte, lebt, wie er will, liebt, wen er sich ausgesucht hat, und keine müden Heller darauf gibt, was andere denken.

S. gibt es gar nicht

Vermutlich hat der D. recht, sich fürchterlich aufzuregen. Schließlich hat er sich ernsthaft an die S. attachiert, ihr sogar verhältnismäßig teuren Schmuck gekauft und sie für ein paar Tage nach Antibes eingeladen, und zwar ebenso komplett wie tiptop.

Dass die S. eigentlich nur in der Woche greifbar war, irritierte den D. ziemlich lange nicht. Der D. hat mit seiner Verflossenen zwei Kinder, da passte es ihm anfänglich eigentlich ganz gut, dass er die Wochenenden frei hatte. Er hatte der S. so gesehen die beiden Kinder auch erst ziemlich spät gestanden, weil diese die S. schließlich auch nichts angingen, und so fiel ihm auch erst nach Monaten auf, dass die S. immer nur an Montagen bis Donnerstagen Zeit hatte, und am Wochenende höchstens mal telefonierte.

Monatelang ging das gut. Der D. hatte seine Zahnbürste fest in S. Bad in Kreuzberg installiert, ein paar ihrer Freundinnen kennengelernt, und ab und zu dachte er sogar so gut wie ernsthaft daran, irgendwann mit der S. zusammenziehen. Da rief die S. auf einmal an und erklärte, sie könne ihn nicht mehr sehen.

Der D. läuft immer dann zur Hochform auf, wenn es Widerstände gibt. Er schickte also Blumen, körbeweise Delikatessen aus dem KaDeWe, handgeschriebene Briefe, und schließlich lauerte er der S. auf. Vor ihrer Wohnung in Kreuzberg. Leider kam die S. nicht.

D. wartete mehrere Stunden, kam ein paar Tage später wieder, klingelte Sturm, und irgendwann stand er auch einmal an einem Samstag vor der Wohnung, als der Summer ging. Er lief die Treppen hoch, stand vor S. Tür, und im Türrahmen stand eine fremde Frau. Eine fremde Frau allerdings, die S. ziemlich ähnelt.

Die Fremde wusste sofort, als sie D. sah, was die Stunde geschlagen hatte. Sie schlug die Tür wieder zu, reagierte auf nichts mehr, und drohte, als der D. immer weiterklingelte, per Gegensprechanlage mit der Polizei. Da zog der D. schließlich ab.

Ein paar Tage später stellte er die S. vor ihrem Büro. Da wollte sie dann keine Szene machen. Die Wohnung, so stellte sich heraus, gehört ihrer Schwester, der fremden Frau eben, die nur am Wochenende anwesend ist. Die S. wohnt in Wirklichkeit woanders, und zwar auch nicht allein, sondern mit ihrem Mann, der allerdings oft nicht da ist, weil er als Unternehmensberater durch die Republik reist und meistens nur am Wochenende nach Berlin kommt. Täuschen wollte die S. den D. aber nicht, wie sie behauptet, denn sie sei, so sagt sie, fest davon ausgegangen, dass auch der D. irgendwo in dieser großen Stadt eine Familie hat, und ebenso luftig und unter falscher Flagge herumsegele wie eben auch sie.

Kalte Tage

Das ist nicht gerecht, denke ich. Noch nicht einmal im Freiluftkino gewesen. Nicht mal im Biergarten. Kaum draußen gegessen, keine lange Nacht am Landwehrkanal, nicht einmal die Sonne an der Oberbaumbrücke aufgehen sehen, und schon wird es wieder kalt.

Es fühlt sich auch nicht an, als wäre das nur ein kleiner Wettereinbruch, so drei, vier Tage bei 15° C, und dann heizt der Sommer wieder ein. Es liegt am Licht, meine ich, das Licht ist zu dünn für Mitte August, die Schatten schwächlich, und die Blätter hängen so matt an den Bäumen, als wüssten sie schon, was kommt. In den Parks frieren Menschen einsam am Grill.

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Etwas stimmt nicht mit diesem Sommer. Etwas stimmt nicht mit diesem Jahr. Wie eine verkrüppelte, schorfige Birne hängt dieser August zwischen all den anderen, den gelben, duftenden, und fällt des Nachts demnächst vom Baum, und wir flüchten, vielleicht, in einen roten September, Weinlaub und Gold.

Im L. A. Jordan. Und: Über Erziehung.

Wenn ich Pfalz höre, denke ich an Helmut Kohl. An dieser Assoziation wird man irgendwann die Kinder der Siebziger erkennen, deren gesamte Kindheit in die endlose Regierungszeit des Riesen von Oggersheim fiel, und bei Deidesheim denke ich deswegen an Bilder, auf denen Helmut Kohl Staatsmänner aus dem Ausland mit Saumagen vollstopft, quasi so eine Art fettiges Initiationsritual, durch das durchmusste, wer mit den reichen, aber schlechtgelaunten Deutschen dieser Zeit Geschäfte machen wollte.

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Saumagen habe ich nicht gegessen. Statt dessen waren der J. und ich mit dem unpfälzerischsten aller Pfälzer – unserem lieben Freunde R. – und seiner Frau im L. A. Jordan, das irgendwie zu dem Imperium Bassermann-Jordan gehört, deren Weinflaschen es selbst im biertrinkenden Berlin zu allgemeiner Bekanntheit gebracht haben.

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Das Essen war großartig. Gang um Gang zog an mir vorbei, ich verschlang, schwelgte, schmeckte, bellte in den klaren Himmel der Pfalz alle zwanzig Minuten ein gieriges „verweile doch, du bist so schön“, und wenn das L. A. Jordan jemals eine Dependance an der Spree eröffnet, werde ich zwei Monate vor Eröffnung sabbernd mit Messer und Gabel in der Hand vor der Türschwelle kauern, um das erste verkohlte Rind mit Trüffel zu verspeisen, das die Küche verlässt.

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Weil der R. und die I. ihre Tochter dabei hatten, und auch wir nicht ohne den F. verreisen, saßen an einer Ecke des Tisches die beiden Kinder in Hemd und Kleidchen. Wir hatten für beide Pommes Frites und Saibling bestellt, es gab Traubensaft und ein Eis nach dem Essen. Ab und zu verließen die Kinder den Raum, um draußen zu spielen, malten, sahen sich Bücher an, und unterhielten sich untereinander und mit uns. Es ging sehr gut, und gegen 22:30 verließen wir mit unseren gähnenden Kindern das Lokal.

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Als ich so alt war wie der F. heute, durfte ich beim großelterlichen Essen am Sonntag nicht aufstehen. Und auch nicht sprechen. Oder lesen. Ich saß am unteren Ende des Tisches, übte mich in Gedankenfluchten und starrte an die Wand. Ich bin sehr froh, dass das heute nicht mehr so praktiziert wird, auch wenn ich nicht ungern zu meinen Großeltern fuhr und nicht ganz wenig, was ich über das Altertum, das Barock, Bertrand Russell oder Leibniz weiß, schweigend am Mittagstisch erfahren habe. Aber wenn ich im Netz über einen offenbar breit diskutierten Ansatz lese, Kinder nicht zu erziehen, vermute ich oft, dass so ein Abend im L. A. Jordan mit bewusst unerzogenen Kindern nicht möglich wäre, und dass dieses Modell Kindern viel Weltwissen und viele Erfahrungen der Erwachsenenwelt vorenthält, von der Gastronomie über die Oper bis zur Malerei, und dass dies den Kindern vielleicht einmal fehlen wird, wenn sie 25 sind und sich weniger sicher bewegen als andere.